Eine Frau mit roten Haaren, im Hintergrund eine Menschenmenge.
Otello an der Oper Leipzig: Desdemona spielt mit feuerroten, lockigen Haaren die Hauptrolle in der Inszenierung. Bildrechte: Ida Zenna

Opernkritik Comeback nach 50 Jahren: Verdis "Otello" an der Oper Leipzig

18. Dezember 2022, 16:42 Uhr

Verdis "Otello" wurde an der Oper Leipzig 50 Jahre lang nicht gespielt. Nun hat die italienische Tragödie in Leipzig wieder Premiere gefeiert. In der Inszenierung von Monique Wagemakers ist es keine Geschichte aus alter Zeit, sondern hochaktuell: Mit Desdemona steht eine Frau im Zentrum der Oper – und damit auch ein Femizid in einer Welt voll toxischer Männlichkeit. Es ist am Ende auch ihr Gesang, der unseren Kritiker bei der Premiere zum Taschentuch greifen lässt.

In der Leipziger Lesart müsste das Stück wohl "Desdemona" heißen. Sie hat hier einen gesprochenen Prolog, steht inmitten einer grauen Masse Chorvolk mit weißem Kleid und feuerroten, lockigen Haaren. Sie könnte auch Lulu, Carmen oder Ophelia heißen. Ihre Botschaft: Ich spiele keine Rolle mehr; Kirche und Gesellschaft sagen mir nicht mehr, wo's langgeht; ich steige aus! Und genau das tut sie dann am Ende der Oper: auferstanden von den Toten, auferstanden aus den Ruinen einer alten Welt und der Zukunft zugewandt. Die liegt hier jenseits der Bühne. Auf dem Weg dahin fällt der Vorhang.

Otello: Hauptrolle in der Leipziger Inszenierung spielt eine Frau

Genau zwischen Prolog und Auferstehung liegt auch ihr größter Auftritt. Inmitten von Kindern, Matrosen, Frauen, die alle mit Blumen gekommen sind. Desdemona steht erhöht in der Bühnenmitte und wird vom Volk angehimmelt. Eine Mischung aus Madonna und Statue of Liberty. Doch das Ende dieser Szene will dazu nicht passen, wie sie da vom Sockel steigt, wie ihr Sternenkranz zuerst dilettantisch abmontiert wird, und wie sie dann vom wackligen Holztritt herunterstöckelt. Zwei Dinge werden klar: Es geht in dieser Inszenierung weniger um die hier erzählte Geschichte, sondern mehr um die Dekonstruktion einer überkommenen Welt.

Die neue Welt bedeutet den modernen Menschen. Jago ist es hier. Er ist nicht nur Intrigant weil Bösewicht, sondern vielmehr einer, der in seiner großen Erklärungsarie Gott für tot erklärt, wie es Nietzsche und Freud zur selben Zeit tun. Jago, der Offizier niederen Ranges, will hier nicht Karriere machen und an die Stelle von Otello treten und strickt dazu seine Intrige – nein, er führt uns Zuschauern und -hörern vor, wie wacklig die alte Welt ist, so wacklig wie der Tritt, und wie leicht sie jetzt aus den Fugen fällt. Jago ist quasi der Regisseur des Abends. Dazu passt die Shakespearebühne, die hier ein Theater auf dem Theater vorstellt. Jago spielt in dieser Inszenierung nach Desdemona die zweite Hauptrolle.

Verdis Musik zwischen bombastischen Großauftritten und zarter Kammermusik

Das ist umso tragischer für Otello, der auf die Intrige reinfällt, aber hier auch einer ist, der aus den Rollen der alten Welt nicht herausfindet. Bei Shakespeare ist er ein Maure aus königlichem Geblüt, also ein islamisierter Nordafrikaner, der erst versklavt und dann befreit wird und in Venedig zum großen Feldherren aufsteigt. Gerade eben noch hat er gegen die Türken gesiegt.

Hier setzt bei Verdi die Handlung ein: bombastischer Großauftritt wie "Aida"-Triumphmarsch und "Holländer"-Ouvertüre zusammengefügt. Verdi reizt die musikalischen Möglichkeiten des 19. Jahrhunderts voll aus. Mehr geht nicht. Danach wird's modern. Eine Musik, eine Kunst des Übergangs.

Otello und Desdemona streiten sich.
An der Oper Leipzig agiert Otello blindwütig und misstraut allen – hier Desdemona. Bildrechte: Ida Zenna

Femizid in einer Welt voll toxischer Männlichkeit

Auf der erzählten Ebene ist Otello der Platzhirsch, dem die Kräfte schwinden. Potentielle Nachfolger scharren schon mit den Hufen. Otello misstraut allen. Vor allem, und das ist das Problem, sich selbst. Er steigert sich rein. Nimmt die von Jago geschickt platzierten Fake-News für Wahrheit. Erkennt die Zusammenhänge nicht mehr. Agiert blindwütig.

Zum Opfer fällt ihm seine Gattin Desdemona, die eigentlich eine Seelenverwandte ist. Deswegen hatten sie ja auch den Ehebund geschlossen. Desdemona liebt Otello, der so viel Unglück erfahren hat. Otello liebt Desdemona, die so viel Mitleid mit ihm hat. Das singen beide uns ganz klar vor. Der Lateiner würde sagen: Es ist zwischen den beiden mehr Caritas, also Verehrung und Nächstenliebe, als Cupiditas, was Begierde, Lust und Verlangen bedeutet. Eine Gemeinsamkeit auch ihr beider Wunsch: Hinaus ins Freie! Ich mit dir, du mit mir.

Schauspiel und Gesang, Inszenierung und Musik gehen Hand in Hand

An den drei Hauptfiguren Desdemona, Jago und Otello verhandelt Regisseurin Monique Wagemakers die Ebene jenseits der Bühnenhandlung, für die Verdis Musik wiederum die Quelle ist: besagte Übergangsmusik. Das ist großartig von der Regisseurin herausgearbeitet. Sie erteilt einer naturalistischen Erzählung eine klare Absage, setzt auf Zeichen, auf Struktur, auf die Figuren, die sich als Sängerdarsteller präsentieren. Schauspiel und Gesang, Inszenierung und Musik gehen Hand in Hand.

Aufritt von Cassio, um den herum Menschen rennen.
Bei Verdis "Otello" an der Oper Leipzig gehen Schauspiel und Gesang Hand in Hand. Bildrechte: Kirsten Nijhof

Christoph Gedschold dirigiert analytisch und präzise, und betont damit diese Metahandlung. Taucht dann für den Moment auch wieder in die Handlung ein; malt einerseits mit breitem Pinsel und krassen Farben das große Kriegs- und Schlachtenpanorama, andererseits wärmt er uns das Herz mit zarten kammermusikalischen Streichertönen.

Die Musik, die die Handlung nicht nur illustrativ ausmalt, sondern psychologisch grundiert, ist hier auf den Punkt gebracht [...]. Chapeau!

Stefan Petraschewsky, MDR KULTUR-Theaterkritiker

Dreimal küssen sich Otello und Desdemona. Gedschold deutet es uns vom Echo her wie eine schöne Erinnerung, als schmerzlichen Abschied, zuletzt ganz fahl als leere Geste, weil die Zeit schon darübergegangen ist. Das Gewandhausorchester ist dabei immer bestens aufgelegt, auch der Chor, der Zusatz- und Kinderchor. Die Musik, die die Handlung nicht nur illustrativ ausmalt, sondern psychologisch grundiert, ist hier auf den Punkt gebracht, kommt hier exemplarisch zur Geltung. Chapeau!

Fantastische Stimmen, die zu Tränen rühren

Auch die Sänger sind fantastisch gecastet. Stimme und Statur passen zur Rolle wie die Faust aufs Auge: Jago (Vladislav Sulimsky) mit klarem, schnörkellosen Bariton, der immer textverständlich ist und auch darstellerisch mit präzisem Spiel punktet; Otello (Xavier Moreno), der stimmlich Großes wagt und den Platzhirsch noch behaupten kann, und dabei in Ton, Stil und Geste der alten Welt verhaftet bleibt; die jugendliche Desdemona (Julia Maria Dan), die einen vollen, warmen Sopran und perfekte leise Töne hat, die mich beim finalen Barbara-Lied samt Gebet zum Taschentuch greifen lassen, so schön ist das.

Ein Paar umarmt sich, beobachtet von einem riesigen auf die Bühne projiziertem Gesicht.
Große Gefühle: An der Oper Leipzig kommen bei "Otello" Videos zum Einsatz, die auf Gesichter zoomen – manchmal ist das zu illustrativ und stört. Bildrechte: Ida Zenna

Apropos Taschentuch. Der Stein des Anstoßes auf der Handlungsebene. Von Otello Desdemona als Liebespfand gegeben, taucht es beim Nebenbuhler Cassio auf. Hier fällt das Tuch vervielfacht, als Regen aus dem Schnürboden, oder umschließt als Vorhang ein Bett und erinnert dabei an eine weiße Kaaba, wenn es von den Männern umschlichen wird. Im Finale reicht ein Riesen-Taschentuch-Vorhang sogar in den Bühnenhimmel und fällt auf den Boden, als Otello und Desdemona endlich Schluss machen.

Am Ende darf man hier wohl auch das Bettlaken mitdenken, das mit Blutfleck nach der Hochzeitsnacht in Italien über den Balkonen hängt. Dirk Becker (Bühne) und Andrea Schmidt-Futterer (Kostüme) zeigen eine betont zeitlose, sich zurückhaltende Welt, die gut funktioniert und eigene Gedanken zulässt. Dazu kommt eine Videoebene, die auf Gesichter zoomt und damit Gefühle größer macht, diese aber immer auch als Rolle und Projektion vorstellt – manchmal wird diese Videoebene zu illustrativ und stört ein bisschen. Schwamm drüber.

Desdemona und Otello liegen auf dem Boden, hinter ihnen ein riesiger weißer Vorhang
Was in der Shakespeare-Vorlage als ein Taschentuch beginnt, wird an der Oper Leipzig zu einem riesigen weißen Vorhang verwandelt. Bildrechte: Kirsten Nijhof

Oper Leipzig versetzt Otello gelungen in die Gegenwart

Nachdem "Otello" in Leipzig 50 Jahre lang nicht gespielt wurde, ist es hier ein großer Wurf geworden. In dieser analytischen Klarheit, mit dem Fokus auf die Personen und ihre Rollen in der Gesellschaft, ist es nicht nur eine tragische Geschichte aus alter Zeit, sondern geht uns auch heute an. In der Intendanz Tobias Wolff wird auch ein übergreifender, dramaturgischer Ansatz deutlich. Die erste Premiere seiner Intendanz galt Undine, dem Naturwesen, die Mensch und damit beseelt werden will. Mit Desdemona steht wieder eine Frau im Zentrum, und damit auch ein Femizid in einer Welt voll toxischer Männlichkeit.

Angaben zum Stück

Giuseppe Verdi: Otello
Dramma lirico in vier Akten
Libretto von Arrigo Boito, nach der Tragödie "Othello" von William Shakespeare
In italienischer Sprache mit deutschen Übertiteln

Oper Leipzig
Augustusplatz 12
04109 Leipzig

Musikalische Leitung: Christoph Gedschold
Inszenierung: Monique Wagemakers
Bühne: Dirk Becker
Kostüme: Andrea Schmidt-Futterer
Video: Philipp Ludwig Stangl
Dramaturgie: Kara McKechnie
Lichtdesign: Cor van den Brink
Choreinstudierung: Thomas Eitler-de Lint
Chor: Chor der Oper Leipzig
Kinderchor: Kinderchor der Oper Leipzig
Zusatzchor: Zusatzchor der Oper Leipzig
Komparserie: Komparserie der Oper Leipzig
Orchester: Gewandhausorchester

Besetzung
Otello: Xavier Moreno
Jago: Vladislav Sulimsky
Cassio: Sven Hjörleifsson / Matthias Stier
Rodrigo: Dan Karlström / Alvaro Zambrano
Lodovico: Randall Jakobsh
Montano: Joan Vincent Hoppe
Desdemona: Iulia Maria Dan / Kiandra Howarth
Emilia: Ulrike Schneider
Ein Herold: Vincent Turregano / Kwangmin Seo

Vorstellungen:
21. Dezember 2022, 19:30 Uhr
4. Januar 2023, 19:30 Uhr
8. Januar 2023, 17:00 Uhr
13. Januar 2023, 19:30 Uhr
28. Januar 2023, 19 Uhr
25. Februar 2023, 19 Uhr
10. März 2023, 19 Uhr
18. März 2023, 19 Uhr

Redaktionelle Bearbeitung: Valentina Prljic

Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 19. Dezember 2022 | 08:40 Uhr