Deutsch-Sorbisches Volkstheater Bautzen Lukas Rietzschels "Widerstand": Ein Schauspiel über die Grenzen der Toleranz

Lukas Rietzschels Schauspiel "Widerstand" ist ein Stück, in dem sich Menschen radikalisieren, in den Widerstand gehen. Am Freitag hatte es am Deutsch-Sorbischen Volkstheater Bautzen Premiere. Einen Abend zuvor debattierte Rietzschel mit seinem Kollegen Uwe Tellkamp in der Dresdner Frauenkirche über die Grenzen der Meinungsfreiheit. Zwei Abende, die zusammengehören, meint unser Kritiker Matthias Schmidt.

Szene Theaterstück "Widerstand", eine Frau und ein Mann stehen rechts und links neben einer geschlossenen Tür
Die einfühlsame Inszenierung weckt Verständnis für die Wut, zeigt aber auch die Grenzen auf. Bildrechte: Miroslaw Nowotny; Deutsch-Sorbisches Volkstheater

Lukas Rietzschels Stück "Widerstand" erzählt von verbitterten Männern, die sich radikalisieren, die in den "Widerstand" gehen, die zu Gewalt greifen. Zunächst jagen sie "denen da oben" mit einer Gewehrattrappe per Post einen Schreck ein. Später will einer von ihnen, Frank, sogar zu echten Waffen greifen.

Am Ende lässt Lukas Rietzschel Isabell, seine Tochter, schließlich sagen: es reicht! Bis dahin ist der Text in keiner Weise belehrend. Im Gegenteil, hier lotet ein Autor die Grenzen der eigenen Toleranzfähigkeit aus. Wann ist sie erreicht? Wann "reicht es"?

Rietzschel und Tellkamp in der Frauenkirche

Genau darum ging es auch am Donnerstag in der Dresdner Frauenkirche, wo Rietzschel mit Uwe Tellkamp über die Grenzen der Meinungsfreiheit debattierte. Tellkamp erhielt von den rund 500 Zuschauern streckenweise viel Beifall: wenn er gegen das Gendern wetterte, wenn er die "Einheitsmeinung" der "Journalunken" kritisierte und dabei gerne (zum Beispiel in den Reimen, mit denen er stur die ersten Fragen des Abends beantwortet) übers Ziel hinausschoss.

Rietzschel hat dabei einiges ausgehalten, er hat in entscheidenden Momenten widersprochen. Aber er hat eben zugehört und betont, dass wir seiner Meinung nach andere Meinungen aushalten sollten, solange sie sich Fakten nicht entziehen. Dass Dialog möglichen bleiben muss, dass Ausgrenzungen und Herabwürdigungen keine Lösung sind.

Dass es die nach dem Abend in der Frauenkirche dennoch gab, etwa im "Fazit" bei Deutschlandfunk Kultur, wo Tellkamps Haltung als "Empörungsfolklore von zu kurz Gekommenen" bezeichnet wurde, zeigt, wie vorbildlich und auch wichtig solche Versuche einer Debatte sind. Denn auch in der Frauenkirche war förmlich zu greifen, dass viele, sehr viele Menschen im Land verunsichert sind, verängstigt, vielleicht sogar wütend. Man sollte das aushalten.

Wenn aus Wut Gewalt wird

Bis zu einem bestimmten Punkt natürlich – und an diese Grenze geht, um es zu verstehen, Rietzschel in seinem Stück. Da wird aus Wut Widerstand, aus Widerstand Gewalt. Die Raffinesse seines großartigen Schauspiels aus der Provinz besteht darin, dass man die späteren Bösewichte zunächst als gute Menschen kennenlernt.

Szene Theaterstück "widerstand", mehrere Menschen stehen vereinzelt auf einer recht leeren Bühne.
Bildrechte: Miroslaw Nowotny; Deutsch-Sorbisches Volkstheater

Vor allem Frank, der – wie gefühlt alle im Dorf – seinen Job verlor, der als Versicherungsvertreter irgendwann niemanden mehr findet, den er noch versichern kann und damit selbst ohne Sicherheit dasteht. Der Sätze sagt, die von Arthur Millers Willy Loman im Dramen-Klassiker "Tod eines Handlungsreisenden" stammen könnten. Und der, nicht zuletzt, so gut er es eben kann, seine sterbende Frau Manuela pflegt. Der bei alldem immer wütender wird, und schließlich bereit ist zu morden.

Bis dahin haben alle Verständnis mit ihm, voran seine Tochter Isabell, die aus Leipzig ins Dorf zurückkommt, die ihm verzeiht, dass er ein Verhältnis hat, die seine Stimmung aufhellt, ihn mit Erinnerungen an "früher" zumindest kurzzeitig zu einem, wenn vielleicht nicht glücklichen, aber doch weniger verbitterten Mann macht. Und irgendwann doch nicht mehr anders kann als zu sagen: es reicht!

Lebensecht mit viel Komik

Jan Jochymski inszeniert den Text unspektakulär (mit Tendenz zu bieder), aber das Prinzip geht auf. Die Bühne ist weit und offen, es gibt nur wenige, die verschiedenen Räume und Orte aber ausreichend andeutende Requisiten. Das Ensemble spielt in naturalistischen Kostümen und ist damit gerade im richtigen Maß dran an der Lebenswirklichkeit der Bautzener Zuschauer. Sie erkennen sich, ohne vorgeführt zu werden. Auf einer Berliner Bühne würden manche sie vielleicht als Karikaturen wahrnehmen, hier sind sie – ganz unironisch – Menschen wie du und ich.

Szene Theaterstück "widerstand", zwei Menschen sitzen nebeneinander
Die Menschen haben ihre eigenen Geschichten, die sie zu dem formen, was sie sind. Bildrechte: Miroslaw Nowotny; Deutsch-Sorbisches Volkstheater

Bevor es gegen Ende lauter und emotionaler wird, kann Jochymski zudem auf die Komik vertrauen, die Rietzschels Stück innewohnt. Die Szenen mit Isabell, Franks Tochter, die in Leipzig Ärztin wurde und nun weder hier noch dort dazugehört, und ihrem Schulkameraden Sebastian gehören zum Komischsten, was die ostdeutsche Gegenwartsdramatik seit Jahrzehnten hervorgebracht hat. Etwa, wenn Sebastian Isabell vorschlägt, den alten Bahnhof auszubauen, und sie ihn fragt, wer da denn wohnen soll. Darauf Sebastian: "Vielleicht werden wir ja mal Speckgürtel!"

Lachen, Wut und Vorurteile

Es darf gelacht werden, und es wird gelacht! Dass auch Wut als Reaktion bereitsteht, klingt zweimal kurz an, wenn einzelne Zuschauer Szenenapplaus versuchen, als Frank und seine Kumpels über die Politik herziehen. Die Wut ist ja da, siehe oben. "Dazwischen sein ist nicht so einfach", hat Rietzschel mal gesagt. In diesem Stück, in dieser gelungenen, stimmungsvollen Inszenierung geht es auf.

Szene Theaterstück 'widerstand', eine Frau steht, ein Mann sitzt auf Eisenbahnschienen
Eisenbahnschwellen stehen in dem Stück für verschiedene Perspektiven von Menschen. Bildrechte: Miroslaw Nowotny; Deutsch-Sorbisches Volkstheater

Und zwar nicht nur, weil das Stück quasi ein Heimspiel ist. Denn natürlich sind die Leipziger, die "Städter" für die Dorfleute ein Feindbild. Leute, die beispielsweise Tische aus alten Eisenbahnschwellen kaufen würden, aber die, die sie herstellen – aus Dingen, die in ihrer Welt als Müll gelten – dennoch als Hinterwäldler beschmunzeln.

Soziales Auseinanderdriften der Gesellschaft

Auch, dass die Inszenierung sehr einfühlsam die Enttäuschungen vieler aus den letzten 30 Jahren beschreibt, passt gut in die Region. Sie zeigt facettenreich das soziale Auseinanderdriften der Gesellschaft, zum Beispiel Stadt und Land oder Dienstleistungsprekariat und Beamte. Aber sie biedert sich dennoch nicht an.

Gerade in Ostsachsen gab es ja immer wieder auch hässliche Bilder vom Protest gegen, ja, alles Mögliche, muss man sagen, und da legt die Inszenierung dann den Finger in die Wunde und sagt, wenn Protest zu gewaltbereitem Widerstand wird: Es reicht! Ein sehr gelungener Balance-Akt, verdientermaßen war der Schlussapplaus groß.

Redaktionelle Bearbeitung: op

Die Aufführung "Widerstand"
Schauspiel von Lukas Rietzschel

Regie: Jan Jochymski

Termine
09.03.2023, 19:30 Uhr | Großes Haus, Hauptbühne
26.03.2023, 15:00 Uhr | Großes Haus, Hauptbühne
14.04.2023, 19:30 Uhr | Großes Haus, Hauptbühne
03.06.2023, 19:30 Uhr | Großes Haus, Hauptbühne

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Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 04. März 2023 | 12:10 Uhr

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