Mi 27.11. 2019 22:00Uhr 60:00 min

MDR KULTUR - Feature Ich rauche gern - Belomorkanal

Was vom "Stalinkanal" geblieben ist

Von Günter Kotte

Komplette Sendung

Belomorkanal, dritte Schleuse bei Powenez 58 min
Bildrechte: MDR/Denis Merkwirth
MDR KULTUR - Das Radio Mi, 27.11.2019 22:00 23:00
(Ursendung)

Meine erste "Belomorkanal'' habe ich 1965 im Offizierscasino der Sowjetarmee in Dresden geraucht. Sascha, ein junger Offizier, hatte mir die "Papirossi'' angeboten, die nur zu einem Drittel mit Machorka gefüllt war und zu Zweidritteln aus einer Papphülse bestand - dem Mundstück, das über Kreuz geknifft werden musste. Es war die erste Zigarette in meinem Leben, ich war 16 und so lässig, wie man die im Mundwinkel halten konnte, machte das einfach was her. "Belomorkanal". Die Landkarte auf der Pappschachtel dieser Zigaretten klärte es auf: Dieser Kanal schuf - eine Kette größerer Seen nutzend - die Verbindung zwischen Ostsee und dem Weißem Meer. Er gehörte zu den gigantischen Bauwerken der Sowjetmenschen auf dem Weg zum Kommunismus.

Zehn Jahre später erfuhr ich dann durch Alexander Solschenizyn, dass es Strafgefangene aus allen sozialen Schichten des Riesenreiches waren, "vom Wege Abgekommene'', die den Kanal Anfang der 30er Jahre förmlich mit den eignen Händen gruben und aus denen durch die unmenschliche Maloche neue Menschen geformt werden sollten: "Towaritschi''! Sowjetische Schriftsteller, die "Ingenieure der Seele'', sangen Loblieder auf die "Kanalarmisten", von denen damals 25.000 jämmerlich vor Entkräftung und Kälte auf der Baustelle verreckten, wo ihre Leichen in den Dämmen des Kanals verschwanden, und den Genossen Stalin juckte das überhaupt nicht.
Ich fuhr hin an diesen Kanal, nach Povenec, der ersten Schleuse, und bis Belomorsk, der Mündung ins Weiße Meer, wollte sehen, was von diesem Bauwerk und den "Kanalarmisten'' geblieben ist. Heute raucht man in Russland amerikanische Zigaretten. Die "Belomorkanal'', die ich mir anstecke, kommt inzwischen aus einer silbrigen Blechschachtel, einem beliebten Mitbringsel für Touristen. Und dann regnet es auch noch, und der Zug aus Murmansk nach St. Petersburg - über 60 Stunden Fahrzeit - hält auf die Minute genau im karelischen Belomorsk, und im Speisewagen gibt es roten Kaviar.

Günter Kotte, 1949 in Pirna geboren, Grundschule in Bühlau bei Stolpen, 1964-66 Kinder- und Jugendsportschule Dresden, 1968-73 Studium an der Hochschule für Film und Fernsehen in Potsdam-Babelsberg, 1973-83 freiberuflich für das DEFA-Studio für Dokumentarfilme tätig, 1976 Mitunterzeichner der Petition gegen die Ausweisung Wolf Biermanns, 1977 zur Vermeidung des NVA-Wehrdienstes Aufenthalt in der psychiatrischen Klinik St. Joseph Berlin, 1983 Übersiedlung nach West-Berlin, "Liebesleben" - Hörspiel zusammen mit Katja Lange-Müller (RIAS 1984), ab Mitte der 90er Jahre wendet sich Kotte wieder verstärkt dem Dokumentar-Film und Hörfunk-Features zu.

Hörfunk-Feature (alle MDR KULTUR) u.a.: "Lieber Wolodja - Erinnerung an die sowjetische Liedermacherlegende Wladimir Wyssozki", "Russisches Gold - Aus dem Leben des Vadim Iwanowitsch Tumanow" , "Ich stehe keinem mehr gegenüber - Der Schriftsteller Tschingis Aitmatow" , "Strawalde oder Mach dich an dein sündiges Leben", "Des Wodkas reine Seele", "Wenn die Zeit still steht. oder: Langweilen sich Fische eigentlich auch?", "Stalins Stimme", "Die Gräber der großen Russen" und "Die Mumie vom Roten Platz", "Der Chirurg aus dem Rheinland und seine Lausitzer Kinder" (MDR/WDR)
Mitwirkende
Regie: Matthias Thalheim
Komponist: Alfred Schnittke
Produktion: MDR /WDR 2019
Darsteller
Sprecher:
Jörg Schüttauf
Sergej Gladkich