Lesezeit | 23.06. – 08.07.2022 Andrej Platonow: Die Baugrube
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Andrej Platonows "Die Baugrube" gilt als Schlüsselwerk der modernen russischen Literatur. Sein 1930 entstandener Roman, der erst 1987 erscheinen durfte, spielt in den frühen Jahren der Stalinzeit. Er handelt vom Scheitern eines sozialistischen Bauvorhabens, das zugleich Sinnbild ist für die gescheiterte Utopie. Es liest Hanns Zischler.

Eine neue, bessere Welt für alle Menschen zu schaffen, das war die Verheißung der sowjetischen Utopie. Der rückständige Agrarstaat sollte in kürzester Zeit in die Moderne katapultiert und seine Bewohner zu "Neuen Menschen" erzogen werden.
Andrej Platonows 1930 entstandener Roman "Die Baugrube" spielt während der durch Stalin forcierten Industrialisierung und vollständigen Kollektivierung der Landwirtschaft. 1929 erklärte Stalin die Kulaken zu Feinden der Sowjetmacht und forderte ihre "Liquidierung als Klasse".
Selbständige Großbauern wurden enteignet, in entlegene Gegenden deportiert oder erschossen. Die offizielle Propaganda feierte die wirtschaftlichen Erfolge: In Rekordzeit wurden gigantische Maschinenfabriken, Stahl- und Wasserkraftwerke gebaut. Den Preis zahlte die Bevölkerung.
In unnachahmlicher Sprache schildert Platonow die sowjetische Wirklichkeit in jenen Anfangsjahren des Stalinismus. Erscheinen durfte das Werk zu Lebzeiten des Autors nicht. Erst 1987, im Zuge der Perestroika, war eine Veröffentlichung in der Sowjetunion möglich. Im einem Essay zur 2017 erschienenen Neuübersetzung des Werks schrieb Sybille Lewitscharow:
Eine schärfere, unerbittlichere Abrechnung mit dem Stalinismus, die derart unter die Haut geht, wurde, zumindest in Romanform, nie geschrieben.
Die Baugrube
Hauptfigur des Romans und eine Art Alter Ego Platonows ist der Industriearbeiter Woschtschew. An seinem dreißigsten Geburtstag wird er infolge zunehmender Körperschwäche und "wegen Grübelns inmitten des allgemeinen Arbeitstempos" aus einer kleinen Maschinenfabrik entlassen. In der nächstgelegenen Provinzstadt schließt er sich einer Gruppe Arbeiter an, die eine riesige Baugrube ausheben. Hier soll ein monumentales gemeinproletarisches Haus für alle Werktätigen der namenlosen Stadt entstehen.
Zitat aus "Die Baugrube" Woschtschew gab man einen Spaten, und mit der Härte der Verzweiflung seines Lebens drückte er ihn in den Händen, als wolle er sich die Wahrheit aus der Mitte des Erdenstaubs beschaffen; in seinem Elend war Woschtschew bereit, eben keinen Sinn der Existenz zu haben, doch wünschte er ihn wenigstens zu beobachten in der Substanz des Körpers eines anderen, nahen Menschen, – und um in der Nähe dieses Menschen zu sein, konnte er für die Arbeit seinen ganzen schwachen Körper drangeben, der verzehrt war von Nachsinnen und Sinnlosigkeit.
Um den melancholischen Woschtschew gruppiert Platonow eine Reihe exemplarischer Figuren: Den lebensmüden Ingenieur Pruschweskij, den stumpfsinnigen Arbeiter Tschiklin, den bösartigen Kriegsveteranen Shatshew und den opportunistischen Gewerkschaftsfunktionär Paschkin. Später stößt das Waisenmädchen Nastja dazu. Die Arbeiter nehmen es bei sich auf, nachdem seine Mutter, eine Frau aus der Bourgeoisie, verhungert ist. Das Kind vertreibt den Männern die Schwermut und wird zur Verkörperung der Hoffnung auf eine strahlende Zukunft.
Im Winter schickt Genosse Paschkin die Arbeiter ins Nachbardorf, wo ein namenloser Aktivist die Kollektivierung der Bauern vorantreibt. Die Kulaken werden auf ein Floß verfrachtet und stromabwärts in den sicheren Tod getrieben. Die verbliebenen Bauern werden enteignet und zum Kolchos vereint. Viele schlachten ihr Vieh und essen das Fleisch "wie ein Abendmahl" um es im eigenen Körper "vor der Vergesellschaftung zu bewahren". Nastja, das gerettete Waisenmädchen, erkältet sich beim Freudenfest des Dorfes, stirbt und wird in der Baugrube bestattet.
Zitat aus "Die Baugrube" Um Mittag begann Tschiklin für Nastja ein gesondertes Grab zu schaufeln. Er grub es fünfzehn Stunden am Stück, damit es tief war und weder Wurm noch Pflanzenwurzel, weder Wärme noch Kälte dorthin eindringen konnten und damit das Kind niemals der Lebenslärm von der Erdoberfläche stören würde.
Der Schriftsteller Andrej Platonow
Andrej Platonow, geboren 1899 in Woronesch, begann mit 14 Jahren zu arbeiten, absolvierte später das Eisenbahnertechnikum und war in den 20er-Jahren als Ingenieur für Bewässerungstechnik und Elektrifizierung tätig. Seit 1918 publizierte er Lyrik, Erzählungen und journalistische Arbeiten. 1922 erschien sein Gedichtband "Himmelblaue Tiefe".
Wegen zweideutiger Darstellungen der Revolution zog Platonow die Kritik durch Parteifunktionäre auf sich. Sogar Stalin soll an den Rand seiner Erzählung "Zu Fromm und Nutzen" das Wort "Dreckskerl" geschrieben haben. Seine Hauptwerke, "Tschewengur" (1926) und "Die Baugrube" (1930), konnten aufgrund der Zensur in der Sowjetunion nicht erscheinen.
Im April 1938 wurde Platonows 15-jähriger Sohn wegen "Spionage und antisowjetischer Tätigkeit" verhaftet und ins Arbeitslager gebracht. Nach seiner Entlassung kümmerte sich Platonw um den an Tuberkulose erkrankten Sohn, der Anfang 1943 starb.
Während des Zweiten Weltkriegs wurde der Schriftsteller als Sonderberichterstatter an die Front geschickt. Er starb 1951. Erst in den späten 1980er-Jahren setzte eine Wiederentdeckung seines Werks ein.
Der Schauspieler Hanns Zischler
Hanns Zischler, 1947 in Nürnberg geboren, wuchs in dem fränkischen Dorf Langenaltheim auf. Er studierte u. a. Ethnologie und Literaturwissenschaften in München und Berlin. Ab 1968 war er an Theatern in Berlin, Basel und Karlsruhe als Dramaturg, Regisseur und Schauspieler tätig.
1970 setzte ihn Wim Wenders in seinem Spielfilm "Summer in the City" ein. Seitdem ist Hanns Zischler regelmäßig in deutschen und internationalen Filmen zu sehen und hat mit bekannten Regisseuren wie Rudolf Thome, Claude Chabrol, Jean-Luc Godard, Robert van Ackerens und István Szabó zusammengearbeitet.
Neben der Schauspielerei ist Hanns Zischler auch als Übersetzer, Fotograf, Herausgeber und Autor tätig. 2017 ist sein zum Klassiker gewordenes Werk "Kafka geht ins Kino" in einer erweiterte Neufassung erschienen.
Der vielseitige Künstler ist auch ein gefragter Sprecher. Er hat Werke von Gabriel García Marquez, Fernando Pessoa, Mario Vargas Llosa, Vladimir Nabokov und anderen eingelesen. 2010 erhielt er den Deutschen Hörbuchpreis in der Kategorie "Beste Fiktion" für seine Lesung der "Chronik der Gefühle" von Alexander Kluge.
Angaben zur Sendung
MDR KULTUR-Lesezeit
Die Baugrube (12 Folgen)
Von Andrej Platonow
Übersetzer: Werner Kaempfe
Es liest: Hanns Zischler
Produktion: SWR 2000
Sendung: 23.06. – 08.07.2022 | 09:05-09:35 Uhr
Wiederholung: 23.06. – 08.07.2022 | 19:05-19:35 Uhr
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Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 23. Juni 2022 | 09:05 Uhr