"Mutmassungen über Jakob" Staatsschauspiel Dresden überzeugt mit Hommage an Dichter Uwe Johnson

Uwe Johnson ist ein klangvoller Name in der Literaturwelt. Der erste gesamtdeutsche Dichter wurde er genannt, nachdem 1959 sein Roman "Mutmassungen über Jakob" im Westen erschien, wohin Johnson im selben Jahr ausgewandert war. In der DDR hätten Johnsons kritische Bücher keine Chance gehabt. Auf den Theaterbühnen ist sein Werk bisher selten inszeniert worden, weshalb die Uraufführung der "Mutmassungen über Jakob" am Staatsschauspiel Dresden mit Spannung erwartet wurde. Experiment geglückt, meint unser Kritiker.

Zwei Männer und eine Frau auf der Theaterbühne, umgeben von Neonröhren. 8 min
Yassin Trabelsi (Mitte) spielt Eisenbahn-Dispatcher Jakob Abs im Stück "Mutmassungen über Jakob" am Staatsschauspiel Dresden. Am 6. Oktober 2022 feierte das Stück Premiere. Bildrechte: Sebastian Hoppe

Uwe Johnsons "Mutmassungen über Jakob" ist 1959 erschienen und als unmittelbare Folge der politischen Ereignisse jener Jahre zu verstehen. Es geht um die deutsche Teilung, es geht um Republikfluchten, um die noch junge Stasi, aber auch um die Weltlage – die Niederschlagung des Volksaufstandes 1956 in Ungarn durch den sowjetischen Einmarsch. Inhaltlich und auch formal ein höchst spannendes Buch. Ein toller Theaterstoff – auch für das Staatsschauspiel Dresden.

Für die Bühne adaptiert hat ihn Regisseurin Camille Dagen, geboren 1992 in Frankreich und 2018 in Dresden mit dem Preis des Festivals "Fast forward" ausgezeichnet, einem Preis für junge Regie. Sie nähert sich diesem auf den ersten Blick so deutschen Thema mit einer unglaublich guten Strichfassung an, der Kürzung des Romans für die Bühne, die sie gemeinsam mit der Dramaturgin Katrin Breschke angefertigt hat. Zweitens damit, dass sie diesem Text vertraut, der wuchtigen, vielschichtigen Sprache Uwe Johnsons. Sie verzichtet auf zusätzliche Diskurse, auf Regie-Theater-Ideen aller Art.

Roman voller Geschichte des 20. Jahrhunderts

Wie bei Johnson erfahren wir zu Beginn, dass der Eisenbahn-Dispatcher Jakob Abs bei einem Bahn-Unfall ums Leben kam. Fragen tun sich auf: War es überhaupt ein Unfall? War es vielleicht Selbstmord? Oder gar ein Mord der Staatssicherheit? Johnson gibt keine Antwort. Es gibt nur Mutmaßungen, die man sich als Zuschauerin oder Zuschauer selbst zu Antworten zusammensetzen kann. Was vielleicht in dieser Fassung aus erfreulich vielen Dialogen und nur wenig "gespielter Prosa" sogar etwas einfacher ist als im Roman.

Eine Theaterszene: Zwei Männer in Uniformen sitzen an einem Tisch, eine Frau bedient sie.
Bildrechte: Sebastian Hoppe

Kleiner Service-Tipp Bitte die Übertitel beachten, sie helfen beim Verstehen der nicht chronologisch erzählten Handlung. Oder vorab kurz ins Programmheft schauen, darin wird die Chronologie der Ereignisse beschrieben.

Gäbe es eine TÜV-Plakette für die Gültigkeit literarischer Texte, die Bühnenfassung von Johnsons Roman hätte sie ohne Beanstandungen bekommen, inklusive Abgasprüfung. In diesem Werk steckt so unglaublich viel Geschichte: mal nur in kleinen Rückblicken, wie der Ankunft des Protagonisten Jakob Abs und seiner Mutter in Jerichow als aus Pommern Vertriebene. Oder der knappen Erinnerung des Stasi-Mannes Rohlfs an den Krieg, an die Ostfront. Mal sind es Handlungsepisoden über den Volksaufstand von 1956 in Ungarn. Oder auch nur Nachrichtenfetzen über die Suez-Krise im selben Jahr.

Strahlend blaues Licht auf einer Theaterbühne, das die Menschen nur als Silhouetten erscheinen lässt.
Musikalische Klangflächen lassen das Theaterstück "Mutmassung über Jakob" am Staatsschauspiel Dresden fast filmisch wirken. Bildrechte: Sebastian Hoppe

Die Angst vor einem dritten Weltkrieg wird erwähnt, wobei man nicht weiß, ob die Tatsache, dass die schon in den 50er-Jahren umging, angesichts der aktuellen Lage eher beruhigend oder beunruhigend ist. Dieser Roman ist ein Komprimat der Geschichte des 20. Jahrhunderts, der bleibt!

Dresdner Inszenierung präsentiert Uwe Johnsons kraftvolle Sprache in filmischem Setting

Die Bühne ist über weite Strecken beinahe leer. Ab und an werden ein paar Stühle aufgestellt, das Balkengerüst eines Hauses, ein Esstisch. Ab und an fahren Mikrofone aus dem Theaterhimmel herab, einmal kommt Nebel zum Einsatz. Es wirkt, als wolle Regisseurin Camille Dagen möglichst wenig ablenken von Uwe Johnsons Sprache, ihrer Vielschichtigkeit, ihrer Kraft.

Ein Gerüst, das ein Haus darstellen soll, auf der Theaterbühne.
Es scheint, dass das Bühnenbild der Inszenierung am Dresdner Staatsschauspiel nicht von Uwe Johnsons Sprache ablenken soll. Bildrechte: Sebastian Hoppe

Musikalische Klangflächen untermalen den gesamten Abend, was ihn fast filmisch wirken lässt, obwohl er bildlich eher Kammerspiel als großes Kino ist. Aber dieser Abend braucht keine Gleise und Züge, um Jakobs Arbeit und sein Ende sichtbar zu machen. Er lässt die Schauspielerinnen und Schauspieler Orte und Zeiten mitspielen.

Ensemble des Staatsschauspiels zeigt starke Leistung

Allen voran Yassin Trabelsi als Jakob. Er zeigt einen oft leicht Mecklenburgisch sprechenden, leicht bräsig wirkenden, aber gedanklich hellwachen jungen Mann. Seine Lage ist zum Verzweifeln, man erlebt mit, wie er mit ihr ringt: von der Stasi bedrängt, seine Geliebte Gesine Cresspahl im Westen, seine Mutter nach einem Stasi-Verhör ebenfalls republikflüchtig. Er ist entsetzt über den schlechten Zustand der DDR-Reichsbahn und noch mehr darüber, dass er die Züge mit den sowjetischen Panzern in Richtung Ungarn nicht aufhalten kann, ja ihnen sogar die Gleise freimachen muss. Man weiß nie, ob Jakob gleich vor Wut explodiert oder ob er nicht vielleicht doch aufgeben und vor einen Zug laufen wird.

Ein Schauspieler auf einer Bühne, im Hintergrund eine Frau.
Man weiß nie, ob Jakob (Yassin Trabelsi) gleich vor Wut explodiert oder doch vielleicht aufgibt. Bildrechte: Sebastian Hoppe

Ebenso stark die anderen Protagonisten, Henriette Hölzel als Gesine, Moritz Dürr als ihr Vater Heinrich Cresspahl, Thomas Eisen als Stasimann "Herr Rohlfs", Fanny Staffa als "Frau ohne Eigenschaften" und Jakob Fließ in gleich mehreren Rollen. Eine sehr überzeugende Ensembleleistung.

Zwei Schauspieler*innen in Uniform auf einer Bühne im Theater
Szene aus "Mutmassungen über Jakob" am Staatsschauspiel Dresden: Thomas Eisen als Stasimann "Herr Rohlfs", Fanny Staffa als "Frau ohne Eigenschaften". Bildrechte: Sebastian Hoppe

Eine große Qualität der Inszenierung ist zudem, dass Camille Dagen weniger interpretiert, sondern vor allem fokussiert: neben der Handlung auf Themen, die auch ohne explizite Aktualisierungen ins Heute weisen. Zum Beispiel die Frage, was Freiheit bedeutet? Bei Johnson ist es der Autor Jonas Blach (gespielt von Franziskus Claus), der sich an dieser Frage abarbeitet und dabei zum Dissidenten wird.

Auf der Bühne wird in diesen Szenen die Allgemeingültigkeit dieser Frage verstehbar. Camille Dagen lässt die Worte einfach wirken. Steht alles drin bei Johnson. Mal kraftvoll, mal volksnah, gerne poetisch. All das gilt auch für diese Inszenierung, die eine wirklich sehenswerte Hommage an diesen großen, den wahrscheinlich ersten gesamtdeutschen Dichter Uwe Johnson ist.

Mehr zum Stück

Die nächsten Vorstellungen von Uwe Johnsons "Mutmassungen über Jakob" im Kleinen Haus des Dresdner Staatsschauspiels finden statt am 27. November und 28. Dezember 2022.

Besetzung
Regie: Camille Dagen
Bühne: Emma Depoid
Kostüme: Irène Favre de Lucascaz
Sounddesign: Saoussen Tatah
Lichtesign: Edith Biscaro
Licht: Olaf Rumberg
Dramaturgie: Katrin Breschke, Uta Girod
Jakob Abs: Yassin Trabelsi
Jonas Blach: Franziskus Claus
Gesine Cresspahl: Henriette Hölzel
Heinrich Cresspahl: Moritz Dürr
Herr Rohlfs: Thomas Eisen
Jöche, Hänschen: Jakob Fließ
Die Frau ohne Eigenschaften: Fanny Staffa

Adresse
Glacisstraße 28
01099 Dresden

Redaktionelle Bearbeitung: Simon Bernard

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Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 07. Oktober 2022 | 12:10 Uhr

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