Sachbuch "Der lange Arm der Stasi": Wie die Erfurter Kunstszene in der DDR überwacht wurde

Erfurt hatte zu DDR-Zeiten eine aktive Untergrund-Kunstszene. Zu dieser gehörte die Künstlerin Gabriele Stötzer. Weil sie systemkritisch und unangepasst war, wurde sie wie viele andere von der Stasi überwacht und saß für ihr politisches Engagement im Gefängnis. Nun widmet sich die Autorin, Filmemacherin und Performerin mit einem Buch über Erfurt der bewegten Geschichte der Szene in den 60er- bis 80er-Jahren. "Der lange Arm der Stasi" ist beim Leipziger Verlag Spector Books erschienen.

Buchcover „Der lange Arm der Stasi“
Erfurt zu DDR-Zeiten: Das Sachbuch "Der lange Arm der Stasi" widmet sich der überwachten Kunstszene der Stadt. Bildrechte: Spector Books

"Plane mit, arbeite mit, regiere mit!" – so lautete ein Slogan in der DDR. Wer ihn beim Wort nehmen wollte wie die selbstbewusste Gabriele Stötzer, geboren 1953 in einem Dorf bei Gotha, stieß schnell an Grenzen: Exmatrikulation, Strafvollzug, Scheidung, Galerie-Verbote verwandeln sie von der enthusiastischen sozialistischen Reformerin zu einer Untergrund-Künstlerin. Am 4. Dezember 1989 gehört sie zu jenen Frauen, die in Erfurt die Besetzung des Bezirksgebäudes der Stasi initiieren.

Erfurter Subkultur und Kunstszene im Visier der Stasi

Nach dem Ende der DDR hielt Stötzer ihre Opferakten aus den Jahren 1976 bis 1989 in Händen. Vor zehn Jahren tauchte sie für die Ausstellung "Zwischen Ausstieg und Aktion – Die Erfurter Subkultur der 1960er-, 1970er- und 1980er-Jahre" in der Kunsthalle Erfurt nicht nur in ihre eigenen Akten, sondern auch in die von 32 anderen Akteuren der Szene – eine emotionale Berg- und Talfahrt. Unter dem Titel "Der lange Arm der Stasi" hat Stötzer nun, zusammen mit Anne König, noch einmal die Erfurter Kunstszene der 1960er- bis 1980er- Jahre vermessen.

Buchseiten aus Gabriele Stötzners "Der lange Arm der Stasi"
Buch über Erfurt: "Der lange Arm der Stasi" von Gabriele Stötzer. Bildrechte: Spector Books

Wer nach eigenen Werten suchte und dabei Experimente wagte, ist die Autorin und Künstlerin Gabriele Stötzer rückblickend überzeugt, wurde als Risiko empfunden und in eine Art Hades verdammt: "Der fiktionalisierte Raum, in dem sie isoliert und observiert wurden, hieß Untergrund. Ließen sich die darin Gelandeten auch mit Zwangsmaßnahmen nicht bekehren, wurden sie weiter und weitergetrieben – zur Flucht aus der Stadt, dem Land oder dem Leben."

Wie in Erfurt Künstlerinnen im Untergrund agierten

Stötzer war so etwas wie der 'Motor' des Untergrunds in Erfurt. Als sie im Herbst 1976 auf ihrer Schreibmaschine die Petition gegen die Biermann-Ausbürgerung abtippt, wird sie verhaftet. Wegen "Staatsverleumdung" landet sie im Frauengefängnis Hoheneck. Nach ihrer Freilassung leitet sie eine unabhängige Galerie; sie gründet eine Künstlerinnengruppe, dreht Super-Acht-Filme, schreibt, malt, performt. Ihre Frauen-Punkband "Erweiterte Orgasmusgruppe" probt in Erfurter Kellern. Noch einmal taucht Stötzer anhand der Akten in ihr scheinbares Versagen – über das die Stasi minutiös Tagebuch geführt hat.

Es galt, ihr mein Leben aus den Händen zu reißen, ihr die Kraft zu nehmen, indem ich ihr ins Antlitz sah.

Gabriele Stötzer, Künstlerin

Die Stasi, die im Bezirk Erfurt 1989 fast 3.000 hauptamtliche und geschätzt die dreifache Zahl inoffizieller Mitarbeiter beschäftigte, war nicht zimperlich, wenn es galt, feindlich-negative Elemente zu zermürben: Arbeitsplätze wurden gekündigt, Bewerbungen um Studienplätze abgelehnt, bereits zugesagte Stellen konnten nicht angetreten werden. "Es geht nicht nur um das System, das Angst erzeugte", ist sich Stötzer sicher, "es geht hier um uns, die scheinbar Spielball dieses Systems waren. Mit den Akten hat man plötzlich ein Stück eigenes Leben in den Händen." So gesehen, ist jeder Einstieg in die Stasiakten ein Heilungsprozess: "Weil wir erst wir selbst werden, also frei sind, wenn wir uns vertrauen."

Buchseiten aus Gabriele Stötzners "Der lange Arm der Stasi"
Die Erfurter Künstlerin Gabriele Stötze und Musiker Wolf Biermann trafen sich 1990 zum ersten Mal in Stötzers damaliger Küche. Bildrechte: Spector Books

Der von Buchgestalterin Malin Gewinner und Spector-Verlegerin Anne König konzipierte und mit typografischer Raffinesse umgesetzte Band ist mehr als ein Sachbuch: Er katapultiert uns auf suggestive Weise in längst vergangene Zeiten, indem er ein Netz aus Freundschaften und Verrat offenbart. Ein mit zeitgenössischen Porträtfotos versehenes "Personenregister" stellt 66 Akteure der Szene vor, darunter auch jene, die, wie Sascha Anderson, als IM Informationen an die Stasi geliefert haben.

Konfrontation mit Stasi nach dem Ende der DDR

Fotos von den anarchischen Aktionen der Szene stehen in hartem Kontrast zu Reproduktionen aus den Akten. Observationsbildchen, Wohnungsgrundrisse: Man könnte sich über die Schlapphüte amüsieren, würde einem das Lachen nicht im Hals stecken bleiben. Einmal, im Sommer 2019, geht Stötzer in den Infight und klingelt bei dem Stasi-Vernehmer, der sie vor 42 Jahren in den Knast brachte. Sie schwitzt, ihr wird übel, Angst steigt in ihr auf. Dennoch ist der Moment, rückblickend, für sie erhellend, "denn diese damals wirklich empfundene eigene Angst bekommt Gründe, wird ein fremd inszeniertes Ungeheuer, das sich eines Tages doch gegen die gerichtet hat, die sie inszeniert haben."

Buchseiten aus Gabriele Stötzners "Der lange Arm der Stasi"
Erfurts Kunstszene der 1960er-, 1970-er und 1980er-Jahre ist das Buch "Der lange Arm der Stasi" gewidmet. Bildrechte: Spector Books

Stötzers mit kaltem Blut formulierter Text legt die innere Logik der Überwachungsbehörde frei. Am Ende zeigt ihr Buch aber auch, wie viel Angst die Mächtigen und ihre Zuträger hatten – vor dem Leben selbst.  

Informationen zum Buch: Gabriele Stötzer: "Der lange Arm der Stasi. Die Kunstszene der 1960er, 1970er und 1980er Jahre in Erfurt."
Herausgegeben von Anne König
Verlag Spector Books, Leipzig
288 Seiten
ISBN: 9783959053174
30 Euro

Redaktionelle Bearbeitung: Lilly Günthner

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Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 11. Januar 2023 | 08:10 Uhr

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