Eine Mann und eine Frau stehen sich gegenüber. Im Hintergrund ist eine Hausfassade angedeutet.
Das Recherche-Stück "563" fragt, wie Eltern mit dem Verlust der eigenen Kinder umgeht. Bildrechte: Rolf Arnold

"563" Zu distanziert: Schauspiel Leipzig über den Verlust von Kindern und Mahlers Musik

15. Mai 2023, 19:33 Uhr

Klassik-Fans aus aller Welt sind im Mai 2023 nach Leipzig gekommen. Denn am Gewandhaus werden alle großen Orchesterwerke von Gustav Mahler gespielt. Das Schauspiel Leipzig nimmt das Festival zum Anlass für eine Stückentwicklung: Die "Kindertotenlieder" sollten Grundlage sein für ein Stück über Eltern, die ihre Kinder verloren haben. Nach viel Hin und Her im Hintergrund feierte "563" nun Premiere. Leider bleibt das Stück zu distanziert.

563 – so viele Gedichte hat der Dichter Friedrich Rückert über den Tod seiner beiden Kinder, Luise und Ernst geschrieben. Luise starb mit drei Jahren, Ernst mit vier, beide an Scharlach, im Winter 1833/34. Und als die Kinder gestorben waren, hatte Rückert mit diesen 563 Gedichten, die er schon damals "Kindertotenlieder" genannt hatte, quasi Trauerarbeit geleistet. In einem der ersten Gedichte heißt es: "So kurz war euer beider Leben … und nur der Liebe könnt ihr geben, Stoff zu unendlichen Geschichten."

563 am Schauspiel Leipzig 7 min
Bildrechte: Rolf Arnold

MDR KULTUR - Das Radio Mo 15.05.2023 15:30Uhr 07:16 min

Rechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

563 am Schauspiel Leipzig 7 min
Bildrechte: Rolf Arnold
7 min

MDR KULTUR - Das Radio Mo 15.05.2023 15:30Uhr 07:16 min

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Gustav Mahler hat fünf dieser Gedichte vertont. Insgesamt ist der Zyklus "Kindertotenlieder" etwa 25 Minuten kurz. Und Mahlers Auswahl ist wie immer großartig: Denn der Komponist schreckte nicht davor zurück, ganz Banales und Alltägliches in Töne zu setzen, immer in Kombination mit großen Gedanken und Gefühlen. Genau diese Mischung macht es aus. Wir reden jetzt noch gar nicht von der Musik, hier Orchestermusik. Tonsprachlich ist sie bei Mahler zwischen Volkslied und "Tristan"-Akkord angesiedelt. Oboe, Harfe, Horn mit kleinen Soli. Es ist Trauermusik, Verlustmusik einerseits, aber andererseits auch sehr tröstlich.

Recherche im Leipziger Kinderhospiz

Das Schauspiel Leipzig geht der Frage nach: Wie verarbeitet man den Tod der eigenen Kinder? Und holt diese Frage erstens ins Hier und Heute und zweitens nach Leipzig. Und damit kommt das Kinderhospiz "Bärenherz" ins Spiel, das unheilbar kranke Kinder aufnimmt. Diese Regieidee bedeutet auch, dass die Inszenierung zum Teil aus einer Recherche im Kinderhospiz entsteht. In Summe kommen auf der Bühne deshalb drei Dinge zusammen: die Lieder von Mahler, eine historische Textebene mit den Gedichten und Erinnerungen von Friedrich Rückert sowie Tagebuchnotizen seiner Frau Luise und drittens, künstlerisch verdichtet, Erzählungen von Eltern, deren Kinder im Kinderhospiz sind oder waren, also sterben oder gestorben sind. Wobei es am Ende keine gleichwertigen Teile sind.

Eine Frau in schwarzer Hose und violetter Bluse geht auf der Bühne nach vorne. Im Hintergrund kann man in ein Haus sehen, wo Menschen auf dem Boden oder an Tischen sitzen.
Für das Stück "563" hat das Team ausführlich mit Eltern im Leipziger Kinderhospiz gesprochen. Bildrechte: Rolf Arnold

Zu Beginn treten drei Schauspielerinnen und ein Schauspieler, quasi die Kernmannschaft der Inszenierung, vor den Eisernen Vorhang. Thomas Braungardt wird vor allem die Texte von Friedrich Rückert sprechen, Anne Cathrin Buhtz die Erinnerungen von Luise Rückert. Die beiden anderen, Julia Berke und Johanna Ihrig, sind für die Geschichten aus dem Hospiz "Bärenherz" zuständig. Ihrig ist zudem Sängerin und interpretiert ein "Kindertotenlied", live am Klavier begleitet von Philip Frischkorn, der den Abend musikalisch leitet. Es gibt aber auch, und hier verschränkt mit dem Livegesang, die "Kindertotenlieder" aus der Konserve, vom Plattenspieler. Und auch sechs Teenager aus dem Gewandhaus-Kinderchor sind mit von der Partie, allerdings nicht wirklich szenisch in die Bühnenhandlung eingebaut, was schade ist und sie am Ende zu Dekoration werden lässt.

Schlichtes Bühnenbild voller Leerstellen

Blick auf ein Gerüst, das an ein Haus erinnert. Darin sind mehrere Silhuoetten zu erkennen.
Das Bühnenbild im Leipziger Schauspiel setzt auf Schlichtheit. Bildrechte: Rolf Arnold

Jedenfalls ist das Thema Trauerarbeit der Eltern gleich am Anfang gesetzt: Vor dem Eisernen fragen die vier Menschen ins Publikum, wie man die Frau nennt, wenn der Mann gestorben ist und umgekehrt. Antwort: Witwe und Witwer. Und dann kommt die Frage: Wie nennt man die Eltern, wenn die Kinder gestorben sind? Und da gibt es kein Wort. Eine Leerstelle in der Sprache. Eine Lücke im Leben. Eine Lücke, wie sie die abwesenden Kinder hinterlassen werden. Selbst nach 20, 30 Jahren. Damit beginnt der Abend. Und er endet mit einem A-Capella-Chor. Alle singen gemeinsam das vierte "Kindertotenlied" "Oft denk’ ich, sie sind nur ausgegangen", das sinngemäß davon erzählt, dass die Kinder gar nicht tot sondern erst weggegangen, dann nur vorausgegangen sind, wenn man so will in eine himmlische Ewigkeit. Die Amsel auf dem Baum kann eine Art Botschafterin sein, heißt es ganz am Schluss.

Bühnenbild und Kostüme sind einfach gehalten. Die vier Schauspielerinnen und Schauspieler tragen schwarz. Die sechs Kinder des Chores eher weiße Pastelltöne. Die Bühne ist leer. Man sieht die Technik im schwarzen Raum. Und auf der Drehbühne steht ein Haus, so wie es der Nikolaus ("Ich kenn’ ein Haus vom Nikolaus") zeichnen würde. Es sind nur die Umrisse in weiß zu sehen. Im Haus gibt es ein Klavier, einen Plattenspieler, einen Schreibtisch, wo die Erinnerungen aufgeschrieben und Lücken gefüllt werden. Es gibt, wenn sich die Bühne mit dem Haus dreht, auch eine Terrasse mit zwei Stühlen und einem Tisch. Also alles eher schlicht und zeichenhaft gehalten.

Irritationen am Leipziger Schauspiel

Insgesamt fokussiert sich die Inszenierung auf die Recherchen im Kinderhospiz. Das sind beeindruckende Texte. Gustav Mahler und seine "Kindertotenlieder" gelangen aber ins Hintertreffen. Wenn man kalauern würde, würde man sagen: Hier hat das Schauspiel Leipzig dem Mahler-Festival ein Bärenherz aufgebunden. Dabei bietet Mahlers Musik viel Material, von besagten Alltagsszenen bis zum Sternenhimmel, was links liegen gelassen wird. Was auch nicht aktualisiert wird, oder bei der aktuellen Recherche mitschwingt. Warum nur? Ist es Angst, dass es kitschig wirken könnte? Wäre es zu romantisch?

Junge Menschen in pastellfarbener Kleidung stehen in einer Reihe vor einem hausartigen Gerüst.
Mit auf der Bühne stehen auf Mitglieder des Gewandhauskinderchores. Bildrechte: Rolf Arnold

Regisseurin Konstanze Kappenstein vertraut im Grunde nur ihrer Recherche im Kinderhospiz, lässt aber auch bei dieser Recherche bühnenwirksame Bilder aus. Ein Beispiel: Mir fiel auf, dass viele Eltern vom Urlaub am Meer erzählen, auch Trauerarbeit an der Ostsee leisten. Strand und Meer als eine Art Grenze zwischen Leben zu Tod – so etwas hätte man bedienen können. Es passiert aber nicht. Am Ende fehlt mir bei dieser Theaterabend die Umsetzung mit den Mitteln des Theaters. Die Inszenierung wirkt kühl und ausgedacht, bleibt textlastig in der Form. Dazu wird das ganze Stück auch nur noch, laut Schauspiel-Homepage, ein zweites Mal gespielt.

Ursprünglich wollte der Leipziger Schauspiel-Intendant Enrico Lübbe die Recherche zu den "Kindertotenliedern" selbst inszenieren. Im Spielzeitheft schreibt er: "Wir am Schauspielhaus (erkunden) dasjenige Werk Mahlers, das aus einem der ungewöhnlichsten Gedicht-Zyklen der deutschen Literatur entstanden ist." Das Spielzeitheft verweist auf Lübbes bisherige Inszenierungen, in denen er, oft sehens- und hörenswert, Text und Musik verknüpft hatte. Ich hatte den Eindruck, diese Art von Theater liegt ihm nahe und am Herzen. Warum hat er die "Kindertotenlieder" nun nicht mehr selbst inszeniert? Zeitgründe sollen es gewesen sein, heißt es aus der Presseabteilung des Leipziger Schauspiels. Es hätte sich, schon im Oktober, eine zu aufwändige Recherchearbeit im Kinderhospiz abgezeichnet, von der allerdings im Spielzeitheft noch keine Rede war. Unterm Strich bleiben Fragen offen, warum das hier so anders gekommen ist als gedacht und die Inszenierung jetzt auch so abgetakelt wirkt.

Weitere Informationen "563"
Eine Recherche zu Friedrich Rückerts und Gustav Mahlers "Kindertotenlieder"

Regie: Konstanze Kappenstein
Bühne: Franz Dittrich
Kostüme: Carolin Schmelz
Musikalische Leitung: Philip Frischkorn
Mit: Julia Berke, Thomas Braungardt, Anne Cathrin Buhtz, Johanna Ihrig und Mitgliedern des GewandhausKinderchor Leipzig

Adresse:
Schauspiel Leipzig
Bosestraße 1
04109 Leipzig

Dauer: 75 Minuten, keine Pause

Termine:
17. Mai, 19.30 Uhr

Redaktionelle Bearbeitung: tsa

Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 15. Mai 2023 | 17:10 Uhr