Drei Personen stehen beieinander: Eine Mann mti rotem Umhang, eine Frau in hellblauem Kleid mit weiten Ärmeln und ein Mann mit fellbesetztem Ledermantel.
Im Zentrum des Intrigen Dramas stehen die Herzogin von Amalfi und ihre beiden Brüder. Bildrechte: Nikolai Schmidt

"Malfi" Immersives Theater in Görlitz: Grandioses Eintauchen ins Rachedrama

15. Mai 2023, 15:53 Uhr

Für ihr immersiv genanntes Theatererlebnis "Malfi" hat das Team des Gerhart-Hauptmann-Theaters den Güterbahnhof in Görlitz zu einer begehbaren Kulisse ausgebaut. Ein unglaublicher Kraftakt: als sei das ganze Theater umgezogen in das lange ungenutzte Gebäude. Immer neue Räume öffnen sich dem staunenden Publikum: Salons, Werkstätten, eine Kantine, Büros, eine Taverne mit Bewirtung und Live-Musik und sogar ein Birkenwald mit echtem Teich. Ein begehbares Theaterwunder!

Was bedeutet immersiv? Eigentlich ist es ganz einfach: Statt von einem Sitzplatz aus einem Stück auf einer Bühne zuzuschauen, bewegt man sich völlig frei durch das Gebäude und sucht sich die Handlung selbst zusammen. Durch immer neue Türen und Vorhänge betritt man immer neue Räume. Man kann einen Wandschrank betreten – fast wie in der Buchreihe "Narnia", nur dass man in einer Peepshow wieder herauskommt. Staunend schieben sich rund 300 Menschen durch ein wahres Labyrinth. Allein die Besichtigung dieser spektakulären Ausstattung ist den Besuch wert.

Theater gespielt wird natürlich auch, und zwar – mal mehr, mal weniger – in allen Räumen. Der Schöpfer des Abends, der Görlitzer Intendant Daniel Morgenroth, hat ein dazu Stück von John Webster bearbeitet, ein wenig gespielter später Zeitgenosse Shakespeares. Entsprechend ist diese Tragödie ziemlich komplex und am Ende doch ganz einfach: Eine Herzogin ist frisch verwitwet. Und ihre beiden Brüder wollen um jeden Preis verhindern, dass sie sich wieder verheiratet, um keine Konkurrenz beim Erbe zu bekommen. Im konkreten Fall ist der Preis für alle Beteiligten der Tod. Im Grunde ist "Malfi" ein Stück über eine starke Frau, die gegen den Willen der Männer dennoch liebt, die aufbegehrt und dafür von ihnen getötet wird. Es ist damit nicht nur ein sehr modernes, sondern auch ein fein geschriebenes Stück, die Sprache bildhaft und anspielungsreich, gerne derb, Tendenz zu zotig.

Görlitzer Brache wird zum Intrigenschauplatz

Bevor man in den Räumen auf die Suche danach geht, gibt es vor dem Güterbahnhof eine Art Bedienungsanleitung. Eine Erzählerin stellt die Handlung und die handelnden Personen vor. Wer hier gut aufpasst, kann später, in den zahlreichen Räumen und Kammern und Gängen, dem Stück leichter folgen. Man lernt also anfangs auch den Text etwas kennen. Und der ist, auch wenn er in Görlitz etwas zu schultheaternd deklamiert wird, ein Genuss. Nicht ganz Shakespeare, aber fast.

Mehrere Menschen gehen durch einen Gang. im Fokus des Bildes eine Person in violetter Pagen-Uniform.
In Görlitz können Theater-Interessierte das elisabethanische Drama auf eigene Faust erkunden. Bildrechte: Nikolai Schmidt

Dann geht es hinein ins Getümmel: Anfangs läuft man etwas unsicher, viele Räume sind dunkel, und man weiß ja nicht, wonach man eigentlich sucht. Diese Erfahrung ist faszinierend. Man sieht dem Publikum die Begeisterung über diese Kunst-Welt an.

Auf der Suche nach dem Drama

Spätestens nach einer halben Stunde hat man dann doch das Gefühl, das eigentliche Stück zu verpassen. Wenn man Schreie aus dem Nachbarraum folgt beispielsweise, den wenig später aber leer vorfindet und dafür Dialogfetzen aus einem nächsten Raum hört. Zudem sind offenbar die Insassen eines Irrenhauses ausgebrochen und wuseln und kreischen durch die Szenerie. Kurzum, es ist verwirrend und ein bisschen wie in diesem alten "Pankow"-Song, in dem es heißt: "Ich bin rumgerannt, zu viel rumgerannt. Zu viel rumgerannt, ist doch nichts passiert." In Wahrheit passiert sehr viel, man war nur oft nicht dabei. Die gute Nachricht lautet: das ist immersives Theater und soll so sein und ist gar nicht schlimm.

Denn die Verunsicherung ist Teil des Spiels. Statt der Herzogin, ihren Brüdern oder ihrem Geliebten Antonio begegnet man Mitgliedern einer Wachmannschaft mit dunklen Masken, auf deren Armbinden "Malfi Eisenbahn AG" zu lesen ist. Man fragt sich, warum. Man sucht und sammelt Eindrücke: in einer Gummizelle, in einer Sargtischlerei, in einem Schlafgemach, wo sich der Kardinal, einer der Brüder der Herzogin, an einer Frau vergeht. Abgründe tun sich auf, aber im Laufe des Abends wird das Bild immer runder. Man erhascht ein paar Sätze im Salon der Herzogin. Oder man ist, obwohl man sich nur kurz setzen und ausruhen wollte, zufällig dabei, als sie ermordet wird. Wurde nicht eben ein Sarg aus der Tischlerei geholt? Das heißt, die Lücken füllen sich mit der Zeit.

Eine Frau liegt in einem Sarg. Ein Mann in fellbesetztem Ledermantel beugt sich über sie.
Zur Beerdigung der Herzogin kommt das Görlitzer Publikum wieder zusammen. Bildrechte: Nikolai Schmidt

Großartiges Theatererlebnis in Görlitz

Als die Erzählerin nach knapp zwei Stunden das Publikum zusammenruft – "kommt mit, das Ende naht" – verwandeln sich die vielen überbordenden Details und die beeindruckende Quantität des Abends schließlich vollends in seine große Qualität. Man folgt dem Sarg mit der Herzogin in eine bislang verschlossene Kathedrale und erlebt dort ein furioses Finale. Man spürt es, man sieht es: dass alle Gewerke und Sparten, Schauspieler, Sänger, Tänzer, alles geben für diesen wunderbaren Kraftakt "Theater".

Das tröstet locker darüber hinweg, dass ganz sicher jeder ein paar offene Fragen mit in die Nacht nimmt. In welcher Zeit spielt der Abend eigentlich? Im 19. Jahrhundert? Warum? Warum ergibt sich die starke Herzogin der Männergewalt ohne Gegenwehr? Immerhin ist die die Regentin! Oder ist sie die Prinzipalin der Eisenbahngesellschaft "Malfi"? Richtig nah kommt man weder der Handlung noch den Figuren.

Ein Gruppe Menschen in Anzügen aus dem frühen 20 Jahrhundert schauen nach rechts.
Zu welcher Zeit "Malfi" spielen soll, bleibt unklar. Bildrechte: Nikolai Schmidt

Fazit: manches an dieser Inszenierung hoppelt inhaltlich etwas, und zwar nicht nur, weil man immersiv etwas verpasst hat. Was sie aber alle Male ist: ein grandioses Erlebnis, über das man noch tagelang nachdenken und miteinander sprechen kann.

Weitere Informationen "Malfi"
Immersives Theatererlebnis von Daniel Morgenroth nach John Webster

Regie: Daniel Morgenroth
Bühne: Damian Hitz, André Winkelmann, Daniel Morgenroth
Kostüm: Emma Sophie Hoffmann
Komposition und Musikalische Leitung: Albert Seidl
Choreografie: Dan Pelleg, Marko E. Weigert
Mit: Maria Weber, Philipp Scholz, Jonte Volkmann und andere

Adresse:
Güterbahnhof
Bahnhofstraße 80
02826 Görlitz

Termine:
17. Mai, 19.30 Uhr
18. Mai, 19.30 Uhr
20. Mai, 19.30 Uhr
21. Mai, 19.30 Uhr
27. Mai, 19.30 Uhr
28. Mai, 19.30 Uhr
4. Juni, 19.30 Uhr
6. Juni, 19.30 Uhr
8. Juni, 19.30 Uhr
10. Juni, 19.30 Uhr
13. Juni, 19.30 Uhr

Redaktionelle Bearbeitung: tsa

Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 15. Mai 2023 | 08:40 Uhr