Klassikerlesung | 17.10. - 28.10.2022 Else Lasker-Schüler: Kindheitserinnerungen und andere Prosa

Else Lasker-Schüler gilt als wichtige Vertreterin des deutschsprachigen Expressionismus und gehörte Anfang des 20. Jahrhunderts zum Kreis der Berliner Bohème. Ihre kunstvollen Gedichte sind weltberühmt, dabei schrieb sie auch Essays, Theaterstücke, Künstlerportraits und Erzählungen. In dieser Klassikerlesungen senden wir Geschichten aus ihrer Kindheit und weitere Prosatexte. Es lesen Martina Gedeck, Melanie de Graaf, Marianne Lochert, Ursula Langrock und Beate Lenders.

Else Lasker-Schüler um 1876
Else Lasker-Schüler um 1876 Bildrechte: Else Lasker-Schüler-Gesellschaft, Wuppertal

Else Lasker-Schüler war eine außergewöhnliche und vielseitig begabte Künstlerin. Sie galt als exzentrisch, lehnte bürgerliche Konventionen ab und fiel durch ihren orientalisch anmutenden Kleidungsstil auf. An den Legenden, die sich um ihre Person ranken, schrieb sie eifrig mit. Sie liebte das Spiel mit verschiedenen Identitäten und Geschlechterrollen, inszeniert sich als Tino von Bagdad oder Prinz Jussuf von Theben.

Fiktion und Realität, Leben und Werk sind bei Lasker-Schüler aufs engste miteinander verwoben. In der 1919 von Kurt Pinthus herausgegeben Lyrikanthologie "Menschheitsdämmerung" schreibt sie über sich: "Ich bin in Theben (Ägypten) geboren, wenn ich auch in Elberfeld zur Welt kam im Rheinland. Ich ging bis elf Jahre zur Schule, wurde Robinson, lebte fünf Jahre im Morgenlande, und seitdem vegetiere ich."

Stationen eines wechselvollen Lebens

Elisabeth "Else" Schüler wurde am 11. Februar 1869 als jüngstes von sechs Kindern in Elberfeld geboren und wuchs in einer gutbürgerlichen jüdischen Familie auf. Ihr Vater war Privatbankier, ihre Mutter vermittelte ihr die Liebe zur Literatur. Sie galt als Wunderkind, da sie schon mit vier Jahren lesen und schreiben konnte. Mit elf brach sie die Schule infolge einer Krankheit ab und erhielt fortan Hausunterricht. Prägende Lebenserfahrungen waren der frühe Tod des Bruders Paul, der geliebten Mutter und später auch des Vaters.

Else Lasker-Schüler, 1905
Else Lasker-Schüler, 1905 Bildrechte: Else Lasker-Schüler-Gesellschaft, Wuppertal

Mit ihrem ersten Ehemann Berthold Lasker ging sie 1894 nach Berlin, wo sie Zeichenunterricht nahm und erste Gedichte veröffentlichte. Hier lernte sie auch ihren zweiten Ehemann, den Komponisten und Schriftsteller Georg Lewin kennen, der sich auf ihr Anraten Herwarth Walden nannte und später die Avantgarde-Zeitung "Der Sturm" herausgab. Lasker-Schüler stand in regem künstlerischen Austausch mit prägenden Zeitgenossen wie Georg Trakl, Karl Kraus und Franz Marc, der ihr seinen berühmten "Turm der blauen Pferde" malte. Mit dem wesentlich jüngeren Gottfried Benn verband sie eine kurze Liebe und intensive Freundschaft, die sich in Briefen und Gedichten niederschlug.

Nachdem die stadtbekannte Dichterin 1933 in Berlin auf offener Straße zusammengeschlagen wurde, emigrierte sie in die Schweiz. 1939 durfte sie von Palästinareise nicht zurückkehren und lebte fortan in Jerusalem. Im Exil erschien 1943 ihr letzter Gedichtband "Mein blaues Klavier", in dem sie noch einmal auf die verlorene Heimat schaut. Else Lasker-Schüler starb am 22. Januar 1945 und wurde auf dem Jüdischen Friedhof am Ölberg in Jerusalem beigesetzt. Gottfried Benn pries sie in einer Rede 1952 als "die größte Lyrikerin, die Deutschland je hatte."

Prosa von Else Lasker-Schüler in der Klassikerlesung

Else Lasker-Schüler
Else Lasker-Schüler als "Prinz Yussuf", 1912 Bildrechte: Else Lasker-Schüler-Gesellschaft, Wuppertal

Else-Lasker wird heute vornehmlich als Lyrikerin wahrgenommen, dabei umfasst ihr literarisches Oeuvre auch beachtenswerte Prosatexte – von frühen Werken wie "Das Peter Hille-Buch" (1906) und "Die Nächte Tino von Bagdads" (1907) bis zum "Hebräerland" (1937), ihrem erzählerischen Hauptwerk aus der Zeit des Exils.

Im Mittelpunkt dieser Klassiklesungen stehen Else Lasker-Schülers Kindheitserinnerungen. In kurzen Geschichten, die auch vom Aufwachsen in einer jüdischen Familie erzählen, hat sie die Eindrücke dieser Welt, in die sie hineingeboren wurde und die sie später für immer verlor, bewahrt. Fast paradiesisch muten die Schilderungen ihrer frühen Kindheit an. Das elterliche Haus und die umgebende Natur erscheinen als Ort der Geborgenheit, an dem sich das fantasiebegabte Mädchen ungehindert entfalten kann.

Aus "Kindheit im Wuppertal" "Wir wohnten am Fuße des Hügels. Steilauf ging’s von dort in den Wald. Wer ein rotes, springendes Herz hatte, war in fünf Minuten bei den Beeren. Sonntags kamen ganze Familien vom Berge gestiegen, an unserm Haus vorbei. Die Kinder trugen am Arm kleine Körbe, bis an den Rand gefüllt, aber man sah schon ihren blaugefärbten Mäulchen an, was sie gepflückt hatten zur Beilage der Eierkuchen zum Sonntagabendbrot. Ich bin immer so stolz auf unseren großen Wald gewesen, in den man, ob man’s wollte oder nicht, beim Heraufklettern der Sadowastraße hineinblicken mußte. An ihrem Fuße lag mein Elternhaus, außerhalb der Stadt, denn erst später wurde unsere Gegend der Westen. Immer strömte aus dem Walde frischer, grüner Atem und kräftigte die Lunge. Und jeder Baum, jeder Strauch, der mir heute begegnet, erinnert mich an unseren Wald, in dessen friedliche Augen ich blickte, lachend als Kind."

Else Lasker-Schüler war eine eifrige Briefschreiberin. Insgesamt Bände umfasst die Edition sämtlicher überlieferter Briefe der Dichterin. Sie schrieb an Verleger, Verwandte, Zeitgenossen und Künstlerfreunde. Die Lesung "An Herwarth Walden" gibt eine Kostprobe ihrer Korrespondenz. Sie enthält Auszüge aus Briefen an ihren Mann Herwarth Walden, als dieser im Herbst 1911 mit seinem Freund Kurt Neimann eine Reise nach Norwegen unternahm. Sie führen mitten in die Berliner Bohème, die Lasker-Schüler mit Charme und Humor beschreibt.

Aus Briefen an Herwarth Walden "Lieber Herwarth und guter Kurt, ich habe das Cafe satt, aber damit will ich nicht behaupten, dass ich ihm Lebewohl für Ewig sage, oder fahre dahin Zigeunerkarren. Im Gegenteil, ich werde noch oft dort verweilen. Gestern ging es Tür auf, Tür zu, wie in einem Bazar; nicht alles dort ist echte Ware: Imitierte Dichter, falsches Wortgeschmeide, unmotivierter Zigarettendampf. Der Rechtsanwalt kommt schon lange nicht mehr hin. Warum es einen so ins Cafe zieht! Eine Leiche wird jeden Abend dort in die oberen Räume geführt; sie kann nicht ruhen. Warum man überhaupt in Berlin wohnen bleibt? In dieser kalten unerquicklichen Stadt. Eine unumstössliche Uhr ist Berlin, sie wacht mit der Zeit, wir wissen, wieviel Uhr Kunst es immer ist. Und ich möchte die Zeit so gern verschlafen. Kinder, ich langweile mich furchtbar, die ganzen Geliebten sind mir untreu geworden."

Zum Abschluss unserer Klassikerlesung senden wir Else Lasker-Schülers 1921 erschienene Erzählung "Der Wunderrabbiner von Barcelona". Der märchenhaft anmutende Text ist im mittelalterlichen Spanien angesiedelt und handelt von der jüdischen Dichterin Amram, die sich in Pablo, den christlichen Sohn des Bürgermeisters verliebt. Als die beiden auf einem geheimnisvollen Schiff, das plötzlich auf dem Marktplatz auftaucht, aus der Stadt entschwinden, kommt es zum Pogrom an den Juden. Else Lasker-Schüler reagierte mit dieser Erzählung, auf den wachsenden Antisemitismus nach dem Ersten Weltkrieg und reflektiert darin auch ihre eigenen Erfahrungen als Jüdin in Deutschland.

Die Sprecherin Martina Gedeck

Schauspielerin Martina Gedeck
Schauspielerin Martina Gedeck Bildrechte: imago/Seeliger

Martina Gedeck, geboren 1961 in München, zählt zu den bekanntesten Schauspielerinnen Deutschlands. Ihre Schauspielausbildung absolvierte sie an der HDK in Berlin. 1985 gab sie ihr Theaterdebüt am Frankfurter Theater am Turm, etwa zur gleichen Zeit begann ihre Karriere als Filmschauspielerin.

In den 90er-Jahren spielte sie in Kinofilmen wie "Der bewegte Mann", "Das Leben ist eine Baustelle" und "Rossini". Internationale Bekanntheit erlangte sie u. a. durch ihre Hauptrolle in "Bella Martha" und den Oscar prämierten Film "Das Leben der Anderen". 2022 war sie auf der Leinwand im Episodenfilm "Wunderschön" von Karoline Herfurth zu sehen.

Martina Gedeck wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Deutschen Filmpreis und dem Bayrischen Verdienstorden. 2022 erhielt sie den Deutschen Hörbuchpreis als beste Interpretin für für ihre Lesung des Romans "Nastjas Tränen" von Natascha Wodin. Bei MDR KULTUR hat sie unter anderem in den Hörspielen "Mein Herz - Mein Hund. Olga Knipper und Anton Tschechow in Briefen" (2004) und "Nachtgeschwister, provisorisch" (2014) mit Texten von Wolfgang Hilbig und Natascha Wodin mitgewirkt.

Angaben zur Sendung

MDR KULTUR Klassikerlesung
Kindheitserinnerungen und andere Prosa (10 Folgen)
Von Else Lasker-Schüler

17.10. – 21.10. | Folgen 1 – 5: "Kindheit in Wuppertal"
Gelesen von Martina Gedeck | WDR 2019
Folge 1: "Kindheit in Wuppertal" und "Die Eisenbahn"
Folge 2: "Das erleuchtete Fenster"
Folge 3: "Die Bäume unter sich" und "Das Eichhörnchen"
Folge 4: "Nur für Kinder über fünf Jahren"
Folge 5. "Die rote Katze"

24.10. | Folge 6: "Spitze"
Gelesen von Marianne Lochert | Produktion: HR 1994
25.10. | Folge 7: "Nach der Schule"
Gelesen von Melanie de Graaf | Produktion: HR 1996
26.10. | Folge 8: "An Herwarth Walden"
Gelesen von Ursula Langrock | Produktion: HR 1983
27.10. – 28.10.2022 | Folgen 9 – 10:
"Der Wunderrabbiner von Barcelona" (2 Folgen)
Gelesen von Beate Lenders | Produktion: HR 1982

Sendung 17.10. - 28.10.2022 | Montag bis Freitag | jeweils 15:10 Uhr

Die ersten fünf Folgen dieser Klassikerlesung stehen hier 90 Tage zum Hören bereit. Alle anderen Folgen können wir aus urheberrechtlichen Gründen leider nicht im Internet zum Hören anbieten.

Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | MDR KULTUR Klassikerlesung | 17. Oktober 2022 | 15:10 Uhr