Theaterstück "Alte Sorgen"Staatstheater Meiningen thematisiert Missstände in der Pflege
Die Corona-Pandemie ist verebbt und damit auch die Diskussionen über die prekären Arbeitsbedingungen in der Pflege. Mit der Uraufführung "Alte Sorgen" macht das Staatstheater Meiningen die Missstände wieder zum Thema. Im Fokus: eine Altenpflegerin, die ihren Beruf als Berufung versteht. Genau das wird ihr zum Verhängnis. In der Textvorlage von Maria Milisavljević wechseln sich dramatische und poetische Texte ab. Am 29. Januar hat das Theaterstück Premiere gefeiert. Eine Kritik.
Kathrin ist keine Extremistin. Kathrin ist noch nicht mal unbedingt eine Idealistin. Kathrin ist eigentlich nur eine Frau im richtigen Beruf. Sie ist empathisch, geduldig, kann gut mit Menschen und ist Altenpflegerin. Widersprüchlicherweise wird Kathrin aber genau das – ihre Empathie, dass sie die Heimbewohner nicht als Patienten, sondern Menschen sieht und ein Gefühl dafür hat, wie man mit Alzheimer- oder Demenzerkrankten umgeht – zum Verhängnis. Verkehrte Welt? Nein, Realität.
Ein alter Mensch ist ein besonders schutzbedürftiges Mitglied der Gemeinschaft, ja. In einem Gesundheitssystem, in dem Mitarbeiter angesichts von Personalmangel ständig an der Belastungsgrenze arbeiten, ist ein alter Mensch aber auch ein weiteres belegtes Bett. Unter diesen harten Bedingungen zerreibt sich die Figur Kathrin bei dem Versuch, den alten Menschen einen Abgang in Würde zu ermöglichen, psychisch und physisch. Ihre eigene problematische Beziehung mit der Mutter bleibt unbearbeitet, das Verhältnis zu ihrer Tochter distanziert sich weiter.
"Alte Sorgen": ein vielschichtiges Bild des Pflegeberufs
Maria Milisavljevićs Drama "Alte Sorgen" wurde ursprünglich für das Theater in Münster geschrieben. Nachdem die Corona-Pandemie die dortige Uraufführung verhinderte, hat Schauspieldirektor Frank Behnke das Stück der derzeit vielgespielten Autorin ans Staatstheater Meiningen mitgenommen. Im weiteren Schreibprozess fand die Pandemie auch Eingang in Milisavljevićs Text.
Die Stärke des Stücks liegt darin, dass die Autorin drastische Zustände ohne anklagenden Unterton beschreibt. Der Text ist keine frontale Gesellschaftskritik. Vielmehr liefert Milisavljević ein vielschichtiges Bild des Pflegeberufs, in dem sie sich nicht nur aus dokumentarischer Perspektive nähert. Dramatische Texte wechseln sich mit lyrischen und poetischen ab. Die große Kunst dabei ist, dass der Ton weder ins Kitschige, noch ins Sentimentale abdriftet.
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Regisseurin Stiepani schafft ein stimmiges Gesamtkunstwerk
Für die Regie hat sich das Meininger Staatstheater die Nachwuchsregisseurin Anna Stiepani ans Haus geholt. Eine gute Entscheidung. Stiepani, die vorher unter anderem am Bochumer Schauspielhaus gearbeitet hat, weiß mit diesem anspruchsvollen Genre-Mix umzugehen. Sie hat ein gutes Gespür für die ungewöhnlichen Gangarten des Stücks. So tauchen neben Geistern auch mehrere allegorische Figuren – Luft, Nebel, Schatten – auf. Die märchenhaften Elemente bringen auch mal Komik mit sich, wirken aber nie albern oder gar naiv. Im Gegenteil: Erst mit Hilfe dieser, einer anderen Welt entnommenen Wesen, gelingt es, die amorphe Struktur der zentralen Themen abzubilden: Altern, Endlichkeit, Sterben und Tod – allesamt mystische Vorgänge, weil sie für uns letztlich unbegreiflich bleiben.
Stiepani inszeniert fantasievoll und mit Hingabe für jedes kleinste Detail. Im Zusammenspiel mit dem eindrucksvollen Bühnenbild von Thurid Peine aus riesiger Spiegelwand und Bodenbemalung, das in der Lage ist, Welten zwischen den Welten zu kreieren, entsteht ein stimmiges Gesamtkunstwerk.
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Gestresst, erschöpft: Authentische Darstellung des Pflegeberufs
Die Figur Kathrin bleibt ihren Prinzipien treu, auch wenn sie sich dafür immer wieder den harschen Zurechtweisungen der Pflegeleiterin stellen muss. Erträgt es stur für die Sache. Evelyn Fuchs als Kathrin, mit stressverzehrtem Gesicht, gehetztem Gang, und ständig außer Puste, überträgt die Anspannung und Erschöpfung der Figur bis in die letzten Zuschauerreihen, lässt die wunden, vom Desinfektionsmittel entzündeten Fingerkuppen vorstellbar werden.
Dazu der Kontrast: Im Kontakt mit den Heimbewohnerinnen und -bewohnern wandelt sich ihr Gesicht ganz plötzlich in einen Ausdruck liebevoller Milde. Selbst körperliche Attacken, als Folge von Orientierungslosigkeit und geistiger Verwirrung, lastet sie den alten Menschen nicht an. Eine beeindruckende Haltung, die Evelyn Fuchs als Kathrin glaubwürdig darstellt.
Autorin Maria Milisavljević schreibt im Untertitel des Stücks "gedacht entlang Georg Büchners Woyzeck". Und tatsächlich kann die Figur der Kathrin und ihr innerer Kampf zwischen Selbstaufopferung und Selbstschutz für einen Woyzeck des 21. Jahrhunderts stehen. Ein weiblicher Woyzeck, aus junger, weiblicher Sicht auf die Bühne gebracht. "Alte Sorgen" ist eine Produktion mit der das Staatstheater Meiningen Perspektiven erweitert.
Mehr Informationen"Alte Sorgen"
Uraufführung
von Maria Milisavljević
Staatstheater Meiningen
Regie: Anna Stiepani
Bühne, Kostüme: Thurid Peine
Dramaturgie: Olaf Roth
Weitere Aufführungen:
Dienstag, 31. Januar 2023, 19:30 Uhr
Sonntag, 5. Februar 2023, 19 Uhr
Freitag, 24. Februar 2023, 19:30 Uhr
Samstag, 4. März 2023, 19:30 Uhr
Freitag, 17. März 2023, 19:30 Uhr
Freitag, 14. April 2023, 19:30 Uhr
Mittwoch, 24. Mai 2023, 19:30 Uhr
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Dieses Thema im Programm:MDR KULTUR - Das Radio | 30. Januar 2023 | 10:15 Uhr