Lesezeit | 15.03. - 10.04.2023 Hermann Broch: Die Schuldlosen – Die Geschichten von 1923
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Hermann Broch (1886-1951) gehört zu den renommiertesten deutschsprachigen Schriftstellern in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Seine Trilogie "Die Schlafwandler" gilt als eines der wichtigsten Werke des modernen europäischen Romans. In seinem letzten, 1950 erschienenen Werk "Die Schuldlosen" schildert er deutsche Zustände und Typen der Vor-Hitler-Periode. In einer Lesung mit dem Schauspieler Werner Rehm stellen wir den mittleren Teil des Buches mit Geschichten aus dem Jahr 1923 vor.

Mit seinen Hauptwerken "Die Schlafwandler" (1930/31) und "Der Tod des Vergils"(1945) hat Hermann Broch für die moderne europäische Literatur neue Wege erschlossen. Thomas Mann bezeichnete den "Vergil" als eines der "ungewöhnlichsten und gründlichsten Experimente, das je mit dem flexiblen Medium des Romans unternommen wurde". Brochs Schaffen zeichnet sich durch die Verwendung innovativer Stilmittel wie den inneren Monolog, komplexe Strukturen und die Reflexion wissenschaftlicher Erkenntnisse aus.
Sein Gesamtwerk umfasst neben Romanen, Novellen und Gedichten auch zahlreiche Essays zu Literatur, Kunst und Kultur sowie philosophische und politische Schriften. Als Reaktion auf Hitlers Rassenpolitik unterbrach Broch in den Jahren 1936/37 seine dichterische Arbeit und schrieb an einer Völkerbund-Resolution, um Menschenrechtsverletzungen totalitärer Staaten Einhalt zu gebieten. Nach seiner Emigration in die USA im Jahr 1938 setzte Broch sich intensiv mit Fragen der Demokratie und Menschenrechte auseinander. In seiner unvollendet gebliebenen Studie "Massenwahntheorie" versuchte er die Wurzeln massenpsychologischer Verwirrung im Faschismus aufzudecken und Wege zur Überwindung nationalsozialistischen Denkens aufzuzeigen.
Die Schuldlosen
"Die Schuldlosen" ist Hermann Brochs letztes vollendetes literarisches Werk, das im Jahr 1950 – nur wenige Monate vor seinem Tod – erschien. Der dreiteilige Roman besteht aus 13 Erzählungen, die zwischen 1917 und 1950 entstanden sind, sowie drei Gedichten und einer Parabel. Broch schildert darin anhand von Einzelschicksalen die deutschen Zustände der Vor-Hitler-Periode. In seinem Entstehungsbericht erklärt er dazu:
Zitat aus Hermann Brochs Enstehungsbericht zu "Die Schuldlosen" Die hierfür gewählten Gestalten sind durchaus "unpolitisch"; soweit sie überhaupt politische Ideen haben, schweben sie damit im Vagen und Nebelhaften. Keiner von ihnen ist an der Hitler-Katastrophe unmittelbar "schuldig". Trotzdem ist gerade das der Geistes- und Seelenzustand, aus dem – und so geschah es ja – das Nazitum seine eigentlichen Kräfte gewonnen hat. Politische Gleichgültigkeit nämlich ist ethischer Gleichgültigkeit und damit ethischer Perversion recht nah verwandt.
Die Intrigen der Magd Zerline
Im Jahr 1923 verschlägt es einen jungen Holländer, der zunächst nur A. genannt wird, in eine mitteldeutsche Residenzstadt. Als Diamentenhändler in Südafrika und durch Börsenspekulationen ist er reich geworden. Auf der Suche nach einem möblierten Zimmer kommt er ins Haus der verarmten Baronin Elvira W. und ihrer Tochter Hildegard. Zum Haushalt gehört auch die Magd Zerline, die bereits seit 30 Jahren bei der mit ihr gleichaltrigen Baronin in Diensten steht. Verbittert über ihre soziale Stellung und entgangenes Lebensglück, mischt sie sich mit allerlei Intrigen in das Schicksal ihrer Herrschaft ein. In einer langen Erzählung enthüllt sie Herrn A. die Geheimnisse der Familie, in die sie selbst verstrickt ist.
Hildegard ist nämlich nicht die Tochter des verstorbenen Gerichtspräsidenten, sondern ging aus einer Affäre mit dem Frauenheld Herrn von Juna hervor. Aus Rachsucht spannte Zerline der Baronin den Liebhaber aus und verbrachte mit ihm zwei stürmische Liebeswochen in seinem Jagdhaus. Als Herr von Juna wenig später nach dem Tod einer Geliebten unter Mordverdacht geriet, spielte Zerline dem Baron einen kompromittierenden Briefwechsel zwischen Herrn von Juna und der Baronin zu. Doch der Gerichtspräsident durchschaute ihre Absicht und ließ sich nicht von Rachegefühlen leiten. Herr von Juna wurde freigesprochen. Der Baron reichte ein Jahr später seinen Abschied ein und starb bald danach, wie Zerline sagt, an "gebrochenem Herzen".
Diese Ereignisse liegen mehr als 30 Jahre zurück, doch Zerline spinnt weiterhin ihre Intrigen. Sie bringt A. dazu, für die Baronin, zu der er inzwischen eine Art Mutter-Sohn-Beziehung aufgebaut hat, das alte Jagdhaus zu kaufen. Um eine Annährung mit Hildegard zu verhindern, verkuppelt sie A. mit der jungen Wäscherin Melitta. Als sich aber eine Ehe andeutet, spielt sie Hildegard gegen Melitta aus und treibt das arglose Mädchen in den Selbstmord.
Die Schuld der Gleichgültigkeit
Anno 1933 lebt A. immer noch mit der Baronin und Zerline im Alten Jagdhaus. Er ist nun Mitte vierzig, hat reichlich fett angesetzt und verbringt seine Tage in einer Art Dämmerzustand. Dass er einst ein Mädchen namens Melitta geliebt hat, kann er sich kaum noch erinnern, auch nicht an seine früheren Reisen und Finanzabenteuer.
Eines Tages taucht der alte Imker, Melittas Großvater, beim Alten Jagdhaus auf und fordert A. zur Lebensbeichte auf. Im Gespräch mit dem alten Mann wird sich A. seiner Verfehlungen allmählich bewusst und erkennt schließlich seine "tiefste und ahndungswürdigste Schuld in einer durchgängigen Gleichgültigkeit".
Zitat aus "Die Schuldlosen" Ich war der Sieger; was die Besiegten trieben, ging mich nichts mehr an. Mochte die Hungerpeitsche des Lohndrucks über sie hinsausen, mochten sie in Elend verrecken, mochte ihr Blut fließen, ich brauchte nicht mehr hinzuschauen; mein Weg war vorgezeichnet, fern vom Arbeitsschweiß der andern, fern vom Todesschweiß der anderen […] Der Krieg wütete in Europa, und ich machte Geld; die russische Revolution verwandelte die ehemalige Siegerklasse ihres Landes in eine von Besiegten oder richtiger in eine von Leichenbergen, und ich machte Geld; das politische Untier Hitler kam vor meinen Augen Schritt für Schritt zur Herrschaft, und ich machte Geld.
Andreas bekennt sich zu seiner Schuld und scheidet freiwillig aus dem Leben. Zerline aber wird, nachdem sie der Baronin eine zu starke Dosis Schlafmittel verabreicht hat, zur alleinigen Herrscherin über das Alte Jagdhaus.
Der Schriftsteller Hermann Broch
Hermann Broch wurde 1886 in Wien als Sohn eines jüdischen Textilfabrikanten geboren. Nach einer technischen Ausbildung zum Textilingenieur war er bis 1927 leitender Direktor der väterlichen Firma. 1928 bis 1931 studierte er Mathematik, Philosophie und Psychologie. 1935 zog Broch nach Tirol, später in die Steiermark.
Unmittelbar nach der Besetzung Österreichs durch die Nationalsozialisten wurde Broch für 18 Tage inhaftiert. Mit Hilfe von James Joyce gelang ihm die Ausreise nach England. Von dort aus emigrierte er auf Betreiben von Thomas Mann und Albert Einstein in die USA. 1950 wurde er Professor an der Yale-Universität. Mit der Romantrilogie "Die Schlafwandler" verfasste er Anfang der 1930er-Jahre eines der wichtigsten Werke des europäischen modernen Romans. Hermann Broch starb am 30.05. 1951 in New Haven/USA.
Der Sprecher Werner Rehm
Werner Rehm, geboren 1934 in Hannover, arbeitet als Schauspieler an allen großen deutschsprachigen Bühnen und machte sich durch zahlreiche Filmrollen, wie beispielsweise als Scheffler in Volker Schlöndorffs "Die Blechtrommel", einen Namen. Rehm war zudem Gründungsmitglied der Schaubühne am Halleschen Ufer in Berlin, der er 26 Jahre als festes Ensemble-Mitglied angehörte.
Angaben zur Sendung
MDR KULTUR Lesezeit
15.03. - 10.04.2023
Hermann Broch: Die Schuldlosen – Die Geschichten von 1923 (17 Folgen)
Es liest Werner Rehm | SFB 1990
Sendung: 15.03. - 10.04.2023 | Montag bis Freitag 9:05 Uhr
Wiederholung: 15.03. - 10.04.2023 | Montag bis Freitag 19:05 Uhr
Alle Folgen dieser Lesung stehen hier bis 14.03.2024 zum Hören bereit.
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | MDR KULTUR Lesezeit | 15. März 2023 | 09:05 Uhr