"Die Lage" Wohnen oder Nicht-Wohnen in Halle: Theater-Satire auf den Kampf um die eigenen vier Wände

"Was passiert, wenn wir als Gesellschaft zulassen, dass Wohnraum zur kapitalistischen Ware wird?" Das neue theater in Halle erkundet mit der Aufführung eines Stückes von Thomas Melle jetzt "Die Lage". Dabei erinnert die Bühne an ein Mini-Kolosseum, die Bewerberinnen scheinen todesmutig wie Gladiatoren. Auch das Publikum darf nicht entspannt am Rand sitzen und bloß zusehen, wie der Kampf um die eigenen vier Wände den Charakter verdirbt. Hoch aktuell und dabei unterhaltsam, beurteilt unser Kritiker "Die Lage", am Sonntag war Premiere.

Szenenbild aus dem Theaterstück "Die Lage" am neuen Theater in Halle.
Um den Wohnungsschlüssel wird hart gekämpft in Thomas Melles Stück "Die Lage", das jetzt in Halle Premiere feierte. Bildrechte: Falk Wenzel

Ist es zum Lachen? Zum Weinen? Am Ende beides – eine Satire, würde ich sagen. Man muss lachen, und das Lachen bleibt einem im Hals stecken, wenn die Maklerin die gesammelten Interessenten ermutigt: "Schauen Sie sich um. Fühlen Sie sich frei!" Jeder weiß: Das Gegenteil ist natürlich der Fall.

"Die Lage": Theaterstück spiegelt Wohnungsnot

Jeder versucht, eine Rolle zu spielen, versucht den anderen auszustechen, und will dabei einigermaßen die Umgangsformen wahren. Was hier umso weniger gelingt, je drängender die Situation wird. Es steigert sich ins Absurde, bis Stöckelschuhe den Sehnerv treffen und ehemalige Mieter als Obdachlose umhergeistern. Und so ist es am Ende Spiegel und Zerrspiegel zugleich, den uns Stück und Inszenierung hier vorhalten will.

Szenenbild aus dem Theaterstück "Die Lage" am neuen Theater in Halle, mehrere Personen kriechen auf einem Teppich mit dem Schriftzug "Parkett". 7 min
Bildrechte: Falk Wenzel
7 min

Das Neue Theater in Halle zeigt mit "Die Lage" eine zynische Komödie über den Wohnungsmarkt. Stefan Petraschewsky mit einer Kritik zu der Aufführung des Stücks von Thomas Melle.

MDR KULTUR - Das Radio Mo 20.03.2023 15:30Uhr 07:05 min

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Drei Schauspielerinnen und vier Schauspieler führen dem Publikum in immer neuen Konstellationen kleine Szenen vor: Da geht es zuerst um eine Wohnungsbesichtigung, ein WG-Casting, dann um den Kauf einer Eigentumswohnung.

Hoch aktuelle Premiere am neuen theater in Halle

Es ist die gleiche Situation in Variationen: Einer gegen den anderen. Auf der einen Seite die Maklerin, der Verkäufer, auf der anderen die Mit- oder Kaufinteressenten, verschiedene Bewerber und Bewerberinnen. Es beginnt also erst mal ganz realistisch, kommt tänzelnden Schrittes daher, was uns die Musik zwischen den Szenen nahebringt, nimmt dann Fahrt auf, schraubt sich hoch, bis wir andere Ebenen erreichen. Genauso erklärt und dreht sich der Stücktitel: "Die Lage" der Wohnung ist das Entscheidende. Alles andere, beispielsweise ob im WC ein Flach- oder Tiefspüler eingebaut ist, ist im Grunde genommen egal. Zugleich entwickelt sich die Inszenierung zum sozialen und psychologischen Lagebericht einer Nation.

Szenenbild aus dem Theaterstück "Die Lage" am neuen Theater in Halle.
Wie in einem Box-Ring begegnen sich die Wohnungssuchenden im Stück "Die Lage", das Max Radestock fürs neue theater Halle inszenierte. Bildrechte: Falk Wenzel

Wer wohnen will, muss kämpfen

Das Bühnenbild ist zunächst etwas verwirrend. Zeigt definitiv keine Wohnung, wo die Szenen ja spielen. Elena Scheicher, die Kostüme und Bühne verantwortet, und Regisseur Max Radestock schaffen einen Raum, in dem das Publikum um eine zentrale Spielfläche herum sitzt. Es ist ein Ring wie beim Boxen. Der Boden im Ring besteht aus 50 x 50 cm großen dunkelbraunen Gummiplatten, die wie Puzzleteile miteinander verbunden sind. Auf jeder Platte steht das Wort Parkett. Die Schauspieler treten jetzt zwischen den Zuschauerreihen in diesen Ring. Es ist also ein Wettkampf, den wir sehen, ein Wettkampf ums WG-Zimmer, die Miet- oder- Eigentumswohnung. Und der Sieger bekommt den Schlüssel. Der ist hier so groß wie eine Maschinenpistole, und so ist es wohl auch gemeint.

Szenenbild aus dem Theaterstück "Die Lage" am neuen Theater in Halle.
Daumen hoch oder runter: WG-Casting kann brutal sein. Bildrechte: Falk Wenzel

Kostüme und Bühnenbild vermitteln "Herr der Ringe-Feeling"

Die Kostüme sind auf den ersten Blick merkwürdig schmuddelig, lädiert. Motten haben Löcher hier in eine Wollweste gefressen, da sind die Hosen fleckig, die Schuhe ebenso. Es schwingt auch ein bisschen "Herr der Ringe"-Feeling mit, Elfen, ein bisschen Manga. Am Ende kämpfen wirklich Gladiatoren in einem Mini-Kolosseum.

Und damit steht die Frage: Wir, die Zuschauer, wer sind wir eigentlich? Sind wir diejenigen, die das alles hier gar nichts angeht? Die am Ende nur den Daumen hoch und den Daumen runter halten wie im alten Rom? Schon hier haben Bühnenbild und Kostüme also eine schöne zweite Ebene aufgemacht, die zum Stück um die Wohnungsnot mit hinzukommt.

Publikum wird ins Stück einbezogen

Die Frage nach der Rolle des Publikums wird nach etwa einer Stunde aufgelöst. In einem Moment, der am Anfang per Lautsprecher schon angekündigt wird. Eine Stimme sagt ganz freundlich: "Bitte nicht in der Vorstellung fotografieren." Das sind inzwischen ja übliche Ansagen. Hier kommt noch ein Satz dazu: "Wir haben extra einen Moment eingebaut, wo Sie dann Fotos machen dürfen. Wir sagen rechtzeitig Bescheid." Und dieser Moment wird gut vorbereitet. Durch eine Szene, in der das Parkett im Ring bzw. in der Wohnung herausgerissen wird: Revolution! Revolution gegen die herrschenden, kapitalistischen Verhältnisse auf dem Wohnungsmarkt. Da liegt der Schlüssel auch plötzlich mitten auf der Bühne und keiner will ihn haben. Das ist sozusagen das utopische Potenzial: Wohnung für alle; die Würde des Menschen braucht ein Zuhause.

Als nächstes fordern die potentiellen Mieter und Verkäufer den Makler auf, sich auszuziehen, sich nackt zu machen: Soll er sich doch mal so fühlen wie wir. Dann muss der Makler auf einen Sockel rauf, den die Miet- und Kaufinteressenten aus den herausgerissenen Parkettplatten geschichtet haben. Er muss auch den Schlüssel wieder an sich nehmen. Der nacktgemachte Makler als Symbol für die Wohnungsmisere wie ein Denkmal. In diesem Moment erklingt die Lautsprecherstimme noch einmal. Jetzt dürfen wir das Handy zücken und ein Foto machen. Und natürlich macht es keiner, weil es schamlos wäre. Die Premierenzuschauer zeigen Empathie. Sie könnten auch ein Foto machen. Sich für oder gegen diese Maschinerie positionieren. Das ist ihre Rolle in dieser Inszenierung. Und die Erkenntnis vielleicht diese: Irgendwie ist das mit der Not auf dem Wohnungsmarkt, die nach dem optimierten Mieter oder Käufer verlangt, für alle entwürdigend. Unmenschlich.

Szenenbild aus dem Theaterstück "Die Lage" am neuen Theater in Halle.
Thomas Melles Stück "Die Lage" stattete Elena Scheicher aus. Hier wird das Parkett zur Waffe im Aufbegehren gegen die Verhältnisse auf dem Wohnungsmarkt. Bildrechte: Falk Wenzel

Super verdichteter Theaterabend, überzeugendes Schauspiel

Andererseits auch menschlich. Wer den Schlüssel hat, der kann auch immer Fragen stellen, und die anderen müssen antworten. Wollen auch. Wohnungssuche als Psychotherapie, weil man endlich mal über Depressionen und Schlafstörungen sprechen kann. Das ist dann vielleicht schon die dritte Ebene. In einer modernen Gesellschaft, die kaum noch analog miteinander kommuniziert, ist ein WG-Casting ein seltener Moment, in dem man direkt miteinander redet, obendrein über intime Sachen wie das laute Stöhnen beim Sex, damit der Makler einschätzen kann, ob das in der Nachbarwohnung zu hören ist. Es gibt viele Schlüsselszenen und -momente in dieser Inszenierung, die sich wie ein Crescendo aufschaukelt und am Ende viele Themen in sich trägt, was für einen sportlich kurzen Theaterabend mit knapp 90 Minuten Länge super verdichtet ist.

"Die Lage": Sehenswert!

Szenenbild aus dem Theaterstück "Die Lage" am neuen Theater in Halle.
Jeder hat mal die "Schlüssel"-Rolle und damit die Macht in der Inszenierung von Thomas Melles Stück "Die Lage" zur Wohungsnot. Bildrechte: Falk Wenzel

Die Schauspielerinnen und Schauspieler machen ihre Sache hier sehr überzeugend. Das geht schon los beim Eingangschor, der perfekt gearbeitet ist. Es sind ja wechselnde Rollen, die die Schauspieler hier übernehmen – jeder hat mal den Schlüssel und damit die Macht. Jeder ist auch mal Verlierer. Und der große Bogen spannt sich von der Wohnungsbesichtigung zum Gladiatorenkampf. Diese Mischung aus absoluter Übertreibung mit kleinen, authentischen, ehrlichen Momenten, das ist nicht nur präzise und nachvollziehbar gespielt, sondern man merkt auch den Spaß, den die Akteure hier haben. Der sich ins Publikum überträgt.

Unterm Strich ist es ein sehenswerter Theaterabend. Besser, aktueller und dabei so unterhaltsam kann Theater nicht sein.

Angaben zum Stück neues theater Halle
Große Ulrichstraße 51
06108 Halle

Puschkinhaus
Kardinal-Albrecht-Straße 6
06108 Halle

Die Lage
Stück von Thomas Melle

Regie: Max Radestock
Mit Florian Ulrich Krannich, Harald Höbinger, Paula Dieckmann, Sybille Kress,
Nils Thorben Bartling, Nicoline Schubert, Rico Strempel

Premiere
19. März 2023

Weitere Aufführungen
24. März, 20 Uhr, Puschkinhaus
26. März, 18 Uhr, Puschkinhaus
29. März, 10 Uhr, Puschkinhaus
30. März, 18 Uhr, Puschkinhaus
31. März, 20 Uhr, Puschkinhaus
5. April, 20 Uhr, Puschkinhaus
21./22. April, 19:30 Uhr, nt-Saal

(Auswahl)

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Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 20. März 2023 | 17:10 Uhr

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