LiteraturgeschichteSci-Fi in der DDR: Zukunftsliteratur über eine kritische Gegenwart
Der Wettlauf ins All hat die Science-Fiction-Literatur in der DDR stark befeuert. Für die Kulturfunktionäre des Staates war es jedoch bloße Unterhaltungsliteratur jenseits der eigenen Ansprüche. Beim Publikum fanden die Zukunftsgeschichten beispielsweise über Detektiv Timothy Truckle großen Anklang – auch weil so Missstände angesprochen werden konnten.
Zukunftsliteratur und utopische Romane hatten beim Lesepublikum in der DDR Konjunktur. Zwischen 1949 und 1990 sind etwa 500 Titel dieses Genres erschienen. Die knappe Hälfte stammte von DDR-Autoren. Daneben gab es als Lesefutter die Klassiker – von Jules Verne bis Bernhard Kellermanns "Tunnel". Die Bücher von Stanislaw Lem wurden in DDR-Verlagen ebenso publiziert wie Texte der Brüder Arkadi und Boris Strugatzki. Auch "Fahrenheit 451" von Ray Bradbury und sogar Aldous Huxleys "Schöne neue Welt" konnten Interessierte ab 1978 im reglementierten Leseland kennenlernen.
Sci-Fi und Unterhaltungsliteratur in der DDR
Wenn man sich heute mit der in der DDR entstandenen Science-Fiction beschäftigt, kann man eigentlich nur staunen. Denn man sieht sich einem Universum gegenüber, das sich nur schwer eingrenzen lässt. Das geht schon los bei der Begrifflichkeit: Utopische Literatur? Wissenschaftliche Phantastik? Science-Fiction als Label jedenfalls wird im DDR-Literatur-Betrieb der frühen Jahre wohl kaum vorgekommen sein. Lange Zeit galt der Begriff als ein Etikett für Schund- und Massenliteratur, die – zumindest eigentlich – nichts mit der dem sozialistischen Realismus verpflichteten DDR-Literatur zu tun haben konnte.
An dieser Stelle allerdings hatten die Wirte die Rechnung ohne den Gast gemacht. Denn das, was als vermeintliche "Unterhaltungsliteratur" gewissermaßen unter dem Radar flog, hatte eine große Anziehungskraft – nicht nur auf das Publikum. Auch die Autoren registrierten, dass man das Genre nutzen konnte – für die Diskussion von Fragen, die auf anderen Gebieten gar nicht so leicht zu stellen waren. Noch dazu in Auflagenhöhen, von denen die Autorinnen und Autoren der DDR-Gegenwartsliteratur nur träumen konnten.
Erstauflagen von fünfzehn- bis fünfzigtausend Exemplaren waren meist nach ein, zwei Wochen ausverkauft.
Erik Simon, in: "Die Science Fiction-Literatur der DDR. Ein Überblick"
Phantastische Geschichten zum Nachhören
Begeisterung für die Raumfahrt in der Literatur
Für die frühen Jahre der DDR-Science-Fiction ist – neben der klassischen literarischen Produktion – auch an die ab 1955 erschienene "Weltraum-Serie" des "Mosaiks" zu nennen. Publiziert wurde sie im Verlag Neues Leben bevor 1957 der erste Sputnik von den Sowjets ins All geschickt wurde und bevor der sowjetische Kosmonaut Juri Gagarin 1961 als erster Mensch in den Weltraum reiste. Das waren später Entwicklungen, die auch die literarische Bearbeitung des Themas Raumfahrt beförderten – zum Beispiel in den Romanen von Günther Krupkat, Carlos Rasch und Eberhard del’ Antonio.
Schreckensbilder aus der Gegenwart der DDR
Zu Beginn der 1970er-Jahre tritt eine neue Generation von Autoren in der DDR-Science-Fiction auf den Plan. Und die verhilft dem Genre zu Weite und Vielfalt. Nicht nur in thematischer Hinsicht, sondern auch formal: Was die Art und Weise der Erzählens betrifft, ändert sich der Ton. Erste Werke von Autoren wie Rolf Krohn, Erik Simon, Karlheinz Steinmüller sowie Johanna und Günther Braun erscheinen. "Neu ist vor allem die Bedeutung, die Humor bis hin zum frivolen Klamauk, Parodie und Gesellschaftssatire in der DDR-SF ab den frühen 70er-Jahren einnehmen", schreibt Karsten Greve in seiner Dissertation "Die Science-Fiction-Literatur in der DDR. Dissertation".
Und natürlich spielte das, was die Schreibenden Tag für Tag vor der eigenen Haustür erlebten, eine gewichtige Rolle bei dem, was da an den Schreibtischen entstand. Die Diskussion von Gesellschaftsmodellen sowie die Kritik an den herrschenden Zuständen wurden oft genug in eine ziemlich weit entfernte Zukunft verlagert."Meist präsentiert die SF der DDR ab den frühen 70er-Jahren mehr und mehr ökologische Warnbilder", so Karsten Greve in seiner Abhandlung. "Erzählt wird von abgeholzten Wäldern und durch Industrieabfälle verseuchte Planeten. Statt einer Natur unter fortgeschrittener Kontrolle zeigt sie fortgeschrittene Naturzerstörung."
Ein Detektiv der Zukunft kritisiert die DDR
Unter dem Titel "Wer stiehlt schon Unterschenkel" bringt der Verlag Das Neue Berlin 1977 den ersten, sehr erfolgreichen Band mit Kriminalerzählungen von Gert Prokop auf den Markt. Im Zentrum aller Geschichten steht Timothy Truckle, Stardetektiv im Chicago des 21. Jahrhunderts. Zusammen mit seinem altehrwürdigen Computer "Napoleon", der in reinstem Oxford-Englisch parliert, löst er die kompliziertesten Kriminalfälle.
Seine Klientel, die oberen Zehntausend, schätzt seinen Spürsinn. Und immer dann, wenn es geboten scheint, die Polizei aus dem Spiel zu lassen, wendet man sich vertrauensvoll an Timothy. Und der kassiert dicke Honorare und nette Erfolgsprämien: Hier eine Kiste Wein, dort fünf Flaschen seltenen Whisky. Dinge, die er gern mag. Denn in seiner Zeit sind sie zu Raritäten geworden. Ebenso wie natürliche Lebensmittel – und er kocht doch so gern. Nette Klienten lädt er schon hin und wieder zu einem wahren Festmahl ein. Zugleich wird Timothy Truckle aber auch als unbestechlicher Mitwisser gefürchtet. So ist es nur eine Frage der Zeit, bis sich die Ereignisse in seinem Leben zuspitzen.
Eine Utopie beziehungsweise Dystopie zeichnet sich durch Zeitkritik aus. Bei Gert Prokop finden sich an mehreren Stellen gekonnt eingesetzte zeitkritische Aspekte, weil er es schaffte, Methoden der DDR-Staatssicherheit, das Grenzregime der DDR, die fehlende Reisefreiheit, das Verbot von bestimmter Literatur und ähnliches in einem in Massenauflage in der DDR erscheinenden Buch unterzubringen und zu veröffentlichen.
Alexander Amberger, in: "Die Dystopie des Spätkapitalismus bei Gert Prokop"
Literatur über die DDR
Dieses Thema im Programm:MDR KULTUR - Das Radio | 24. November 2022 | 18:10 Uhr