Neues SachbuchDebatte um Einheit und Wiedervereinigung: Wie über "den Osten" gesprochen wird
Die Wiedervereinigung ist immer noch in vollem Gange. Das beweist zum einen das neue Zukunfts- und Transformationszentrum, das in Halle entstehen soll. Aber auch Debatten um den Krieg in der Ukraine zeigen, dass es immer noch eine Grenze zwischen Ost und West gibt. Der aus Gotha stammende Autor Dirk Oschmann sieht in seinem Buch "Der Osten: eine westdeutsche Erfindung" mit einiger Polemik das Problem in der Art, wie in Westdeutschland seit dem Mauerfall über den sogenannten Osten gesprochen wird.
Manchmal kann man mit einem einzigen Zeitungsartikel eine gewisse Berühmtheit erlangen, zumindest eine Bekanntheit, die weit über die Grenzen des eigenen Fachs hinausragt: Der Leipziger Germanistikprofessor Dirk Oschmann, 1967 in Gotha geboren, veröffentlichte Anfang 2022 in der "FAZ" eine kleine Suada mit dem Titel "Wie sich der Westen den Osten erfindet" und sorgte zumindest beim bildungsbürgerlichen Publikum für Aufruhr.
In prägnanter, zugespitzter Form beschrieb Oschmann Ungerechtigkeiten, Missstände und Ungleichgewichte, die seit der sogenannten Wiedervereinigung die Wiedervereinigung auszuschließen scheinen. Man spürte den Zorn hinter diesen Ausführungen; und dass die Polemik von einem sogenannten Gewinner der Wende vorgetragen wurde, machte sie vielleicht noch ein bisschen provokanter. Polternde Reaktionen ließen nicht auf sich warten. Von Ressentiments und Klischees war die Rede, vorgetragen "im Stil eines beleidigten PDS-Professors".
Diagnose: Ostdeutsch
Diese Vorgeschichte muss man kennen, um den Nachschlag Oschmanns in Buchlänge richtig zu beurteilen. Die 'Extended Version' des "FAZ"-Beitrags heißt nun leicht variiert "Der Osten: eine Erfindung des Westens". Sie ist ein eindrückliches Zeugnis aufgestauter Wut. Oschmann geht es darum aufzuzeigen, wie der Westen den Osten diskursiv zurichte. Viele Beispiele führt er dafür an – harte statistische Fakten stehen neben persönlichen Erlebnissen, in denen die materielle und verbale Herabwürdigung der Ostdeutschen kenntlich werde.
Eine Herkunft aus dem Osten verschärfe die allgemeine Herkunftsbenachteiligung der sozial Schwachen und mindere die Lebenschancen. Der Osten stehe für den Westen prinzipiell für das Rückständige und Unkultivierte, ja, er sei unreif für die Demokratie. Selbst kluge Menschen seien unsensibel für die unterschiedlichen Biografien und Befindlichkeiten. Kurz: 30 Jahre "kollektiver Diffamierung, Diskreditierung, Verhöhnung und eiskalter Ausbootung".
Mehr Sachbücher
Dirk Oschmann neigt zu Pauschalisierungen
So die bittere Diagnose, und Oschmann hat in vielerlei Hinsicht recht. Für einen Westdeutschen – wie den Autor dieser Zeilen – ist es nur förderlich, die eigenen blinden Flecke aufgezeigt zu bekommen. Dass zu einer Polemik rhetorische Aufrüstung gehört – ganz gewiss. Und doch stört etwas an diesem Buch: Mögliche Kritik wird immer schon vorweggenommen und kategorisch zu entkräften versucht.
Dass es sich bei Ost-Klischees um eine durch westliche Prägungen ausgelöste Projektion handelt – klar. Aber umgekehrt funktioniert das ja nicht unähnlich. Selbst ein Intellektueller wie Oschmann neigt zu Pauschalisierungen. Oder besser: Er nutzt sie ganz bewusst und methodisch: "Statt auf Differenzierung und Relativierung setze ich auf Zuspitzung, Schematisierung und personifizierende Kollektivsprechweise, damit etwas klar erkannt werden kann, was sonst bestenfalls unscharf, wenn nicht gar unsichtbar bleibt."
Er würde Pauschalisierungen als kenntlichmachende Notwehr bezeichnen, im Falle des Wessis allerdings als Machtmissbrauch. Der Ostdeutsche, schreibt Oschmann etwa, sei fortwährend mit "Entwertungserfahrung durch permanente Negativzuschreibungen" konfrontiert; Westdeutsche würden den sächsischen Dialekt grundsätzlich verachten (als halber Schwabe könnte ich da ein Wörtchen mitreden). Der Ostbeauftragte der Bundesregierung sei das Symbol eines "ungeheuerlichen Paternalismus"; die "seit Jahrhunderten eingeführten Herrschafts- und Diskursmuster" des "westlichen Kolonialismus" erstreckten sich nun auf den Osten. Als ob es ausschließlich den privilegierten Wessi-Herrenreiter gäbe und den deklassierten Ossi-Loser. Und als ob die Medien ausschließlich karikaturistische Bilder vom einen wie vom anderen zeichneten.
Wichtiger Beitrag zur Debatte der Einheit
Manche von Oschmanns Ausführungen sind in diesem Zusammenhang nicht sehr glücklich: Dass etwa in Sachsen-Anhalt die Erhöhung des Rundfunkbeitrags blockiert wurde, hatte gewiss wenig mit einer einseitigen, westlich dominierten Berichterstattung der Öffentlich-Rechtlichen zu tun, die der Autor anprangert, mehr doch mit einem von Populisten seit Jahren geschürten Vorbehalt gegen unabhängige Berichterstattung. Und nicht zuletzt mit einem politischen Machtspiel.
Oder: Dass nach der Wende eine im Westen an ihre Grenzen gestoßene Rechte ihr Heil im Osten suchte, ist augenscheinlich. Aber sie fand dort eben auch Strukturen vor, die sie zu nutzen wusste. Es braucht ja immer Leute, die sich verführen lassen, nicht nur Verführer. Apropos mundtot gemachter Osten: Es gibt Bereiche, zumal in der Kultur, in der sich der Osten stark und selbstbewusst in den gesamtdeutschen Diskurs einbringt. Von der Malerei über das Theater und den Film bis zur Literatur.
Nichtsdestotrotz: Oschmanns Debattenbeitrag ist wichtig und sollte gerade von Westdeutschen ohne trotzig vor der Brust verschränkte Arme gelesen werden. Locker bleiben! Vielleicht kann man sich, wenn ausgesprochen ist, was nervt, doch mal eines Tages in die Arme schließen.
Weitere InformationenDirk Oschmann: "Der Osten: eine westdeutsche Erfindung"
Ullstein Verlag, 2023
224 Seiten, gebunden
ISBN: 978-3-550-20234-6
Redaktionelle Bearbeitung: Thilo Sauer
Dieses Thema im Programm:MDR KULTUR - Das Radio | 01. März 2023 | 08:10 Uhr