"Experimental Concert Research" Wie erleben Menschen ein Konzert? Forschungsprojekt über Publikumsverhalten

Was erleben Menschen, wenn sie in ein Konzert gehen? Auch wenn viele tausend Zuhörerinnen und Zuhörer ein und dasselbe Konzert besucht haben, werden sie an ganz verschiedenen Stellen besonders aufmerksam gewesen sein – und werden sich auch an ganz unterschiedliche Dinge erinnern können. Ein neues Forschungsprojekt untersucht und vergleicht die individuellen Erlebnisse, wie ein Konzertereignis wahrgenommen wird. MDR KLASSIK hat mit den Initiatoren des Projekts gesprochen.

Forschungsprojek-Konzerterleben
Ein Streichquartett mit hochkarätigen Musikern spielt das gleiche Programm in unterschiedlichen Settings, damit die Reaktionen des Publikums erfasst werden können. Bildrechte: Phil Dera

Bereits im vorletzten Jahr hatte die Forschergruppe um Martin Tröndle, Kultursoziologe und Professor an der Zeppelin-Universität in Friedrichshafen, ein Publikumsexperiment gestartet – damals in Reaktion auf die aktuelle und unvorhersehbare Lage während der Corona-Pandemie. Dabei wurde die noch recht ungewöhnliche Situation, dass man einem Konzert im Livestream anschaut und als Computer-Avatar mit anderen Zuschauern kommunizieren kann, untersucht.

Das Publikum als Versuchsgruppe

Das aktuelle Experiment widmet sich nun aber dem Ereignis des Live-Konzerts. Dafür sitzen sich ein Streichquartett und ein immer neues Publikum in insgesamt neun Konzerten mit Musik von Beethoven, Brett Dean und Brahms gegenüber. Mit dem Berliner Radialsystem und dem Pierre-Boulez-Saal wurden zwei verschiedene Orte gewählt, an denen das Experiment stattfinden kann. Denn das Setting des Konzerts soll bei gleichbleibendem Programm verändert werden.

Forschungsprojek-Konzerterleben
Zuhörende werden nach dem Konzert nach ihrer Meinung zur Inszenierung, zu Atmosphäre oder zur musikalischen Interpretation befragt. Bildrechte: Phil Dera

So soll herausgefunden werden, wie das jeweilige Publikum reagiert – welche Wirkung die Musik in verschiedenen Sälen entfaltet, aber auch was passiert, wenn man den Rahmen minimal variiert: etwa die Beleuchtung oder die Pausen zwischen einzelnen Sätzen. Der Konzertdesigner Folkert Uhde möchte so die Spannung verändern, die ein Abend für Zuschauer haben kann.

Datenhandschuh für Messbarkeit des Konzertempfindens

Kurz vor dem Konzert muss das Publikum Fragen beantworten. Nicht nur das Alter, Geschlecht und ethnische Zugehörigkeit wird abgefragt, auch das individuelle Vorwissen in Bezug auf Konzerte und Musik spielt eine Rolle. Für das Konzert erhalten die Zuhörenden eine Nummer und einen Datenhandschuh. Martin Tröndle möchte auf diese Art herausfinden, was das Konzert bei den Besuchenden auslöst – körperlich und emotional.

Wir haben in den letzten Jahren unterschiedliche Algorithmen entwickelt und verfeinert, um genau herauszufinden: Was bedeutet das, wenn die Hautleitfähigkeit, die Herzrate oder die Bewegungsengerie des Publikums signifikant schwankt? Wir berechnen das – eine sehr große Rechenleistung, die da passieren muss.

Martin Tröndle, Kultursoziologe und Professor an der Zeppelin-Universität in Friedrichshafen

Nach dem Konzert folgt eine Ausgangsbefragung, in der die Zuhörenden nach bestimmten Stellen im Konzert gefragt werden, an denen ihre Werte sich verändert haben. Dabei stehen Fragen im Vordergrund, wie etwa, ob eine Person sich noch an diese Stellen erinnern könne und ob der Person die musikalische Interpretation, die Atmosphäre, die Inszenierung gefallen habe. Das sei ein relativ langes Fragensetting, das dann dargestellt werde, erklärt Martin Tröndle.

Wozu das Ganze?

Konzertveranstalter versprechen sich von den Ergebnissen der Studie, dass sie ihr Publikum besser kennenlernen und auf dessen Bedürfnisse eingehen können. Wie soll klassische Musik in Zukunft dargeboten, wie soll sie für welchen Hör-Typ inszeniert werden? Ideen zur Veränderung von Konzertrahmen gibt es mittlerweile sehr viele. Aber wem gefällt was – und weshalb genau? Für Martn Tröndle steht fest, dass es für die Art, wie ein Konzert heute und in Zukunft dargeboten wird, keinen Königsweg mehr gebe. Es bleibt also gespannt abzuwarten, welche Ergebnisse das Forschungsexperiment liefern wird.

Infos zum Forschungsexperiment Wer sein Hörverhalten bei klassischer Musik erforschen lassen will, kann sich für das Experiment im Berliner Radialsystem und im Pierre-Boulezsaal anmelden. Die Konzerte finden vom 28. April bis zum 6. Mai statt.

Das Forschungsteam des Projekts setzt sich unter anderem aus Prof. Dr. Martin Tröndle (Zeppelin Universität), Prof. Dr. Melanie Wald-Fuhrmann, (Direktorin der Abteilung Musik Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik) und Prof. Dr. Wolfgang Tschacher (Psychiatrische Universitätsklinik UPD, Bern) zusammen. Das Projekt wird von der VolkswagenStiftung geförderten.

Dieses Thema im Programm: MDR KLASSIK | MDR KLASSIK am Morgen | 06. April 2022 | 08:40 Uhr

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