Lesezeit | 13.02. – 03.03.2023 Tina Pruschmann: Bittere Wasser
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In dem Roman "Bittere Wasser" spannt die Leipziger Schriftstellerin Tina Pruschmann mit der Geschichte ihrer Heldin Ida einen zeitlichen Bogen von einer DDR-Kindheit über eine Jugend zur Wendezeit im Erzgebirge bis in die 2000er-Jahre der Ukraine. Gleichzeitig erzählt sie anhand des fiktiven Städtchens Tann von der Entdeckung einer Radonquelle Anfang des 20. Jahrhunderts, vom Bergbau, vom Abbau des Urans und von der Wismut. Lesen Sie hier ein Interview mit der Autorin.

MDR KULTUR: Wie ist Ida, die Hauptfigur Ihres Romans "Bittere Wasser", in Ihren Kopf gekommen?
Tina Pruschmann: Da muss ich ein kleines Stück ausholen. Bei dem Roman war es so, dass als Erstes gar nicht so sehr die Figur im Vordergrund stand, sondern die Wahl des Ortes. Den ersten Gedanken an den Roman hatte ich ungefähr um 2016 herum, als Sachsen sehr oft in den Schlagzeilen war, im Zuge der fremdenfeindlichen Übergriffe auf Asylbewerberheime, und als die Pegidabewegung im Erstarken war und auch einen Ableger in Leipzig hatte. Als alle so behaupteten, Heimat verteidigen zu müssen, kam mir der Gedanke, sich mit dieser Heimat doch mal zu beschäftigen und einen Roman dort spielen zu lassen.
Und die Ida kam in meinen Kopf, da wollte ich unbedingt eine Figur haben, die meinem Alter entspricht. Das hat es mir ein Stück einfacher gemacht, die Konflikte nachempfinden zu können, die sich durch das Aufwachsen in der DDR und durch die Wende ergeben. Und mit dem fiktiven Ort Tann, der stark geprägt ist von Uran-Bergbau und dadurch auch atmosphärisch geprägt ist durch eine Tristheit, durch Haldengrau, durch eine zerstörte Umwelt – dem wollte ich noch einen atmosphärischen Kontrapunkt entgegensetzen: So kam der Zirkus als zweite Lebenswelt in den Roman.
Es gibt viele Orte in Ihrem Buch: der Zirkus, die Wismut, die Ukraine, Tschernobyl. Was verbindet diese Orte und die Menschen darin?
Die Orte haben sich relativ zwangsläufig aus der Handlung ergeben, ich musste das verbindende Element gar nicht so sehr suchen. Also es gab am Anfang diesen Punkt, den Roman in Sachsen anzusiedeln und diese Heimat ein Stück besser zu verstehen. Daraus hat sich für mich schnell eine Zwangsläufigkeit ergeben, dass man in den Berg muss. Dann wollte ich, wie schon gesagt, den atmosphärischen Kontrapunkt haben und habe den Zirkus ausgesucht, also diese beiden Welten.
Der weitere Schauplatz Kiew ist so hinzugekommen: Ich war damals in Bad Schlema für erste Recherchen, dort gibt es ein Heimatmuseum, dass den Uranbergbau beleuchtet. Ich habe da eine Führung mitgemacht. Der Museumsleiter erzählte, man kann das nicht mit Sicherheit sagen, aber es ist durchaus wahrscheinlich, dass Tschernobyl mit Uran aus dem Erzgebirge betrieben wurde. Es ist deswegen sehr nachvollziehbar, weil die Wismut der viertgrößte Uranproduzent der Welt war. Die haben also so viel Uran aus dem Berg geholt, das war viel mehr, als für das Atomwaffenprogramm der Sowjetunion gebraucht wurde. Und das, was dann darüber hinaus produziert wurde, wurde für die zivile Atomkraft genutzt. Ich fand interessant, dieser Spur des Urans ein Stück weit in der Geschichte auch nachzugehen, weil das ja nicht nur ein Detail eines Ortes ist, der in dem Roman beschrieben wird, sondern weil es diesen Ort massiv geprägt hat und die Familie der Ida.
Der Roman spielt im Osten. Was sind die Besonderheiten der ostdeutschen Biografien im Gegensatz zu westdeutschen?
Es fängt damit an, dass ein Uranbergbau dieses Ausmaßes in dem dicht besiedelten Gebiet Erzgebirge, das hätte es in einem demokratischen Staat so, glaube ich, nicht gegeben. Was ich noch relativ spezifisch finde, wo ich das Gefühl habe, das unterscheidet Ostdeutschland von Westdeutschland, wenn man jetzt in die jüngere Geschichte geht: Der Roman führt zurück bis an den Anfang des 20. Jahrhunderts, das hat mit der Entdeckung der Radonquellen des Ortes zu tun.
Und wenn man sich das dann so anschaut bis in die Gegenwart, dann ist es eine Geschichte, die vor allem immer wieder geprägt ist durch wiederkehrende Brüche und Umbrüche. Es gab nicht wie in Westdeutschland diese ein, zwei Generationen der Prosperität, was nicht nur im materiellen Sinne zu verstehen ist, sondern ein Stück weit im psychologischen Sinn, wo eine Generation mal Zeit hatte, sich zu setteln, auch emotional sich zu setteln und eben sich nicht nochmal neu zu erfinden und zu arrangieren mit Umständen, die man schwer ändern kann.
In dem Titel "Bittere Wasser" schwingt viel mit. Wie kam es zu diesem Titel?
Im Roman ist das Wasser über diesen Fluss, die Aach in Tann, ein wiederkehrendes poetisches Motiv. Dann ist da natürlich die Geschichte um die Katastrophe Tschernobyl, da gibt es so eine religiöse Deutung aus der Offenbarung des Johannes, also was damals von religiösen Menschen für ein Bezug gefunden wurde zu dieser Katastrophe um Tschernobyl. Es geht ungefähr so: Dass ein Stern namens Wermut zu Boden fällt und die Wasser vergiftet. Da tauchen die bitteren Wasser jedenfalls auch auf. Das spielt in dem Roman in gewisser Weise eine Rolle über die Großmutter von Jelena, die sehr religiös war und diese Deutung mal mit reinbringt. Dann hab ich jetzt schon zwei Mal die Assoziation gehört: Bittere Wasser wie bittere Medizin, also, was sein muss, damit es besser wird.
Haben Sie eine Lieblingsfigur in Ihrem Roman?
Die erstaunlichste Figur ist für mich der Bürgermeister Ernst Wieler, weil der sich komplett spontan hineingeschrieben hat in den Text, der war überhaupt nicht geplant. Ich war ein paar Tage in Schlema zum Schreiben, hab mich dort einquartiert, bin immer wandern gegangen über diese ehemaligen Halden, Gebiete, die jetzt begrünt sind, wo jetzt alles ganz anders aussieht als in den 80er-Jahren.
Und irgendwann abends schrieb sich dieser Bürgermeister so in den Text hinein, also war sofort ganz eigenständig als Figur, das hat mich sehr begeistert in diesem Prozess. Und auch die Jewhen-Figur, seine Geschichte hat etwas Tragisches über die Geschichte von Tschernobyl, weil das seine Familie betroffen hat. Und ich glaube, dieses Moment des Nicht-Loslassen-Könnens von einer Vergangenheit, den Blick nicht nach vorn richten zu können, das hat mich stark berührt. Und natürlich die Hauptfigur Ida, mit der ich ja doch sehr lange Zeit verbracht habe.
Das Gespräch führte Judith Burger für MDR KULTUR.
Die Schriftstellerin Tina Pruschmann
Tina Pruschmann wurde 1975 in Thüringen geboren. Ihr Weg zum Schreiben führte sie über ein abgebrochenes Jurastudium, eine Ergotherapie-Ausbildung, ein Soziologiestudium und über diverse Tätigkeiten u. a. an einer Förderschule, in einer psychiatrischen Klinik und in einer Berufsfachschule. "Bittere Wasser" erschien 2022 im Rowohlt Verlag. 2017 erschien ihr Debütroman "Lostage" im Residenz Verlag, 2019 folgte der Bild- und Interviewband "gottgewollt" mit Co-Autor Marco Warmuth im Mitteldeutschen Verlag .
Die Sprecherin Inka Löwendorf
Inka Löwendorf wurde 1977 in Berlin geboren. Sie absolvierte parallel zur Schulausbildung eine Tanzausbildung an der Deutschen Oper Berlin und hatte ihr erstes Engagement von 1996 bis 1998 als Tänzerin am Berliner Ensemble. Nach Auslandsaufenthalten begann sie Germanistik und Anglistik zu studieren. Nebenbei war sie in der RTL-Daily-Soap Gute Zeiten, schlechte Zeiten zu sehen. Im Anschluss studierte sie von 2000 bis 2004 Schauspiel am Max-Reinhardt-Seminar in Wien. Sie arbeitete am Berliner Ensemble und der Volksbühne Berlin. 2007 gründete sie mit Freundinnen den Heimathafen Neukölln, der im Frühjahr 2009 einen festen Spielort erhielt. Neben ihrer Theater- und Filmarbeit ist sie in vielen Hörspiel und Lesungen zu erleben. Für MDR KULTUR u. a. in "Döbeln" von Andreas Jungwirth.
Angaben zur Sendung
MDR KULTUR Lesezeit
13.02. – 03.03.2023
Bittere Wasser
Von Tina Pruschmann
Es liest: Inka Löwendorf
Regie: Anke Beims
Produktion: MDR 2023
Alle Folgen dieser Lesezeit stehen hier bis zum 10. August 2023 zum Hören bereit.
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | MDR KULTUR Lesezeit | 13. Februar 2023 | 09:00 Uhr