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"Corpus Delicti" am Theater der Altmark Stendal basiert auf dem Theaterstück von Juli Zeh, das als Roman zum Bestseller wurde. Bildrechte: Nilz Böhme

EmpfehlungJuli Zehs "Corpus Delicti" in Stendal: Mutiges Theater voller Gesellschaftskritik

von Wolfgang Schilling, MDR KULTUR

Stand: 06. Februar 2023, 15:46 Uhr

Juli Zeh schrieb ihren erfolgreichsten Roman "Corpus Delicti" ursprünglich für das Theater. Das spannende Justizdrama kehrt nun in Stendal auf die Bühne zurück: Es spielt in einer Gesundheitsdiktatur im Jahr 2057, in der alle Krankheiten ausgerottet wurden – dank Genforschung und absoluter Überwachung. Eine mutige Inszenierung, die viele aktuelle Fragen aufwirft, findet unser Kritiker. Wenn auch mit handwerklichen Mängeln.

Wenn man in Stendal ins Theater geht, dann noch immer ins Kaufhaus. Weil sich die Sanierung des Stammhauses des Theaters der Altmark weiter in die Länge zieht, fand nun auch die Premiere von "Corpus Delicti" im (fast) leerstehenden Uppstall-Kaufhaus statt. Vorne stehen ein paar letzte Sofas zum Abverkauf, hinten das Ensemble auf der Behelfsbühne. Der Saal ist trotzdem voll und die gut 200 Plätze bis auf den letzten besetzt. Kein Wunder, steht doch ein Stück von Juli Zeh auf dem Spielplan.

Juli Zehs Roman ursprünglich als Theaterstück gedacht

Die Schriftstellerin ist momentan wieder sehr präsent im Feuilleton, den Bestsellerlisten und auf dem Theater. Zeitgleich zur Stendaler Premiere von "Corpus Delicti" kam an den Landesbühnen Sachsen in Radebeul "Unter Leuten" auf die Bühne. Dass Erfolgsromane den Weg ins Theater finden, ist nicht selten. Im Fall von "Corpus Delicti" ging es mal andersrum.

Juli Zehs Roman "Corpus Delicti" erschien drei Jahre nach dem gleichnamigen Theaterstück, das nun am Stendaler Theater der Altmark inszeniert wird. Bildrechte: Nilz Böhme

Ursprünglich hat Juli Zeh das Theaterstück geschrieben, als Auftragswerk für die Ruhrfestspiele 2006. Die Roman-Variante hat sie erst drei Jahre später geliefert. Es geht um das Leben in einer Gesundheitsdiktatur im Jahr 2057. Dank absoluter Überwachung und Körperkontrolle hat man es geschafft, alle Krankheiten zu besiegen. Wer sich diesem Wohlfahrtssystem der "Methode" entzieht, wird zum Corpus Delicti und zur Räson gebracht.

Was das Stück "Corpus Delicti" mit Corona und 9/11 verbindet

In Sachen gesundheitsdiktatorischer Vorübungen haben wir in den vergangenen Jahren der Pandemie einige kollektive Erfahrung machen dürfen, die das Stück plötzlich mit einem erhöhten Gegenwartsbezug ausstatten. Wobei Juli Zeh 2006 noch nichts von der Pandemie wissen konnte.

Ihr ursprünglicher Ansatz ging von den 9/11-Anschlägen auf das New Yorker World Trade Center aus und der Reaktion der westlichen Welt, dass man von da an ein altes juristisches Prinzip unserer Demokratie - dass man ein Verbrechen erst unter Strafe stellen kann, wenn es begangen ist - im Falle des Terrorismusverdachts außer Kraft setzt.

Noch heute sitzen in Guantanamo Menschen ein, ohne dass ihnen ein Prozess gemacht wurde. Das hat die studierte Juristin Juli Zeh angetrieben: Zu einer spannenden Geschichte, in der es nicht nur um eine Gesundheitsdiktatur, sondern auch die Rolle der Justiz respektive der Medien als vierte Gewalt geht. Da sind einige Spannungsfelder aufgeladen.

Die Inszenierung von "Corpus Delicti" am Theater Stendal passt gut in die Zeit der Corona-Pandemie. Bildrechte: Nilz Böhme

Ein intensiver Theaterabend mit handwerklichen Mängeln

Die Stendaler Inszenierung dauert brutto knappe drei Stunden. Langeweile kommt nicht auf, es wird mit hohem Tempo und sprachlicher Rasanz agiert. Manchmal mit zu hohem Tempo – der Text hat es in sich und die Autorin ist von Hause keine Dramatikerin. Ihr Stück eine Gesellschaftsanalyse, fast schon philosophisch.

Ein Szenenbild der Inszenierung von "Corpus Delicti" am Theater der Altmark Stendal Bildrechte: Nilz Böhme

Susann Ihlenfeld, die die Hauptfigur Mia Holl spielt, wirkt da oft wie eine von der Regie Getriebene. Regisseur Jochen Gehle geht aber aufs Ganze und hat seine Kraft dabei weniger in der Ruhe gefunden, sondern sich im Zweifelsfall lieber im Illustrativen ausgepowert. Das funktioniert noch ganz gut mit den das Bühnengeschehen begleitenden, wie live gezeichneten Trickfilmsequenzen auf zwei Screens im Hintergrund. Endlich mal keine Videos. Dazu dröhnt der Soundtrack seiner Jugend als Kommentar. Das Überwältigungstheater lässt grüßen. Weniger wäre da mehr gewesen.

Stendaler Theater zeigt eine mutige Inszenierung

Doch unterm Strich bleibt ein aufregendes Stück, in dem es um aktuelle Fragen unserer Zeit geht. Wie weit darf sich ein Staat über das Individuum erheben? Welcher Freiraum des Einzelnen hat unangetastet zu bleiben? Was ist eine unabhängige, der Gerechtigkeit dienende Justiz? Wie eng dürfen die Kuscheleinheiten der Medienmacher mit den Mächtigen ausfallen, um überhaupt noch als vierte Gewalt durchzugehen? Insofern bleibt das Stück von Juli Zeh und ist diese insgesamt mutige Inszenierung eine Empfehlung.

Angaben zum Stück

"Corpus Delicti" von Juli Zeh

Theater der Altmark
Karlstraße 6
39576 Hansestadt Stendal

Premiere: 4. Februar 2023

Weitere Vorstellungen:
9. März 2023, 19:30 Uhr
8. April 2023, 19:30 Uhr
29. April 2023, 19:30 Uhr
13. Mai 2023, 19:30 Uhr
19. Mai 2023, 19:30 Uhr

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Dieses Thema im Programm:MDR KULTUR - Das Radio | 06. Februar 2023 | 07:10 Uhr