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Vor plündernden und mordenden Soldaten flüchtet ein Bauernjunge zu einem Einsiedler. Dieser gibt ihm wegen seiner Einfalt den Namen Simplicius Simplicissimus, der Allereinfältigste.  Bildrechte: Pawel Sosnowski

RezensionGörlitz: Kammeroper "Simplicius Simplicissimus" von Karl Amadeus Hartmann

06. Juni 2023, 11:05 Uhr

Am 3. Juni 2023 brachte das Gerhart-Hauptmann-Theater Görlitz die Kammeroper "Simplicius Simplicissimus" von Karl Amadeus Hartmann nach Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausens gleichnamigen Abenteuerroman heraus. Der Roman erschien 1669 in "teutscher“ Sprache, da lagen große Teile Europas in Schutt und Asche, hatten Millionen Menschen als Folge des 30-jährigen Krieges ihr Leben verloren. Diesen Stoff vertonte Hartmann ab 1934, also unmittelbar nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten. Bettina Volksdorf war bei der Premiere dabei.

Was ist das für ein Werk und wie ist es einzuordnen?

Bettina Volksdorf: Karl Amadeus Hartmann sprach von "Bildern einer Entwicklung aus dem deutschen Schicksal" nach Grimmelshausen. Literarisch gesehen ist es ein Schelmenroman, vor allem aber eine bitterböse, desillusionierende Gesellschaftssatire. Ich denke, das ist auch der Grund, warum dieser Stoff schon vielfach bearbeitet wurde: Es gibt z. B. eine Simplicius Operette von Johann Strauß, mehrere Hörspiele und Verfilmungen, auch eine interessante Illustrationsgeschichte.

Simplicius Simplicissimus – Nomen est Omen – bedeutet der Allereinfältigste: Worum genau geht es da?

B.V. Hartmann und der Dramaturg Wolfgang Petzet konzentrierten sich in ihrem Libretto auf einen Teil des Romans, den sie in drei Szenen verdichteten. Da geht es also um einen eltern-, auch namenlosen Jungen, der ohne Bildung in der Natur aufwächst, die Welt also im besten Sinne naiv wahrnimmt, selbst die mörderische Soldateska, der er immer wieder entkommen kann.

Der Junge wird von einem Einsiedler aufgenommen und unterrichtet, er verpasst ihm auch seinen Namen. Nachdem der Einsiedler verstorben ist, muss Simplicius allein zurechtkommen. Er wird schließlich Hofnarr, erlebt die hierarchische Ständeordnung als große Ungerechtigkeit, prophezeit daraufhin den Mächtigen und den Kriegstreibern ihren Untergang durch einen Aufstand der Geknechteten. Genau so kommt es am Ende auch – insofern hat diese Kammeroper auch etwas lehrstückhaftes, ist mitunter erstaunlich nah an Bert Brecht und Kurt Weill dran.

Im jungen Simplicius sieht der Hartmann den unheroischen Menschen inmitten einer von Krieg geprägten Welt. Bildrechte: Pawel Sosnowski

Wie ist der 1905 in München geborene Komponist K. A. Hartmann einzuordnen?

B.V. Hartmann war einer, der neugierig alles aufnahm, was die "Goldenen Zwanziger" hergaben: Den Stil-Pluralismus der Zeit – also den "Kleinen grünen Kaktus" der Comedian Harmonists und Alban Bergs atonale Oper "Wozzeck", neue Tänze und den Jazz aus Amerika, Dadaismus, auch die Neue Sachlichkeit – was u.a. bedeutete, möglichst kurz, gern auch gesellschaftskritisch zu komponieren. Das setzte Hartmann z. B.: mit seinen fünf Kurzopern um, die er 1930 für das Opernstudio der Münchner Staatsoper schrieb.

Nachdem die Nazis an der Macht gekommen waren, galt Hartmann als 'verfemt', was einem Arbeitsverbot gleichkam, insofern schrieb er den Simplicius in der inneren Emigration, vergrub diese und andere Partituren 1943 in einer Zinkkiste im Garten eines befreundeten Pfarrers. Nach dem 2. Weltkrieg war er als Dramaturg an der Bayerischen Staatsoper tätig und begründete die bis heute renommierte Konzertreihe "Musica Viva".

Das Europäische Zentrum für Bildung und Kultur Zgorzelec-Görlitz Meetingpoint Music MessiaenDie Premiere des "Simplicius Simplicissimus" fand an einem besonderem Ort statt: Auf dem Gelände des ehemaligen Stalag VIII A, einem Stammlager der Deutschen Wehrmacht am Stadtrand von Görlitz, heute Zgorzelc und "Europäisches Zentrum für Bildung und Kultur Zgorzelec-Görlitz Meetingpoint Music Messiaen" – eine Gedenk- und Begegnungsstätte, aber kein Theater, denn das Haupthaus liegt samt Wasserschaden immer noch dar nieder.

Wie ging Regisseur André Meyer damit um?

B.V. Die Versicherungsfrage des Schadens ist leider immer noch nicht geklärt und apropos "Meetingpoint Messiaen": Damit wird an den französischen Komponisten Olivier Messiaen erinnert, der im Lager sein "Quatuor pour la fin du temps" – "Quartett auf das Ende der Zeit" vollendete und uraufführte. Der Simplicius war die erste Theater-Premiere dort und ich denke, mit Rücksicht auf den Ort bieten sich auch nur wenige Stücke an, die man dort spielen könnte.

Ich habe die Produktion als spannende Verschränkung unterschiedlicher Erinnerungsschichten erlebt: Da sind zunächst die Historie von Werk und Ort, zudem wird über die aktuelle Inszenierung Erinnerungsarbeit geleistet und das ist in dieser Grenz-Region enorm wichtig, denn es geht um Fragen der Identität und des Zusammenlebens von Polen und Deutschen.

André Meyer – hier Dramaturg, Ausstatter und Regisseur in personalunion – lässt den Simplicius auf zwei Ebenen ablaufen: Das Kammer-Ensemble der Neuen Lausitzer Philharmonie sitzt zu ebener Erde, davor und in der 1. Etage agieren die Solisten und der Herrenchor, das heißt, man ist sehr nah dran am Geschehen!

Musikalisch gelang das unter der Leitung von Ulrich Kern (stellv. GMD) rundum beeindruckend, nur klanglich sollte hier und da nochmal ausbalanciert werden. In Summe aber hat mich das sehr überzeugt, vor allem Sopranistin Patricia Bänsch in der Titelrolle sowie Edward Leach, KS Stefan Bley, Peter Fabig und Buyan Li.

Die Oper basiert auf dem Roman Der abentheuerliche Simplicissimus Teutsch von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen, das heute als erster Abenteuerroman der Weltliteratur gilt. Bildrechte: Pawel Sosnowski

Szenisch wurde abgespeckt: Ein Flügel, eine lebensgroße Puppe, ein Bonsai-Töpfchen und etwas Erde als Requisiten genügen, zumal zahlreiche Videos das Bühnenbild ersetzen – da wurden historische Aufnahmen aus dem 1. und 2. Weltkrieg verwendet, denen Videos, die auf dem Stalag-Gelände neu gedreht wurden, gegenübergestellt werden: Erschütternd ist beides, denn auch ein Stillleben mit Gasmaske und Helm vor zartem Grün zeigt seine Wirkung.

Ein Fazit?

Eine sehens- und hörenswerte Produktion dieses zutiefst humanistischen Werkes, wenngleich Hartmann den Simplicius in der Urfassung ohne Utopie verklingen lässt, das aber spiegelt m. E. auch die aktuelle Situation wider: Der Ukraine-Krieg zeigt uns ja auf unbarmherzige Weise, dass Krieg und Willkürherrschaft leider längst nicht beendet sind!

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Dieses Thema im Programm:MDR KLASSIK | 05. Juni 2023 | 09:10 Uhr

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