"Wolokolamsker Chaussee"Theater ohne Haltung: Staatsschauspiel Dresden inszeniert Heiner Müller
Am Staatsschauspieler Dresden hatte ein Stück von Heiner Müller Premiere. Es besteht aus fünf Szenen, die unter dem Titel "Wolokolamsker Chaussee I - V" gespielt, und zusammen erstmals in Paris 1988 uraufgeführt wurden. Heiner Müllers "Nachruf auf die DDR", wie er selbst ihn nannte, hätte man angesichts des Ukraine-Krieges und der Klimakrise gut weitererzählen können, findet unser Kritiker. Leider ist für ihn in Dresden bloß schön anzusehendes Theater ohne Botschaft und Haltung herausgekommen.
Es ist das letzte Theaterstück, das Heiner Müller schon in den 80er-Jahren geschrieben hat. Müller nennt es in seiner Autobiografie einen "alten Plan". Es geht ihm um das "Unternehmen Sozialismus" auf deutschem Boden nach dem Zweiten Weltkrieg; ein Unternehmen, das durch den 17. Juni 1953 und den Aufstand 1968 in Prag sehr infrage gestellt wurde; ein Unternehmen, das für Müller durch die Gorbatschow-Zeit einen letzten Hoffnungsmoment erfährt. Am Ende ist es dann aber doch, so Müller, ein "Nachruf auf die Sowjetunion, auf die DDR."
Erschreckend aktuell: Die Frage der Panzer
Die ersten beiden Szenen spielen in der Sowjetunion kurz vor Moskau an der Wolokolamsker Chaussee: eine Hauptverkehrsachse von Westen nach Moskau hinein. Die Wehrmacht greift hier, 200 Kilometer vor Moskau, mit Panzern an. Ein Offizier der Roten Armee muss Moskau verteidigen. Er ist in der ersten Szene der Ich-Erzähler und muss ein Exempel statuieren, weil seine Soldaten davonlaufen, sie haben Angst. Angst sei die Mutter des Soldaten, sagt er. Und auch einen Satz, wie er aktueller nicht sein kann: "Die Deutschen hatten, was wir brauchten: Panzer, Flugzeuge." Panzer spielen in diesem Text, für das "Unternehmen Sozialismus", eine zentrale Rolle. Das Stück folgt dem Weg der Panzer "von Berlin, nach Moskau und zurück, und weiter von Moskau, nach Budapest und Prag."
Die dritte Szene betrifft den 17. Juni 1953. Zwei alte Freunde stehen sich gegenüber. Der eine verteidigt das System, der andere geht auf die Barrikaden. Szene vier ist eine Farce. Thema ist hier, wie das "Unternehmen Sozialismus" durch Bürokratie an seine Grenzen kommt, ausgebremst wird. Müller macht sich darüber lustig. Aber es ist wohl auch Verzweiflung. Szene fünf spielt kurz vor Ende der DDR: Der Vater, ein Funktionär aus Berlin, besucht seinen Sohn im Gefängnis in Bautzen, weil der in den Westen will. Spätestens hier ist das "Unternehmen Sozialismus" gescheitert, weil sich die nächste Generation verweigert. Von heute aus betrachtet, kommt hier eine "letzte Generation" Sozialismus auf die Bühne, die retten könnte, aber nicht mehr will. Es sind Menschen, die in den 70er-Jahren geboren sind. Dann kommt die Wende 1989. Der Sieg des Neoliberalismus. Digitale Ersatzwelten, weil die alte im Dauerkrisenmodus tickt.
Ukraine & Klimakrise: Fehlender Blick auf das Heute
Ich schreibe das, denn hier im Staatsschauspiel kommt mit der Premiere auch eine ganz neue Generation auf die Bühne: Schauspielstudierende, die in ihrem dritten Studienjahr eine gemeinsame Inszenierung zeigen. Das ist erst mal eine alte Hochschultradition aus der DDR-Zeit. Die Schauspielschule in Leipzig gibt zwei Jahre Unterricht vor Ort. Dann gehen die Studentinnen und Studenten die nächsten zwei Jahre schon an richtige Theater: Das sind dort sogenannte Studios: in Leipzig, Halle, Dresden und in Düsseldorf. Die Schauspielstudierenden jetzt, hier in Dresden, sind vor allem aber alle im neuen Jahrtausend geboren. Sie kennen das, was hier verhandelt wird, nur als Geschichte. Alles weit weg. Vergangenheit. Doch dann rollen die Panzer wieder. In der Ukraine. Dahinter steckt die Idee, Russland größer, imperialer, sowjetischer zu denken. Zynisch gesprochen, haben wir es mit einer Situation zu tun, in der man der "Wolokolamsker Chaussee" gut eine Szene 6 und 7 anhängen könnte. Wie sieht das "Unternehmen Sozialismus" – weiter gefasst – heute aus? Wie ist globale Gerechtigkeit denkbar? Mit Blick auf Chancengleichheit, Freiheit – Stichwort: Rassismus und Klima?
Geplatztes Gemeinschaftsprojekt mit Russland
Die Inszenierung in Dresden war als Gemeinschaftsprojekt mit Moskau gedacht, mit Schauspielstudierenden dort. Auch das Goethe-Institut in Moskau war mit im Boot. Dann kam der Krieg. Und die ganze Sache nicht mehr zustande. Aber es gab erste Kontakte. Interviews wurden geführt. Aus einem Interview mit der Übersetzerin der Heiner-Müller-Stücke ins Russische ist jetzt ein Videoschnipsel als Prolog zu sehen. Sie sagt sinngemäß: Jeder habe seinen eigenen Blick auf die Geschichte; sie sei überall anders lebendig.
Aber tatsächlich spielt ein eigener Blick bei den Studierenden offenbar überhaupt keine Rolle. Im Gegenteil. Die Studierenden sagen hier perfekt den Text auf. Im Chor, aus dem sich immer wieder einzelne Stimmen herausschälen und wieder in ihm verschwinden. Das ist virtuos gemacht, aber ziemlich unbelebt, tot. Auch kunstgewerblicher Schnickschnack. Und das in einer Zeit, in der wir Szene 6 und 7 schreiben könnten, aber auch über neue partizipative Theaterformen nachdenken, über eine neue Rolle der Akteurinnen und Akteure auf der Bühne, in diesem Stadttheatersystem. Es geht gewissermaßen um die selbstverschuldete Theater-Unmündigkeit, und wie man aus ihr herausfindet und sich neu und zeitgemäß erfindet. Und ausgerechnet dort, wo eine neue Generation auf die Bühne kommt, setzt man auf das alte Modell:
Sozusagen Theatermuseum. Theater, dem das System die Botschaft herausoperiert hat. Hauptsache schön anzusehen. Nicht anecken. Und es gibt keinen Widerstand.
Stefan Petraschewsky, MDR KULTUR-Theaterredakteur
Schauspieler sind Material in der Hand des Apparats, in einem Stück, bei einem Autor, der immer das Politische, Widerständige, dialektisch betont hat – Müller in seiner Autobiografie: "Das ist ja ein Grundproblem des deutschen Theaters, dass die Schauspieler nicht mit den Füßen sprechen. Der Text kommt meistens nur aus dem Kopf."
Ein verschenkter Auftritt
Der Regisseur heißt in diesem Fall Josua Rösing, Bühne und Kostüm sind von Arielle Karatolou, Musik von Thies Mynther und es gibt Videos von Jens Bluhm. Die Musik klang ziemlich illustrativ und einfach nur kitschig. Das Video zeigt Fahnen, Schreibmaschine, einen Panzer in Gold, wie er hin und her fährt, sich in seine Einzelteile auflöst und wieder zusammensetzt: gewollt ästhetisch gemacht, am Computer, digital, aber letztendlich nichtssagend. Die Bühne ist ein großes Gerüst. Offenbar wird hier gerade ein Denkmal abgebaut, denn wir sehen einen riesigen Stiefel, einen riesigen Kopf, eine riesige Schirmmütze. Das könnte also wahlweise Stalin sein, der hier dekonstruiert wird, aber vielleicht auch Hitler. Putin eher nicht, der läuft ja auch nicht mit Schirmmütze rum. Auch das Gerüst ist in Gold, auch das Denkmal, auch die Kostüme sind in Gold. Goldene Uniformen. Müller vergoldet, aber ohne Kopf, ohne Hand und Fuß.
Ich sehe an keiner Stelle eine Haltung, mit der die Schauspielerinnen und Schauspieler hier auftreten; keine Haltung, mit der sie dem Text gegenübertreten.
Stefan Petraschewsky, MDR KULTUR-Theaterredakteur
Am Ende habe ich die Übersetzerin wieder vor Augen, die sinngemäß gesagt hat: Jeder trägt seine eigene, lebendige Geschichte mit sich herum. Hier tragen acht Schauspielstudierende überhaupt keine Geschichte – das ist tragisch! Als neue Generation am Theater hätten sie die Möglichkeit gehabt, sich gewissermaßen auf die Bühne zu kleben. Das haben sie nicht gemacht. Sie haben ihren Auftritt total verschenkt.
Weitere Informationen"Wolokolamsker Chaussee I - V"
von Heiner Müller
Staatsschauspiel Dresden
Kleines Haus
Glacisstraße 28
01099 Dresden
Aufführungen:
Donnertstag, 16. Februar 2023, 19:30 Uhr, Kleines Haus 1
Sonntag, 26. Februar 2023, 19 Uhr, Kleines Haus 1
Samstag, 11. März 2023, 19:30 Uhr, Kleines Haus 1
Regie: Josua Rösing
Bühne und Kostüme: Ariella Karatolou
Musik: Thies Mynther
Video: Jens Bluhm
Licht: Rolf Pazek
Dramaturgie: Kerstin Behrens
Besetzung: Felix Bronkalla, Jakob Fließ, Leonie Hämer, Kaya Loewe, Mina Pecik, Jannis Roth, Rieke Seja, Willi Sellmann
Aktuelles Theater in Dresden
Dieses Thema im Programm:MDR KULTUR - Das Radio | 10. Februar 2023 | 12:10 Uhr