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Über die Premiere des Stücks "Vernichten" am Staatsschauspiel Dresden war das Publikum geteilter Meinung. Bildrechte: Staatsschauspiel Dresden/Sebastian Hoppe

KritikEine imponierende Überforderung: "Vernichten" nach Houellebecqs Roman am Staatsschauspiel Dresden

von Matthias Schmidt, MDR KULTUR

29. April 2023, 09:25 Uhr

Knappe vier Stunden dauert die Inszenierung nach Michel Houellebecqs Roman "Vernichten", die Regisseur Sebastian Hartmann am Staatsschauspiel Dresden auf die Bühne gebracht hat. Das Stück mutet apokalyptisch an, dreht sich um Kriege, Terror, Klimawandel und wird am Ende doch versöhnlich. Ein Theaterabend, der mit vielen Konventionen bricht und vom Premierenpublikum teilweise mit Enttäuschung und Empörung aufgenommen wurde: Fast die Hälfte verließ den Theatersaal bereits in den Pausen. Das Stück ist eine Überforderung – im Guten, wie im Schlechtem.

Der französische Autor Michel Houellebecq ist ein Enfant terrible der Literaturwelt, genial und polarisierend. Wenn sich Sebastian Hartmann, einer der außergewöhnlichsten deutschen Theaterregisseure, einen Roman von Houellebecq vornimmt, dann ist mit etwas Besonderem zu rechnen. In Dresden hat Hartmann nun "Vernichten" inszeniert, den aktuellsten Roman Houellebecqs. Herausgekommen ist in jeder Weise genau der besondere Theaterabend, mit dem zu rechnen war: mit so selten oder nie zu sehenden Bildern. Das ist eine Liga für sich, herausragende Kunst. Es gibt momentan kaum jemanden, der auf diesem künstlerischen Niveau denkt und inszeniert.

Regisseur Sebastian Hartmann inszeniert erneut in Dresden

Vom ersten Bild an ist alles atemberaubend und zugleich so weit von allen Konventionen des Schauspiels entfernt, dass man wirklich erstmal sagen muss: wie schön, dass Intendant Joachim Klement diesen Ausnahme-Regisseur immer wieder nach Dresden locken kann.

Der Abend beginnt mit einem denkwürdigen Bild: die Bühne ist dunkel und wird es mehr oder weniger den ganzen Abend bleiben. Am Horizont sind Schattenrisse von Bäumen zu sehen, auf der Bühne steht ein riesiger, schwarzer Turm – das könnte ein Gemälde Caspar David Friedrichs sein. Klaviermusik erklingt, und es geschieht: nichts. Bis nach gefühlt zehn Minuten sehr langsam die Schauspieler das Bild betreten, in einer Slow-Motion-Bewegung, die an Robert Wilsons Arbeiten erinnert.

Die Bühne im Stück "Vernichten" ist dunkel und bleibt es den ganzen Abend. Bildrechte: Staatsschauspiel Dresden/Sebastian Hoppe

Beeindruckendes Bühnenbild im Stück "Vernichten"

Spektakulär, was auf dieser Bühne im Laufe des Abends passiert – beispielsweise Projektionen und Leinwände, die ständig die Horizonte und Blickwinkel wechseln. Darauf zu sehen sind realistische und auch futuristische Kunstwelten des Künstlers Tilo Baumgärtel. Selbst der riesige Turm kippt und schwebt – das ist wirklich kaum zu schildern, das muss man gesehen haben. Auch die Kostüme, die teilweise an Oskar Schlemmer und sein Bauhaus-Theater erinnern, die Ausstattung, die an Endzeit-Filme von Tarkowski erinnert. Man staunt über die Ideen des Teams und ebenso darüber, dass die Gewerke des Theaters das überhaupt umsetzen konnten.

Ein spektakuläres Bühnenbild beeindruckt im Stück "Vernichten". Bildrechte: Staatsschauspiel Dresden/Sebastian Hoppe

Der Knackpunkt, an dem sich die Geister scheiden, ist der Text. Dass Regisseur Sebastian Hartmann, wenn er Romane der Weltliteratur adaptiert, keine Nacherzählung anstrebt, dass er Fremdtexte einstreut und Schauspiel mit Videos und bildender Kunst mischt, dass es ihm um Stimmungen statt um Handlung geht, das wissen die Dresdner spätestens seit Hartmanns epischen Dostojewski-Inszenierungen aus den Jahren 2018 und 2019. Mit Houellebecqs "Vernichten" legt Hartmann noch einmal eine Schippe drauf: diese Inszenierung ist weit weg von allen Konventionen des Schauspiels, sie ist ein lebendes Gemälde, ein Film, eine Klanginstallation – was sie nicht ist, ist ein Theaterstück im herkömmlichen Sinn.

Krieg, Tod, Klimawandel: Inszenierung mutet dem Publikum viel zu

Hartmann beginnt mit den letzten Kapiteln des Buches, da geht es um die Mundkrebserkrankung eines Protagonisten, eine tödliche Diagnose, die sehr explizit besprochen wird. Der Themenkomplex Krebs, Tod, Sterben ist schwer auszuhalten, auch wenn es natürlich ein Thema ist, das wichtig ist und nicht immer verdrängt werden kann. Aber diese Inszenierung mutet dem Publikum wirklich sehr viel zu, das tut richtig weh.

Düstere Themen wie Krebs, Tod, Sterben werden in "Vernichten" behandelt. Bildrechte: Staatsschauspiel Dresden/Sebastian Hoppe

Auch aus dem "Rest" des mehr als 600-seitigen Romans nutzt Sebastian Hartmann nur Versatzstücke, und zwar vor allem die düsteren, die morbiden. Alles wirkt apokalyptisch: Kriege, Terror, Klimawandel, Untergang. Später konterkariert er es mit religiösen Motiven, eine der beeindruckendsten Szenen ist, dass das Ensemble Kate Bushs berühmten Song "A Deal With God" singt und dazu 3-D-Brillen verteilt werden, um die sich überlagernden Projektionen noch mehrdimensionaler wahrnehmen zu können.

"Vernichtung" bricht mit Theater-Konventionen

Zwischendurch werden in sehr langen Monologen Einzeltexte vorgetragen, die sich um philosophische und politische Fragen, um existentielle Themen drehen, und schließlich bricht Hartmann am Ende alles noch einmal komplett auf und lässt eine großartige Nadja Stübiger ein Chanson nach Texten eines englischen Autors aus dem späten 19. Jahrhundert singen, ganz klassisch am Klavier stehend.

Die Inszenierung beeindruckt besodners durch ihr aufwändiges Bühnenbild. Bildrechte: Staatsschauspiel Dresden/Sebastian Hoppe

Das ist sicher als eine Botschaft der Versöhnung angesichts der düsteren Zeiten gut gemeint, aber da war es für viele eben längst zu spät, da war das Haus schon nur noch halbvoll.

Diese Inszenierung ist, im Guten wie im weniger Guten, eine Überforderung. Eine imponierende Überforderung der Sinne. Aber so überwältigend der Abend für Augen und Ohren ist, so diffus ist er für den Handlung und Struktur gewohnten Theaterverstand. Große, experimentelle, avantgardistische Kunst, die intellektuell kaum zu begreifen ist. Hartmann inszeniert ohne Rücksicht auf Verluste, das ist Segen und Fluch zugleich. Natürlich darf und soll Theater auch anstrengend sein, aber dieser Abend, der einerseits so Ungeheures bietet, verlangt seinen Zuschauern gleichzeitig sehr viel ab.

Angaben zum Stück:

"Vernichten"
nach dem Roman von Michel Houellebecq

Regie und Bühne: Sebastian Hartmann
Mit: Marin Blülle, Moritz Lippisch, Linda Pöppel, Torsten Ranft, Karoline Schmidt, Nadja Stübiger, Yassin Trabelsi, Viktor Tremmel, Simon Werdelis
Dramaturgie: Jörg Bochow
Kostüme: Adriana Braga Peretzki
Musik: Friederike Bernhardt

Dauer der Aufführung: ca. 3 Stunden und 40 Minuten.
Zwei Pausen.


Premiere: 27. April 2023

Weitere Termine:
29. April, 19:30 Uhr
8. Mai, 19:30 Uhr
21. Mai, 19 Uhr
12. Juni, 19:30 Uhr
22. Juni, 19:30 Uhr

Redaktionelle Bearbeitung: Lilly Günthner

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Dieses Thema im Programm:MDR KULTUR - Das Radio | 28. April 2023 | 12:40 Uhr