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Der ukrainische Schriftsteller und Übersetzer Juri Durkot schreibt ein Kriegstagebuch für "Welt Online". In Weimar trug er beim Schriftstellertreffen einzelne Texte daraus vor. Bildrechte: MDR/Mareike Wiemann

In der Anna-Amalia-BibliothekAutorentreffen in Weimar: Ukrainer und Deutsche lesen gemeinsam

von Mareike Wiemann, MDR KULTUR

Stand: 03. November 2022, 14:07 Uhr

Noch bis Freitag, 4. November, treffen sich in der Anna-Amalia-Bibliothek Weimar rund 30 Schriftstellerinnen und Dolmetscher aus der Ukraine und Deutschland. Unter dem Motto "Eine Brücke aus Papier" lesen sie gemeinsam und lernen sich kennen. Darunter sind Autor*innen wie Marcel Beyer, Heike Geißler und Juri Durkot. Am Donnerstagabend ist eine große öffentliche Lesenacht geplant, der Eintritt ist frei.

Es ist schon ein wenig surreal: In Weimar nimmt an diesem freundlichen Morgen der Alltag seinen Gang, Touristen laufen durch die schmucken Gassen, Pferdekutschen zuckeln vorbei. Mitten in der altehrwürdigen Anna-Amalia-Bibliothek aber zieht plötzlich der Krieg auf.

Die aus Mariupol stammende Schriftstellerin Oksana Stomina liest aus ihrem Tagebuch vor. Darin beschreibt sie ihren Alltag in der belagerten Stadt, in der sie versucht, Verletzten zu helfen oder Milchpulver für Neugeborene zu besorgen. Sie liest den bedrückenden Text in ihrer Muttersprache vor, er wird live ins Deutsche übersetzt.

Ihr Landsmann Juri Durkot dagegen hat sich entschieden, direkt auf Deutsch vorzutragen. Er erzählt von einer Reise in einem völlig überfüllten Flüchtlingszug: von Zufallskontakten, die sich ergeben, und von Menschen, die diese Reise nicht überleben. Auch dieser Text stammt aus einem Kriegstagebuch – er habe im Frühjahr 2022 einfach schreiben müssen, um nicht verrückt zu werden, sagt Durkot: "Ich denke, es ist für die Menschen in Deutschland enorm wichtig, diese authentischen Texte aus der Ukraine zu hören. Denn das ist eine Verstärkung dessen, was sie sonst in den Zeitungen lesen."

Texte über den Krieg in der Ukraine

Auch Verena Nolte, die das Treffen organisiert hat, sagt, dass es wichtiger denn je sei, zusammenzukommen. Sie hat das ukrainisch-deutsche Schriftstellertreffen im Jahr 2015 gegründet, als Reaktion auf die russische Besetzung der Krim. Texte über den Krieg oder die Auseinandersetzung mit Russland hätten sich bereits in den vergangenen Jahren gehäuft, so Nolte. Jetzt kämen eigentlich gar keine anderen Themen mehr: "Die Autorinnen und Autoren müssen darüber sprechen und schreiben. Aber sie können keine großen Romane schreiben. Das ist einfach nicht die Zeit dafür, sich in Ruhe hinzusetzen."

Es ist vielmehr die Zeit der Tagebücher, Essays, Kolumnen und auch der Gedichte. Mal nüchtern, mal wütend, mal leicht ironisch. Aus der Perspektive derer, die ganz nah dran sind. Und auch aus der Perspektive derer, die das Grauen aus der Ferne, aus dem sicheren Deutschland betrachten. So wie Marcel Beyer, auch er ist hier zu Gast. Der in Dresden lebende Schriftsteller sagt, er könne seit dem 24. Februar 2022 nicht anders, als von morgens bis abends Kriegsnachrichten zu lesen. Immer wieder klickt er sich auch durch die Bilder von Kriegsfotografen und erschafft daraus Literatur. In Weimar liest er einen Text über ein Bild vor, in dem ein Mann versucht, seinen Hund vor drohendem Beschuss zu retten. Eine ruhige, detaillierte Betrachtung, in der es immer wieder um Fragen von Nähe und Distanz geht.

Der Krieg in der Ukraine sorgt für Leid und Chaos

Nach und nach lesen die verschiedenen Autorinnen und Autoren in der Anna-Amalia-Bibliothek und kommen auch ins persönliche Gespräch miteinander, abseits großer Podiumsdiskussionen. Denn genau das will dieses Treffen – ein Kennenlernen und damit auch einen Kulturaustausch ermöglichen. Organisatorin Nolte ist erleichtert, dass die Zusammenkunft stattfinden kann. Der Krieg habe jegliche Planungssicherheit zerstört, einzelne Teilnehmende seien vor kurzem noch im Sanitätsdienst an der Front gewesen: "Das sind wahnsinnige Schicksale, die mich sehr betreffen. Die Arbeit geht einem nicht mehr so leicht von der Hand, man hat auch viele Skrupel." Auch das zögerliche Verhalten der deutschen Regierung in Hinblick auf die Waffenlieferungen habe im Vorfeld für Diskussionen gesorgt.

Alle Teilnehmenden können in ihrer Muttersprache vortragen, es wird simultan übersetzt. Bildrechte: MDR/Mareike Wiemann

Vor Ort in Weimar aber ist die Stimmung nun entspannt. Marcel Beyer betont, es sei wichtig, solche "Inseln" als geschützte Räume zu ermöglichen: "Hier geht es um das, was man eigentlich machen will. Nämlich schreiben und über Literatur sprechen. Denn das macht einem klar, wofür man eigentlich lebt, es gibt einem Energie zurück." Seinem Kollegen Juri Durkot aus Lwiw geht es ähnlich. Trotz sehr unterschiedlicher persönlicher Lebenslagen könne man hier auf einer Ebene miteinander reden: "Hier treffen sich Menschen, die ein sehr starkes Gespür für die Zeit haben. Für das, was geschieht und für das, was los ist. Und das ist eine große Bereicherung für beide Seiten."

Ukrainisch-deutsches Schriftstellertreffen "Brücke aus Papier"Vom 2. bis 4. November 2022

Große Lesenacht:
3. November, 19 Uhr
Anna-Amalia-Bibliothek Weimar

Der Eintritt ist frei.

Redaktionelle Bearbeitung: Hendrik Kirchhof

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Dieses Thema im Programm:MDR KULTUR - Das Radio | 03. November 2022 | 07:10 Uhr