Sa 10.08. 2019 09:05Uhr 30:00 min

MDR KULTUR - Feature Fluchtweg übers Bruderland - die bulgarisch-türkische Grenze

Von Rayna Breuer

Familienbande

Komplette Sendung

Der Ostberleiner Hendrik Vorigtländer versuchte am 3. Oktober 1988 über die bulgarisch-türkische Grenze in den Westen zu fliehen 30 min
Bildrechte: Rayna Breuer
MDR KULTUR - Das Radio Sa, 10.08.2019 09:05 09:35
Herbst 1988: In einem Shell-Atlas aus dem Westen studieren der 24-jährige Hendrik V. und ein Schulfreund die Europastraße 9 von Burgas nach Istanbul. Alles scheint einfach. Sie werden nach Burgas fliegen, einige Tage Urlaub machen und dann die Straße entlang in die Türkei laufen. In der DDR hält sich die, wahrscheinlich von der Staatssicherheit gestreute, Mähr, die bulgarisch-türkische Grenze sei leicht zu überwinden. Tatsächlich aber werden DDR-Bürger, bei denen Fluchtverdacht besteht, ab ihrer Einreise in Bulgarien überwacht.

Der Grenzer S. ist in einem Dorf an der Grenze, die Anfang der 1960er Jahre mitten durch die Felder gebaut wurde, aufgewachsen. Er kennt das Shrandzha-Gebirge wie seine Westentasche. Er hat an jenem 3. Oktober 1988, den Hendrik V. und sein Freund als Fluchttag wählen, Dienst. Als nach vielen Kilometern Laufen in glühender Sonne ein Schild kommt: "Istanbul 350 Kilometer" beschließen die beiden jungen Männer zu trampen. Sie haben sich mit Goldkettchen als vermeintliche Westdeutsche getarnt. Hendrik V. hat seinen DDR-Personalausweis, in die Unterhose eingenäht.

Als tatsächlich ein Kleinbus kommt, steigen sie ein. Doch statt nach Istanbul werden sie kurz darauf vom Grenzer S. und seinen Kollegen, mit Säcken über dem Kopf, zurück nach Burgas ins Gefängnis gefahren. Die Belohnung der Grenzer für jeden gefassten Flüchtling: Geld, Armbanduhren und Sonderurlaub. Auch das Töten wurde mit hohen Geldprämien belohnt. Bis heute wird darüber weitestgehend geschwiegen und die Aufarbeitung ist schwierig.

Nach aktuellem Sachstand haben bis 1989 rund 2.000 DDR-Bürger versucht, über Bulgarien in den Westen zu gelangen. 500 Menschen ist der Fluchtversuch tatsächlich gelungen, circa 1.500 wurden gefasst und an die Stasi ausgeliefert. Andere wurden von bulgarischen Grenztruppen erschossen - laut aktuellem Forschungsstand sind mindestens 18 Fälle belegt. Die Dunkelziffer muss aber weitaus höher sein und wird auf 100 Tote geschätzt.

Heute wird die Grenze wieder bewacht, allerdings in umgekehrte Richtung. Die Asylsuchenden, die sich am Grenzübergang melden, werden festgenommen und inhaftiert. Allein im vergangenen Jahr waren es etwa 500.


* Rayna Breuer
Rayna Breuer ist 1983 in Burgas, Bulgarien geboren, studierte in Deutschland und absolvierte ihr journalistisches Volontariat bei der Deutschen Welle. Seitdem arbeitet sie als freie Journalisten u.a. für die Deutsche Welle, den WDR/Funkhaus Europa, Deutschlandfunk und MDR. Am liebsten ist sie auf der Suche nach interessanten Geschichten, die den Balkan in all seinen Facetten zeigen.
Mitwirkende
Regie: Andreas Meinetsberger
Produktion: MDR 2019