"Vor den Vätern sterben die Söhne" Wie in Dresden mit einem Text von Thomas Brasch die ganze Wucht des Theaters entfaltet wird
Hauptinhalt
Am Donnerstagabend hatte am Staatsschauspiel Dresden eine Inszenierung von Regisseur Sebastian Hartmann Premiere: "Vor den Vätern sterben die Söhne" nach dem Erzählband von Thomas Brasch. Theaterfreunde wissen, wenn Sebastian Hartmann inszeniert, kann es sehr besonders zugehen. Wir erinnern uns an seine Zeit in Leipzig, aber auch an die Dresdner Dostojewski-Arbeiten. "Erniedrigte und Beleidigte" war zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Wie "Hartmann" war diese Inszenierung?

Wie schön, dass am Theater gelegentlich mal etwas Unerwartetes passiert, etwas Verstörendes. Mit Sebastian Hartmanns Inszenierung "Vor den Vätern sterben die Söhne" ist genau das passiert. Wobei es so unerwartet gar nicht ist. Sebastian Hartmann ist schließlich bekannt dafür, dass er Prosastoffe nicht einfach nur illustriert oder interpretiert, sondern sie aufgehen lässt in ganz eigenen Formen und Stimmungen. Das war in Dresden zu erleben: zwei Stunden, die viele ratlos zurückgelassen haben, die aber dennoch so faszinierend waren, so derartig anders als das, was man üblicherweise am Theater zu sehen bekommt, dass man sie sich schon allein deshalb eigentlich unbedingt anschauen sollte.
Thomas Braschs DDR-Stoff als Vorlage
Besonders gespannt durfte man darauf sein, wie Hartmann, der in den späten DDR-Jahren als freier Theatermacher begann, sich diesem DDR-Stoff nähern würde. Immerhin erzählen Thomas Braschs Texte, aber auch die Geschichte seiner Familie, viel über die Geschichte der DDR, wenn man sie genau anschaut. Abgesehen davon sind die Texte des Bandes – der einen der schönsten Titel der deutschen Literatur der letzten Jahrzehnte überhaupt trägt, "Vor den Vätern sterben die Söhne" – sehr divers, teilweise sehr kurze, gedichtartige sind darunter, Ausflüge in die Mythologie, aber auch dunkle Miniaturen aus der DDR der 70er Jahre.
Bei Hartmann sind die Texte aber gar nicht das Zentrum des Abends, sondern sie gehen auf in einem Bühnenuniversum aus Videoleinwänden, Dauerregen, teilweise ekstatischem Spiel, Musik von Orgel bis Techno, dazu Videoinstallationen des Künstlers Tilo Baumgärtel und einer Kulisse, in der beinahe lebensgroße Tiere herumstehen. Die Kostüme sind abstrakt, die Herren streckenweise nackt – also keine realistische Bühnen-DDR. Ein paar Anspielungen gibt es, Bettina Wegners "Kleine Hände" werden gesungen, "Ich such die DDR" von "Feeling B", aber im Großen und Ganzen werden die Texte in einem Kunstraum gesprochen und gespielt. Zu Beginn ist es sehr laut, es wird regelrecht gebrüllt, was Braschs gut gesetzten Worten eher schadet, später am Abend gibt es dann auch ruhigere, sehr poetische Momente.
Eindringliches Theater mit Musik und Video
Sebastian Hartmann geht es offenbar nicht vordergründig um Thomas Braschs Texte. Viel mehr bettet er dessen Bitterkeit – er fremdelte nach seiner Aussiedlung 1976 auch mit dem Westen – und zugleich seine Hoffnungen in etwas Größeres, Globaleres ein. Im letzten Drittel gibt es eine lange Szene, in der Baumgärtels Videoanimationen gezeigt werden. Zu dröhnender Musik bewegen sich die Kulissentiere darin durch Wohngebiete, durch Wohnräume – alles in Schwarz-Weiß, das wirkt regelrecht endzeitlich. Stirbt nach den Söhnen die ganze Menschheit? Das ist eindringlich, wie Theater nur selten ist.
Noch weniger als in den Dostojewski-Inszenierungen setzt Hartmann auf eine verstehbare Handlung. Man kann ein paar Dinge dekodieren, aber Vieles bleibt vage. Rätselhaft. Einen Hinweis zum besseren Verständnis gibt Hartmann zu Beginn, da zitiert er die Dankesrede von Thomas Brasch für den Bayerischen Filmpreis 1981 – ein kleiner Skandal, weil er ihn von Franz Josef Strauß entgegennahm, sich von ihm politisch distanzierte, dann aber für die Ausbildung an der DDR-Filmhochschule bedankte und darauf verwies, dass es die Aufgabe der Kunst sei, mit dem Geld des Staates gegen den Staat zu sein. Will sagen: Kunst muss ganz und gar frei sein und den Verhältnissen, wie Brasch sagt, für ihre Widersprüche dankbar sein.
Das Bühnenbild als ein sprechendes Gemälde
Das ist es, was Sebastian Hartmann hier tut: als Künstler frei zu sein und eben nichts zu erklären. Wenn man eine DDR-Brasch-Geschichte erwartet und rational nachvollziehen oder die Texte wortgenau verstehen will, wird man sich deshalb vielleicht über diesen Abend ärgern. Wenn man ihn als Gesamtkunstwerk auf sich wirken läßt, als eine Art modernes, vertontes, ja sogar sprechendes Gemälde, dann kann man in dieser Hartmann-Inszenierung Kräfte des Theaters spüren, die oft vergessen werden – seine ganze expressive, archaische und anarchische Wucht.
Den schmalen Band mit den tollen Brasch-Erzählungen kann man ja ergänzend auch zuhause nochmal zur Hand nehmen.
Weitere Informationen zum Stück
Vor den Vätern sterben die Söhne
nach den Erzählungen von Thomas Brasch
Regie: Sebastian Hartmann
Staatsschauspiel Dresden
Theaterstraße 2, 01067 Dresden
Termine:
10. Juni um 19:30 Uhr
18. Juni um 19:30 Uhr
3. Juli um 19 Uhr
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 03. Juni 2022 | 08:40 Uhr