Interview Die Detektivin im Dienste der Toten

05. Juni 2019, 04:00 Uhr

Der Tod ist das Thema der Gothic-Szene. Für Pathologin Katrin Schierle ist der Tod sogar täglicher Begleiter. Die Oberärztin ergründet an der Uniklinik Leipzig, woran Patienten gestorben sind – und liebt ihren Beruf, weil er viele Überraschungen birgt und so ganz anders ist, als Fernsehkrimis vermuten lassen. Aber warum wird man Pathologin? Und wie ist es, täglich mit dem Tod konfrontiert zu sein? Pathologen hätten einen sehr eigenen Umgang mit dem Ende des Lebens, erklärt Katrin Schierle im Interview.

MDR KULTUR: Frau Schierle - wieso sind Sie Pathologin geworden und nicht Allgemeinmedizinerin?

Katrin Schierle: Weil mir schnell langweilig wird (lacht)! Eigentlich wäre ich Unfallchirurgin geworden, nach einer Weile kam mir das aber wenig abwechslungsreich vor. Jetzt ist es so – egal, welchen Fall ich auf dem Tisch habe, ich weiß nie, was kommt. Es ist immer spannend, wie ein Puzzlespiel. Es ist sehr konkret. Und: Nach meinen Erkenntnissen richtet sich – gerade bei lebenden Patienten – alles!

Sie sagen bei lebenden Patienten – im Fernsehkrimi haben Pathologen immer mit Verstorbenen zu tun. Ein falsches Bild?

Das ist völlig falsch! Erstens, weil wir Pathologen es nur in etwa zehn Prozent mit toten Patienten zu tun haben und hauptsächlich Gewebeproben von Lebenden analysieren. Zweitens sind die toten Patienten, die in der Pathologie obduziert werden, eines natürlichen Todes gestorben. Für Menschen, die keines natürlichen Todes gestorben sind, ist in Deutschland die Rechtsmedizin zuständig.

Eigentlich ist es ein Übersetzungsfehler, in den USA heißen Rechtsmediziner "Forensic pathologists". Das synchronisiert sich vermutlich blöd, weswegen die Kollegen im Fernsehen nur Pathologen heißen. Mir tun die Kollegen von der Rechtsmedizin wirklich leid. Das ist ja wie wenn ich zum Fleischer gehe und sage: Geben Sie mir mal drei Brötchen. Solche Krimis verhelfen der Pathologie leider zu einem falschen Berufsbild in der Öffentlichkeit.

Was muss denn überhaupt geklärt werden bei Menschen, die eines natürlichen Todes gestorben sind?

Wir müssen herausfinden, woran sie letztendlich verstorben sind. Das ist etwa für Onkologen sehr wichtig, zu wissen ob eine Therapie gut funktioniert hat. Oder wenn ein Patient eine künstliche Herzklappe hatte, schauen wir, ob das Herzklappenmodell richtig funktioniert hat. Wenn jetzt beispielsweise zehn Patienten mit einem neuen Herzklappenmodell versterben, weil diese Herzklappe nicht funktioniert hat – wie soll man das merken, wenn man nicht obduziert?

Es kommt bei uns auch immer wieder zu Überraschungen! Man findet beispielsweise Gefäßanomalien oder Gefäßverläufe, die nicht im Anatomiebuch stehen. Man findet unerkannte Infektionen oder Tumore. Bei etwa fünf Prozent der Verstorbenen finden wir einen unerkannten malignen Tumor.

Wie gehen Sie vor, wenn vor Ihnen eine Leiche auf dem Obduktionstisch liegt?

Erst mal hat in Deutschland jede Leiche einen Zettel bei sich, das ist der Totenschein mit den Personendaten darauf. Diese Daten überprüfen wir, außerdem schauen wir, ob das Einverständnis der Angehörigen vorliegt. Dann gucken wir immer, ob wir die richtige Leiche vor uns haben! Das ist sehr wichtig, die Identität muss sicher sein.

Ich beginne die Obduktion mit der äußeren Leichenschau: Ich dokumentiere, was der Patient alles am Körper hat. Sind da beispielsweise irgendwelche Einstichstellen oder Gefäßzugänge, hat er Tätowierungen? Anschließend gehen wir immer nach demselben Vorgang vor, nach der "SOP Obduktion", die mittlerweile etwa 40 Seiten lang ist.

Ich fange an mit einem Längsschnitt etwa vom Schlüsselbein bis zum Schambereich, dann gehe ich wie eine Art umgedrehtes "Y" weiter, bis ungefähr zur Mitte der Oberschenkel. Ich entnehme erst den Darm, das Oberbauchpaket und dann das Retroperitoneal-Paket, wo Nieren und die Geschlechtsorgane dabei sind. Um das Thoraxpaket mit der Zunge und dem Halsinhalt zu entnehmen, muss ich unter der Haut bis knapp unterm Kinn präparieren. Ich wiege die Organe dann und entnehme kleine Proben, die ich später unter dem Mikroskop untersuche.

Am Ende lege ich alles wieder an seinen Platz zurück. Meine Schnitte sieht man übrigens von außen später nicht, wenn der Tote bekleidet ist. Das ist sehr wichtig für die Angehörigen.

Kann man die Würde eines Verstorbenen wahren, wenn man ihn aufschneidet?

Das ist für uns ganz wichtig! Ich bin der Letzte, der die ganze Geschichte des Patienten zu einem Bericht zusammenfasst. Ich kann seinen Angehörigen also nur helfen, wenn ich das ordentlich mache. Es ist ungeschriebenes Gesetz, dass wir pietätvoll mit den Patienten umgehen. Deswegen dürfen Sie als Journalistin bei uns auch keine Leiche filmen.

Was macht es mit Ihnen, wenn Sie täglich mit dem Tod konfrontiert werden?

Pathologen haben ein sehr eigenes Verhältnis zum Tod. Das fängt in der Assistenzarztzeit an, in der wir 150 Obduktionen durchführen müssen. Für uns ist das vorrangig erst mal spannend. Große Gedanken über den Verstorbenen, oder wie es seinen Angehörigen wohl geht, kann ich mir in dem Moment nicht machen. Wenn ich meine Arbeitskleidung trage, klammere ich das aus, es ist meine psychische Barriere. Weil ich nur gute Arbeit leisten kann, wenn ich für den Patienten ordentlich funktioniere.

Auch Ekelgefühle spielen keine Rolle. Ich könnte mich immer halb tot lachen, wenn Studenten sich irgendetwas unter die Nase halten, um den Leichengeruch zu überdecken. Das riecht man nach ein paar Minuten einfach nicht mehr, wenn man konzentriert bei der Sache ist.

Ansonsten ist es so, dass man sich natürlich mehr Gedanken über seinen eigenen Tod macht. Ich habe eine relativ gute Vorstellung davon, wie ich beerdigt werden möchte. Was also manche Patienten nicht mal am Ende ihres Lebens haben, haben wir schon im ersten Jahr der Facharztausbildung innerlich erledigt.

Das klingt sehr souverän. Kommen Sie nicht manchmal auch an Grenzen in Ihrem Beruf?

Die Gedanken kommen eher abends, da macht man dann eine Stunde mehr Sport oder redet mit Freunden oder Verwandten. Es ist auf jeden Fall so, dass mich manche Fälle mehr beschäftigen als andere. Als meine Schwiegermutter an Brustkrebs verstorben ist, hätte ich eigentlich drei Wochen später eine Patientin mit Brustkrebs obduzieren sollen. Das war mir aber zu nah, also habe ich meinen Kollegen gesagt, dass jemand anders übernehmen muss, was auch gar kein Problem war. Das Schlimmste als Arzt ist, wenn man seine Grenzen nicht kennt.

Sie reden sehr offen über den Tod, das ist in unserer Gesellschaft ungewöhnlich. Würden Sie sich einen anderen Umgang wünschen?

Ich finde es sehr anstrengend, dass der Tod bei uns etwas Verborgenes ist. Dass es auch für Menschen so schwierig ist, über den Tod zu reden. Der Tod gehört zum Leben dazu, irgendwann kommt er. Also muss man sich mit dem Gedanken auseinandersetzen.

Vor zwei Jahren ist mein Vater verstorben. Es war ganz schwierig in unserer Familie, an manchen Stellen über den Tod zu reden. Wenn sich das außerhalb des medizinisch-professionellen Bereichs bewegt, haben andere teilweise nur wenig Verständnis dafür, wie ich mit dem Tod umgehe. Denn ich nehme es, wie es kommt.

In der Gothic-Szene spielt der Tod eine große Rolle. Finden Sie das gut?

Ich kann es schwer einschätzen, weil ich mit dieser Szene gar nichts zu tun habe. Ich bin mir nicht sicher, ob die Menschen sich tatsächlich mit dem Tod auseinander setzen, oder ob das einfach dazu gehört. Prinzipiell ist es immer gut, wenn man sich mit dem Tod beschäftigt.

Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 22. Mai 2018 | 06:30 Uhr

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