Kritik Schillers "Räuber" in Weimar – eine Sternstunde der Schauspielkunst
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Am Freitagabend, 17. Juni, feierte Schillers Erstling "Die Räuber" als Open-Air-Sommertheater am Deutschen Nationaltheater in Weimar Premiere. Die Regie von Jan Neumann und das Ensemble sind herausragend, findet unser begeisterter Kritiker und empfiehlt den Besuch des Theaterstücks dringendst. Auch das Publikum feierte die Premiere mit Standing Ovations.

Das Deutsche Nationaltheater Weimar zeigt "Die Räuber" nach Friedrich Schiller auf der Sommer-Open-Air-Bühne am E-Werk. Es kommt selten vor, dass sich ein Publikum am Ende mit Standing Ovations bedankt, in der Regie von Jan Neumann war es so. Und es ist auch ein großes Theaterereignis: so viel Spiel; so viel Körperlichkeit; die Schauspieler in jeder Sekunde immer so in ihrer Rolle, dass die Schillertexte strahlen können, wie ich es selten erlebt habe.
Uraufführung 1782 war wie in "einem Irrenhause"
Zur Uraufführung des Klassikers 1782 in Mannheim glich das Publikum in seinen Reaktionen "einem Irrenhause", schreibt ein Augenzeuge. Aus diesem "Chaos" sei "eine neue Schöpfung" hervorgebrochen. Eine Sternstunde der Theaterkunst also.
Selten kam eine Inszenierung, meiner Meinung nach, so nah an dieses Original heran. Und ich habe schon Castorfs Wende-"Räuber" an der Volksbühne und die ebenfalls grandiose Operninszenierung von Volker Lösch am DNT gesehen. Diese "Räuber" jetzt sind definitiv eine Reise wert und gehören dringend das nächste Jahrzehnt ins Repertoire.
Selten kam eine Inszenierung, meiner Meinung nach, so nah an dieses Original heran.
Weimarer Inszenierug erinnert an Trump und Lost Places
Der Beginn erinnert an Donald Trumps Wahlkampfauftritte. Zuschauertribüne auf dem Rollfeld; spektakulärer Hollywoodsound; eine Bühne à la MAGA (Make America Great Again) in Knallrot. Hier steht das M für Moor, wobei Graf von Moor (Sebastian Kowski) zu seinem ersten Auftritt gleich mal Synonyme wie "Mut, markant, motiviert, modern …" rausholt. Managersprech im Nadelstreifenanzug (Kostüme: Nini von Selzam).
Der Graf kommt auch nicht in einer Boeing angeflogen, sondern mit schicker, schwarzer E-Luxuslimousine angerollt. Statt Flugplatz ist es hier auch eine abgetakelte Fabrik – Lost Place also mit großartigem Blick in die Tiefe auf Wiese und Waldesrand am Ufer der Ilm.
Bühnenbild und Musik schaffen emotionale Räume und Interpretationen
Natur und verlorenes Industriezeitalter; komplementäres Kapitalismusrot gegen die grüne Natur – mit wenigen Strichen malen Regie und Bühne (Oliver Helf) einen Raum, der Schillers Spielorte und seine Zeitkritik gleichsam aufnimmt, markiert, interpretiert, aber dann viel Platz für Emotion und Figuren lässt, die sich dann entwickeln und in den Vordergrund spielen können.
Unterstützt wird dieses klug zurückgenommene Bühnenbild noch von der Musik. Johannes Winde sitzt am Soundcomputer, der in einem Konzertflügel versteckt ist. Indem er die "schöne blaue Donau" anklingen lässt, erzählt die Musik einen realen Ort für die Räuber, die durch Böhmen und die angrenzenden Lande marodieren. Aber Musik, das sind vor allem emotionale Räume, die Gefühle und Stimmungen bedienen, wenn Franz sich z. B. direkt an die Musik wendet, die zu seinem Text "mal was gruseliges" spielen soll – schließlich sei er hier ja der Böse.
Darsteller dirigiert die Musik – und wird von ihr geschlagen
Das mit der Musik ist übrigens ein schönes Detail. Wie Franz (exzellent: Nahuel Häfliger) sich mit ihr in Szene setzt. Sich als Figur vorstellt: im Anzug wie der Papa; immer auf Eigennutz bedacht, rhetorisch brillant und einer, der über Leichen geht. Franz spricht immer ins Publikum. Um sich und sein Tun zu erklären fordert den Musiker dabei immer wieder auf, den dazu passenden Ton zu finden, unterschwellig auch Stimmung zu machen. Musik, die er dann wie ein tyrannischer Dirigent, brutal abschlägt. Musik aus! Wenn’s nicht mehr gebraucht wird.
Am Ende dreht sich der Spieß um. Die Musik als Orgel setzt den Schlussakkord, löst in Harmonie auf, was für Franz der Selbstmord ist. So ein Detail, wie sich die Musik hier emanzipiert, sich damit letztendlich freispielt – da ist Regiekunst und wirkliche Meisterschaft.
DNT Weimar zeigt Sternstunde der Schauspielkunst
Fantastisch auch der Monolog, den Franz mitten im Publikum spielt, weil ihm der Vater zu lange lebt. Wie Franz die Affekte Zorn, Neid, Sorge, Hoffnung direkt aus den Zuschauern herauskitzelt, das ist – ich wiederhole mich – eine Sternstunde der Schauspielkunst!
Karl (ebenso exzellent: Krunoslav Šebrek) ist der Erstgeborene, der sich zum Studium in Leipzig wie ein französischer Filmschauspieler an der Croisette fühlt und das weiße Hemd zum schwarzen Anzug fast bis zum Bauchnabel offen trägt. Im Grunde genommen sind sich die Brüder im Anzug irgendwie auch innerlich gleich: die nächste Generation, die das Ableben der Elterngeneration herbeisehnt.
Am Ende werden die Brüder in der E-Limousine gemeinsam gen Zukunft fahren: ein offenes Ende also, kein selbstloser Gedanke am Ende, vielleicht eher das Gegenteil: Medwedew darf jetzt auch mal ran. Die Yacht liegt am Kai in Dubai. Aber zuvor erleben wir in Karl’s Szenen wieder – ich wiederhole mich – eine Sternstunde der Schauspielkunst!
Meisterhafte Regie von Jan Neumann
Da ist die Liebesszene mit Amalia (exzellent trotz Reitunfalls und mit elegantem Stock obendrein fast eine tolle Regieidee für die Figur: Rosa Falkenhagen) – da ist also die Liebeszene, die Regisseur Jan Neumann einfach stehen lässt ohne das, was im Film eine Abblende genannt würde. Er lässt sie bis in die nächste Szene hinein stehen, wo sie sich wunderbar auflösen wird im Räubergetümmel.
Die Regiemeisterschaft Neumanns besteht in zwei Dingen. Zum einen in der Arbeit an den jeweiligen Rollen. Da zeigt er ein sicheres Gespür für ein Spiel, dass vor allem der Rolle dient und uns die jeweilige Figur glaubwürdig vorstellt.
Was gerne ins Extrem getrieben wird. Das funktioniert bei fränkischer Heimaterde ebenso wie bei der Szene zwischen Daniel (Christoph Heckel) und Karl, als der greise Daniel seinen Karl wir ein Baby wiegt und singt. Es sind Szenen wie ein gespannter Bogen, energiegeladen, so dass man den Bruch fürchtet, der dann gerade so vermieden wird. Spannung – Entspannung – Spannung – für den Zuschauer ist das eine emotionale Achterbahn; für die Schauspieler auch eine Energieleistung, die nicht zu toppen ist. Was natürlich in besonderem Maße für die Räuberbande gilt.
Helge-Schneider-Parodie
Neumann lässt den Räubern ihre Monologe, z. B. Spiegelbergs (Max Landgrebe) Klostererlebnis. Und wie er sich dann das Geschlecht hinter die Oberschenkel klemmt und so die Äbtissin markiert; wie er den Bauch vorstreckt und auf die kommenden neun Monate der Nonnen abhebt, das ist ein veritables Kabinettstück.
Kosinski (Fabian Hagen), im Kostüm des jungen Schiller, bleibt im Gedächtnis, wie auch Schweizer (eine Art Helge-Schneider-Parodie: Jonas Schlagowsky) und Herrmann (mit Gundermannbrille: Marcus Horn) – Ratzmann ist hier ein "Ratzfrau", gespielt von Nadja Robiné, die als Magristatsbeamtin, hier Polizistin mit Helm und Schild, wunderbar leise Töne findet und dabei gut gegen die Räuberbande standhalten kann.
Ein Meisterstück
Unterm Strich bleibt der starke Eindruck, ein Meisterstück über Sprache und Propaganda, Agitation erlebt zu haben. Eine Kraft der Sprache, ein energetisches Level der Schauspieler, eine Glaubwürdigkeit der Figuren – ich wiederhole mich – wie ich sie so überzeugend selten erlebe. Wer dafür nicht nach Weimar fährt, dem Manne kann nicht geholfen werden!
Informationen zur Aufführung
"Die Räuber"
Schauspiel von Friedrich Schiller
Deutsches Nationaltheater Weimar
Open-Air-Aufführung am E-Werk Weimar
Am Kirschberg 4
99423 Weimar
Aufführungen:
Freitag: 17.06.2022 (Premiere)
Samstag 18.06.2022 | 19.00 Uhr
Dienstag: 21.06.2022 | 19.00 Uhr
Mittwoch: 22.06.2022 | 19.00 Uhr
Donnerstag: 23.06.2022 | 19.00 Uhr
Freitag: 24.06.2022 | 19.00 Uhr
Samstag: 25.06.2022 | 19.00 Uhr
Dienstag: 28.06.2022 | 19.00 Uhr
Mittwoch: 29.06.2022 | 19.00 Uhr
Donnerstag: 30.06.2022 | 19.00 Uhr
Samstag: 02.07.2022 | 19.00 Uhr
Sonntag: 03.07.2022 | 19.00 Uhr
Donnerstag: 07.07.2022 | 19.00 Uhr
Freitag: 08.07.2022 | 19.00 Uhr
Samstag: 09.07.2022 | 19.00 Uhr
Sonntag: 10.07.2022 | 19.00 Uhr
Mittwoch: 13.07.2022 | 19.00 Uhr
Donnerstag: 14.07.2022 | 19.00 Uhr
Fr 15.07.2022 | 19.00 Uhr (Letzmalig)
Regie: Jan Neumann
Bühne: Oliver Helf
Kostüme: Nini von Selzam
Musik: Johannes Winde
Dramaturgie: Beate Seidel
Besetzung:
Sebastian Kowski (Maximilian, regierender Graf von Moor/ Pastor Moser/ Schufterle)
Krunoslav Šebrek (Karl Moor)
Nahuel Häfliger (Franz Moor)
Rosa Falkenhagen (Amalia von Edelreich)
Max Landgrebe (Spiegelberg)
Jonas Schlagowsky (Schweizer)
Fabian Hagen (Roller/ Kosinsky)
Marcus Horn (Herrmann, Bastard von einem Edelmann/ Schwarz)
Nadja Robiné (Razfrau/ Magistratsbeamtin)
Christoph Heckel (Daniel, Hausknecht des Grafen von Moor, Grimm)
Johannes Winde (Räuber/ Hofmusiker)
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 20. Juni 2022 | 10:15 Uhr