InterviewLydia Benecke über das WTF in Leipzig: Sex, Unfälle und die Bösen
Parallel zum WGT findet in Leipzig zu Pfingsten das "WTF" statt – ein Festival, das Kriminalpsychologin Lydia Benecke ins Leben gerufen hat. Im Leipziger Kupfersaal gibt es bei "Wissenschaft trifft Freundschaft" u.a. Vorträge von Kabarettist Florian Schroeder, Tatortreiniger Thomas Kundt und natürlich von Lydia Benecke selbst. Im Interview stellt sie das Programm vor und erklärt, was die Sexualwissenschaft mit der katholischen Kirche zu tun hat und wie Bratpfannen zu Mordwaffen werden.
MDR KULTUR: "Wissenschaft trifft Freundschaft" heißt das Festival, das Sie nun zum dritten Mal organisieren. Das klingt erstmal seltsam. Wie kommen Sie auf Freundschaft in dem Zusammenhang?
Lydia Benecke: Wenn ich irgendetwas wissen will zu einem Thema, von dem ich keine Ahnung habe, habe ich sehr häufig jemanden in meinem Freundeskreis, wo ich nachfragen kann, wie denn da gerade der Forschungsstand ist. Denn viele arbeiten in Berufsfeldern, die auch mit Wissenschaft zu tun haben. Und aus dieser Dynamik hat sich die Idee entwickelt, dass es sehr cool ist, wenn man Menschen Wissenschaft auf eine Art nahebringen kann, die spannend ist und gut verständlich.
Eine öffentliche Veranstaltung, bei der einem alles so erklärt wird, als wäre man unter Freunden?
Ja, genau, es gibt nach den Vorträgen auch immer eine Diskussionsrunde, wo die Leute im Publikum Fragen stellen können. Das Ganze soll quasi Wissenschaft zum Anfassen sein. Ein Aspekt ist auch, über irrationale Überzeugungen aufzuklären, beispielsweise aus dem Bereich Esoterik. Denn es ist wichtig, darüber zu reden, weil manche dieser Überzeugungen wirklich gefährlich werden können.
Ein Thema, das bei mehreren Vorträgen vorkommen wird, ist Sexualität.
Es sind zwei von acht Slots, die sich damit beschäftigen. Am Freitagabend gibt es das Thema: "Breathcontrol: Zwischen Sexspiel und Tötungsdelikt", wo wir die verschiedenen Facetten dieser Sexualpraktik beleuchten wollen: Einmal von Marcus Schwarz, der bei der Rechtsmedizin Leipzig arbeitet. Dann von einem Anwalt, der das Ganze juristisch einordnet. Und von einer Frau, die auch als Domina tätig ist.
Wir versuchen sowieso, alle Themen im Programm aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten. Am Samstagmorgen haben wir dann eine Zeitreise durch die Sexualität. Da wird mein Vortrag davon handeln, das die Sexualwissenschaft eine sehr intensive Entwicklung in den letzten anderthalb Jahrhunderten gemacht hat.
Wie sah diese Entwicklung aus?
Ein ganz wichtiger Punkt war zum Beispiel, dass 2013 das DSM-5 herausgegeben wurde – ein Leitfaden, mit dem man psychische Störungen definiert und der alle paar Jahre nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft geupdatet wird, daher gab’s 2013 die fünfte Auflage. Und im DSM-5 hat man ganz klar gesagt, man muss harmlose sexuelle Vorlieben, die selten vorkommen, unterscheiden von sexuellen Vorlieben, die krankheitswertig sind. Das ist eine ganz wichtige Info, die aber die Allgemeinbevölkerung nicht erreicht hat. Ich weiß nicht, ob Sie schon mal von einem Unterschied zwischen Paraphilie und paraphiler Störung gehört haben?
Nein.
Aber das ist wichtig, dass es zwei Begrifflichkeiten gibt: Paraphilien, das sind ungewöhnliche sexuelle Vorlieben ohne Krankheitswert. Und paraphile Störungen sind ungewöhnliche sexuellen Vorlieben, die behandlungsbedürftig sind. Diese wichtige Unterscheidung ist die Folge von vielen Jahren Forschung und wissenschaftlicher Auseinandersetzung.
Und ich erkläre, warum die Pathologisierung ungewöhnlicher sexueller Vorlieben interessanterweise – was fast niemand weiß – zurückgeht auf einen Psychiater, der seinen katholischen Glauben einfach mit Wissenschaft gleichgesetzt hat. Der hat geglaubt, dass der katholische Glaube wörtlich zu nehmen ist. Und er hat gesagt, alles, was nach dem katholischen Glauben Sünde ist – also jede Form von Sexualität, die nicht der Zeugung eines Kindes in der Ehe dient – ist krank. So.
Aus heutiger Sicht muss ich nicht lange erklären, dass das eine sehr fragwürdige Grundannahme war. Damals wurde die aber sehr positiv aufgenommen und tatsächlich wurde von dieser "Degenerationstheorie" ausgehend sehr lange in der Sexualwissenschaft einfach alles, was nicht der Zeugung eines Kindes diente, pathologisiert. Das ist jetzt natürlich eine grobe Vereinfachung und Verkürzung. In meinem Vortrag erkläre ich, was alles dazwischen passiert ist.
Beim Themenblock "Breathcontrol: Zwischen Sexspiel und Tötungsdelikt" halten Sie einen Vortrag mit psychologischen Gedanken zum Thema.
Ja, für mich interessant sind die Fälle, wo Menschen sagen, das war ein Sex-Unfall, der leider tödlich geendet ist. In manchen Fällen ist dies zutreffend, in anderen nicht. Manche der Personen wissen, dass sie nicht die Wahrheit sagen und lügen einfach, um juristisch aus der Nummer rauszukommen. Andere Personen begehen Selbstbetrug, indem sie sich im Nachhinein einreden "Das wollte ich doch eigentlich gar nicht", um ihr positives Selbstbild aufrechtzuerhalten. Und ich versuche zu klären, was spricht psychologisch eher für oder gegen eine Unfall-Version.
Ein Beispiel: Jemand hat mal gesagt, dass er eine andere Person bei einem vermeintlichen Sex-Unfall getötet hätte. Und er hat geschildert, dass er das Sexspiel damit begonnen habe, erstmal mit einer massiven Bratpfanne der anderen Person auf den Kopf zu schlagen, wobei schwere Kopfverletzungen entstanden sind. Man muss nicht sehr viel Ahnung von Praktiken aus dem BDSM-Bereich haben, um bereits bei so einer Schilderung zu sagen: Nein, das hat nicht mal im Entferntesten irgendwas mit BDSM zu tun. Aber er hat das vor Gericht so vertreten.
Das ist jetzt ein plakatives Beispiel. Es geht darum zu schauen, welche Infos braucht man, um merkwürdige Aussagen in so einem Kontext irgendwie vernünftig einordnen zu können.
Ein weiterer Themenblock steht unter der Überschrift "Facetten des Bösen". Und die sind tatsächlich vielfältig. So spricht der Physiker Holm Hümmler über "die böse Seite der flachen Erde", also über einen Verschwörungsglauben. Tatortreiniger Thomas Kundt erzählt von einem besonderen Fall seiner Arbeit, Kabarettist Florian Schroeder stellt sein Buch "Unter Wahnsinnigen: Warum wir das Böse brauchen" vor, und Sie erklären in Ihrem Vortrag "Böse sind immer die anderen" das Phänomen, dass man ja selbst immer denkt, man sei eigentlich im Recht – also auch die Menschen, die gerade Böses tun?
Alle Menschen kennen das ja aus ihrem eigenen Leben, dass jede Konfliktpartei der Meinung ist, im Recht zu sein. Ich gehe besonders auf mein Arbeitsgebiet ein, nämlich Menschen, die Straftaten begehen. Denn auch Personen, die schwere Straftaten begingen, sagen in den meisten Fällen: "Aber eigentlich bin ich kein schlechter Mensch ... Wenn die Umstände anders gewesen wären, wäre es nie so weit gekommen… Aber die anderen sind schlimmer … Ich dachte, ich schade keinem …". Es gibt wahnsinnig viele Gedankenkonstrukte, mit denen Menschen ihre Straftaten rechtfertigen.
Zu meinem Arbeitsbereich gehört sehr stark, den Leuten zu helfen, diese abzubauen und die Sache wirklich klar zu sehen. Das wirkt ziemlich krass, wenn eine Person, die jemanden umbringt oder vergewaltigt, hinterher lang und breit erklärt, "eigentlich" nichts Böses beabsichtigt zu haben. Da würden alle sagen: Wow, wie kann man sich denn so selbst täuschen? Aber Selbsttäuschung ist ein Bestandteil der menschlichen Psyche. Viele Menschen würden auch über sich selbst sagen, dass sie eine supergute Menschenkenntnis haben – und trotzdem werden viele Menschen manipuliert.
Wie schaffen Sie es, dass die Menschen, die Straftaten begehen, das nicht mehr für richtig halten?
Das ist ein langer Prozess. Es ist nicht so, dass man mal kurz ein Gespräch führt, und dann sagen sie: "Oh, ich habe mich voll geirrt." Einigen hilft es zum Beispiel, wenn sie in einer Gruppentherapie mit anderen Straffälligen von denjenigen lernen, die schon weiter sind. Wenn jemand sagt: "Pass mal auf, ich habe mir dasselbe eingeredet, aber aus den und den Gründen würde ich heute sagen, dass das einfach nur eine Selbsttäuschung war, um mich zu entlasten" – wenn das jemand sagt, der ein ähnliches Delikt begangen hat, hat das noch mal eine andere Wirkung, als wenn ich das sage.
Aber wenn ich mit ihnen reden, geht es auch darum, Dinge zu hinterfragen. Wenn sie zum Beispiel sagen, dass sie in einer Situation waren, wo sie keine Wahl hatten. Da würde ich sagen: "Die allermeisten Menschen, die in dieser für Sie sehr schwierigen Situation wären, würden trotzdem nicht eine andere Person töten. Warum würden die das nicht tun? Und warum glauben Sie aber, dass das jetzt die einzige Handlungsoption für Sie war? Welche Schritte haben überhaupt zu dieser Notsituation geführt? Und welche Schritte davon waren auch Ihre Entscheidung?"
Es geht sehr viel darum, miteinander zu sprechen und das Ganze immer wieder vernunftorientiert zu diskutieren und die dadurch zum Nachdenken zu bringen. Denn wenn man einmal die Konstrukte abgebaut hat, ist es für die Personen kaum mehr möglich, sie wieder aufzubauen.
Das WTF findet nun zum dritten Mal parallel zum WGT statt. Seht ihr euch eher als Konkurrenz- oder Ergänzungsprogramm?
Unter anderem Christian von Aster und mir wurde 2020 gesagt, dass wir beim WGT nicht mehr im Rahmen des Programms auftreten könnten, obwohl wir sehr viele Jahre sehr erfolgreich aufgetreten sind. Und weil ich weiß, dass sehr viele Menschen über Pfingsten in Leipzig immer noch zu unseren Vorträgen kommen möchten, wollten ich und auch Christian damals diese Menschen nicht enttäuschen.
Und dann haben wir überlegt, dass das eine gute Gelegenheit wäre, in der Zeit auch den Leuten, die uns sehen möchten, etwas anzubieten. Etwas Großes, Cooles, Neues. Viele der Menschen, die zu uns kommen, sind Nicht-WGT-Publikum. Und das ist auch die Stärke dieser Veranstaltung, dass wir sehr unterschiedliche Menschen mit sehr unterschiedlichen Interessen zusammenbringen.
Mehr Informationen zum Wissensfestival"WTF! – Wissenschaft trifft Freundschaft"
17. und 18. Mai 2024, jeweils von 12 Uhr bis 22:30 Uhr
Kupfersaal
Kupfergasse 2
04109 Leipzig
Themenschwerpunkte:
"Körper, Kunst, Kontroverse: Zwischen Body Positivity und Sexismus", "Atomangst - Fakten und Fiktion", "Tausend Tode: Umgang mit einem Tabuthema", "Breathcontrol: Zwischen Sexspiel und Tötungsdelikt", "Zwischen Lust und Scham: Zeitreise durch die Sexualität", "Esoterik im Alltag: Von Bachblüten bis Bernsteinketten", "Facetten des Bösen", "Crime Night: Eindrückliche Ermittlungen und Nachtmusik"
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Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | Spuk - Leben mit dem Unheimlichen | 31. Oktober 2022 | 22:45 Uhr