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Eine dystopische Vision: Wie sähe die Welt aus, wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte? Bildrechte: Sebastian Hoppe

KritikBestseller "Vaterland" auf der Theaterbühne: Was wäre, wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte?

von MDR KULTUR-Theaterredakteur Stefan Petraschewsky

Stand: 28. Februar 2023, 11:28 Uhr

Mit seinem Roman "Vaterland" landete Robert Harris Anfang der 90er-Jahre einen internationalen Erfolg. Es ist eine Kriminalgeschichte vor dem fiktiven Hintergrund, Hitler hätte den Zweiten Weltkrieg gewonnen. Nun kommt die Geschichte am Staatsschauspiel Dresden auf die Theaterbühne. Die Inszenierung fokussiert auf die Frage: Was wird aus dem Menschen in der Diktatur? Kann er sich seine Menschlichkeit bewahren? Ein sehenswerter Abend, findet unser Kritiker.

Das Setting im Roman "Vaterland" des britischen Schriftstellers Robert Harris ist ausgefuchst: Nazideutschland hat den Krieg gewonnen, ist Atommacht auf Augenhöhe der USA; der Sowjetstaat ist bis zum Ural zurückgedrängt. Berlin ist nach den Plänen Speers gigantomanisch umgebaut; zum 75. Geburtstag Hitlers, im April 1964, hat sich der US-Präsident für einen Besuch angekündigt, um den Kalten Krieg zu beenden. Entscheidend aber: Die Vernichtung von elf Millionen Juden ist in Deutschland immer noch Geheimsache.

Die Kostüme für die Aufführung hat Vanessa Rust gestaltet. Bildrechte: Sebastian Hoppe

Ermordete Mörder

In diesem Setting sterben zunächst peu à peu die ehemaligen Teilnehmer der Wannseekonferenz, die die "Endlösung der Judenfrage" organisiert hatten, eines unnatürliches Todes. Hier kommt Xaver März ins Spiel, Kripokommissar und SS-Sturmbannführer, der den jüngsten dieser Morde aufklären soll. Zusammen mit der amerikanischen Journalistin Charlotte Maguire rollt er den Fall, und damit auch die anderen Fälle, auf.

Es gelingt ihnen am Ende, gegen erhebliche Widerstände der Gestapo. Ein Protokoll der Wannseekonferenz, das den Genozid beweist, wird von Charlotte in die Schweiz gerettet. März fährt am Ende nach Auschwitz. Das KZ ist abgerissen, renaturiert, nach dem Motto: Was nicht da ist, hat es nie gegeben. Aber unterm Gras, das über die Sache gewachsen ist, findet März noch hunderte alte Ziegel.

Warum dieser Roman gerade jetzt auf der Bühne?

Das Staatsschauspiel hat diesen Roman mit dem Titel "Vaterland" auf den Spielplan gesetzt. Warum? Als "spekulativen Schrecken", wie es eine Überschrift im Programmheft nahelegt? Was wäre denn so schrecklich? Und für uns heute auf der Bühne relevant? Der Krimi? Ein System, das mit Propaganda und Gehirnwäsche einer Elite unfassbare Macht gibt?

Die Videoprojektionen erweitern bei der Inszenierung am Staatsschauspiel Dresden den Handlungsspielraum. Bildrechte: Sebastian Hoppe

Soll sich das Publikum gruseln, wie es wäre, wenn Nationale und Sozialisten, die am Freitag nach der Premiere in Dresden und am Samstag in Berlin auf die Straße gehen, neu zusammenfänden? Und das alles vor der offensichtlichen Russland-Parallelität – Putins 75. Geburtstag 2027; Russland geht bis zum Rhein und so?!

Zynismus, bewusst billiger Spaß, Völlerei

Regisseurin Claudia Bauer fokussiert in ihrer Inszenierung auf den Menschen: was aus ihm in so einem System wird, wie er sich einrichtet, und was schließlich die Ungeheuerlichkeit des Holocaust bedeutet, wenn er seiner gewahr wird. Im ersten Teil vor der Pause ist das wie mit dem dicken Pinsel aufgetragen. Lubitschs "Sein oder Nichtsein", Chaplins "großer Diktator", Heiner Müllers legendäre BE-Inszenierung "Arturo Ui" stehen Pate.

Bauer gibt den Schauspielern freien Lauf. Ahmad Mesgarha zeigt eine Stadtführerin, die bzw. der – eingedeutscht – jetzt "Achim" heißt. Arthur Nebe (Tilo Krügel), der Kripochef Berlins, singt "Guten Abend, gut’ Nacht" und betont damit den Zyniker. Max Jäger (Betty Freudenberg), der Kripokollege an März’ Seite ist fett geworden von Bier und Bratwurst. Zynismus, billiger Spaß, Völlerei als Überlebensstrategie in einem System, in dem die Masse Mensch ansonsten uniforme Puppenmaske trägt: blondes Haar, blaue Augen. Mit dem zitierten Volkslied gesprochen: Morgen früh, wenn der Führer will, wirst Du wieder geweckt. Träum schön, fühl dich eingelullt.

Publikum wird zum Mitspieler

Nach der Pause bleibt der Eiserne Vorhang zu. Wir dürfen ihn wörtlich nehmen, denn März tritt durch eine kleine Tür auf die Vorbühne, hat ein weißrosa Tutu überm Arm, in der anderen Hand eine Toblerone, von der er sich ein erstes Stück in den Mund stopft, um sie dann ins Publikum weiterzureichen. Hier in der Schweiz, wo alles so luftig und leicht ist wie das neue Kostüm, werden wir als Publikum also zu Mitspielern. "Wir wollen frei sein wie die Väter waren", hatte Schiller passend gedichtet.

Aber diese Freiheit hält nur bis zum Auftritt der Bankdirektors. Mit Tutu und Zylinder sieht er zunächst auch ganz lustig aus; auch hier ist es wieder ein schauspielerisches Kabinettstückchen, diesmal von Marin Blülle, wie so oft in dieser Inszenierung, dann aber ein bitteres Ende. "Wenn der Schlachtenqualm sich verzieht, werden die Banken in den schweizerischen Kantonen immer noch stehen!" Dieser Glaubensbekenntnis ist so vehement vorgetragen, dass es nach einem Hitler in Schweizer Mundart klingt.

Szene aus "Vaterland" am Staatsschauspiel Dresden: Der Bankdirektor mit rosa Tutu und Zylinder Bildrechte: Sebastian Hoppe

Schauspielerische Kabinettstückchen

Dann sind wir zurück in Großdeutschland, der Eiserne ist wieder offen, die vierte Wand umso mehr da. Das Holocaustthema wird mit Goethe eingeleitet. Nebe rezitiert: "Über allen Gipfeln ist Ruh’, in allen Gipfeln spürest du kaum einen Hauch; die Vögelein schweigen im Walde. Warte nur! Balde ruhest du auch." Wir könnten jetzt auf dem Ettersberg sein, wo das KZ Buchenwald stand – Goethe war mehrfach hier, deutsche Hochkultur neben dem absoluten Tiefpunkt. Adorno schrieb, dass es barbarisch wäre, nach Auschwitz noch ein Gedicht zu schreiben.

Während März und Charlotte aus den geheimen Dokumenten zitieren, die den Holocaust als Tatsache belegen, spielt Thomas Mahn, der dem Abend eine durchgehende Live-Soundspur gibt, Beethovens Mondscheinsonate. Und danach etwas, das nach Bach klingt. Hochkultur und Barbarei.

Das Theaterstück "Vaterland" am Staatsschauspiel Dresden stellt auch die Frage: Wie kann man im Unmenschlichen ein Mensch bleiben? Bildrechte: Sebastian Hoppe

Freundschaft, Vertrauen, Verrat

Und der Mensch, März vor allem, der sich in eine Art Blut-Schweiß-Tränen-Modus spielt. Claudia Bauer hat März mit einer Frau, Nadja Stübiger, besetzt. Sie zeigt uns im ersten Teil auf beeindruckende, wohltuend unausgestellte Weise das, was im System nicht mehr vorgesehen ist: den Mensch im Menschen. Nach dem Holocaust-Teil wird es bei ihr aber, die ansonsten grandios spielt, ein bisschen zu viel, zu ausgewalzt vor allem. Nebe, Tilo Krügel, und Charlotte, auch ein Mann: Yassin Trabelsi, kriegen diesen Balanceakt besser hin.

Andererseits: Hier, am Ende, geht es ja auch ums Eingemachte, um Freundschaft, Vertrauen, Verrat. Zugespitzt auf diese vier Personen: März und Jäger, Nebe und Charlotte. Wie will man das adäquat spielen, wie adäquat kritisieren?

Das schwarze Herz Deutschlands

Und es gibt eine fünfte Hauptrolle. Das ist ein großer, schwarzer Würfel, der auf der leeren Drehbühne steht, funktional und mit Liebe zum Detail gebaut von Bühnenbildner Andreas Auerbach. Claudia Bauer nennt ihn "Das schwarze Herz Deutschlands". Es ist Kaaba, Gral, und diese Geschichte: Es war einmal ein Wald. Ein deutscher Wald. Alles war gut. Dann wurde er zu Nutzholz verarbeitet. Bretter, schwarz lasiert, sind zum Würfel geworden. Zum Lebensraum für Menschen und Unmenschen. Wohnzimmer mit Biedermeiertapete und Geweih an der Wand. Ein Fernseher, eine Propagandamaschine für die Welt da draußen. Ein Aktenschrank, um Daten zu sammeln, die die Bewohner dann manipulierbar machen. Wenn das nicht hilft: eine Folterkammer.

Ein schwarzer Kubus dominiert das Bühnenbild der Dresdner Inszenierung "Vaterland". Bildrechte: Sebastian Hoppe

Das Innerste, das dieses Großdeutschland zusammenhält, wird per Video nach außen projiziert. Und die, die da reingehen, und sich noch ein bisschen Menschlichkeit bewahrt haben, kommen wieder raus und können nur noch kotzen.

Handwerklich und ästhetisch toll gemacht

In einem Epilog, der noch einmal den deutschen Wald beschwört, schießt Jäger März tot. Es sind sprechende Namen: Der Jäger im Wald und der Frühling, der nicht mehr kommt. März hat vorher noch einen ersten Ziegelstein gefunden. Er kann es niemandem erzählen. Die Hoffnung ruht auf der Schweiz.

Nach drei Stunden Aufführungsdauer ist der Spuk zu Ende. Es ist schwere Kost, die handwerklich und ästhetisch toll gemacht, erst unterhaltsam, dann eindringlich aufgetischt wird. Parallelen ins Heute liegen auf der Hand. Man muss sie nicht ausstellen, das wäre Eulen nach Athen zu tragen. Eine kluge Regie also. Und ein sehenswerter Abend! Winziges Manko: Ein, zwei Proben mehr für den Feinschliff am Rhythmus im zweiten Teil hätten gut getan. Vor allem Nadja Stübiger muss das jetzt ausbaden.

Redaktionelle Bearbeitung: op

Die Aufführung

"Vaterland"
Von Robert Harris

Regie: Claudia Bauer
Bühne: Andreas Auerbach
Kostüme: Vanessa Rust
Komposition und Sounddesign: Robert Lippok
Video: Jan Isaak Voges
Musikalische Einstudierung: Thomas Mahn
Licht: Peter Lorenz
Dramaturgie: Lüder Wilcke

Mit Nadja Stübiger, Kaya Loewe, Ahmad Mesgarha, Marin Blülle, Betty Freudenberg, Viktor Tremmel, Yassin Trabelsi, Tilo Krügel, Torsten Ranft, Julius Günzel, Christian Rabending, Thomas Mahn.

Nächste Aufführungen:
10. März, 19:30 Uhr
7. April, 19:30 Uhr
22. April, 19:30 Uhr

Theater und Kultur in Dresden

Dieses Thema im Programm:MDR KULTUR - Das Radio | 24. Februar 2023 | 16:10 Uhr