Der Redakteur | 27.09.2022 Von der Digitalisierung abgehängt: Wer Neueinsteigern in Thüringen hilft
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Eine 80-jährige Frau aus Königsee im Kreis Saalfeld-Rudolstadt fragt, wie sie ohne PC oder Handy Tickets buchen, Anträge ausfüllen oder einfach ins Internet kommen kann. Zwei Fachleute erklären, worauf es ankommt, dass das Internet leicht zu verstehen ist und wo man als Neuling Hilfe bekommt.

Natürlich ist dieser Online-Artikel ein ungünstiges Medium für die Problematik. Schließlich geht es um die Menschen, die eben nicht im Internet unterwegs sind. Und das sind viele in Deutschland.
Dank des D21-Digital-Index wissen wir, wie die deutsche Gesellschaft beim digitalen Wandel vorankommt. Nämlich langsam. Insgesamt sind mittlerweile 91 Prozent der Deutschen online. Das ist der Stand der letzten Erhebung, die von Mitte 2020 bis Mitte 2021 erfolgte.
Seit der Erhebung ein Jahr zuvor sind drei Prozentpunkte hinzugekommen. Das klingt viel, aber zu 100 Prozent fehlen immer noch neun Prozent. Auch die Zahl der Nutzer des mobilen Internets stieg im gleichen Zeitraum von 80 nur auf 82 Prozent.
Knapp ein Fünftel wäre also zum Beispiel mit einer wie auch immer gearteten Ticket-App bei vielen Angeboten außen vor. Und schon die neun Prozent der Befragten, die sich komplett als "Offliner" bezeichnen, summieren sich bereits auf 6,3 Millionen Menschen. Passt das in eine Zeit, in der Barrierefreiheit und Teilhabe aller ganz große Themen sind?
Ist die Digitalisierung alternativlos?
Für Prof. Simon Nestler von der Technischen Hochschule Ingolstadt ist der Denkansatz einer Digitalisierung ihrer selbst willen der falsche. In seinem Lehrbereich Mensch-Computer-Interaktion geht es zwar auch darum, wie man die Anwendungen so gestaltet, das auch Menschen mitkommen, die wenig technikaffin sind, aber das ist erst der zweite Schritt.
Viel früher sollten sich alle Beteiligten die Frage stellen, wie sinnvoll der digitale Weg in den konkreten Fall ist. Wenn dann Antworten kommen, dass es effektiver wird, effizienter, zufriedenstellender oder in irgendeiner Form besser als die bisherige "analoge Anwendung", dann kann eine Digitalisierung sinnvoll sein.
Voraussetzung, dass sie anwenderfreundlich gestaltet ist. Und die Nutzung der Digitalautobahn darf auch parallele "Wanderwege" nicht ausschließen. Wenn Prof. Nestler Behörden und Firmen berät, dann legt er großen Wert darauf, nicht zuerst über die vermeintliche Lösung (also die Digitalisierung) nachzudenken, sondern über das Problem, das gelöst werden soll.
Im Falle einer Fahrt mit dem ÖPNV will der Nutzer zum Beispiel nicht vorrangig ein Ticket buchen, sondern einfach und günstig mit der Straßenbahn fahren. Das 9-Euro-Ticket hat es vorgemacht.
Es ist ein Unding, dass ich im Nahverkehr zu viel zahle, weil ich das günstige Ticket nicht finde.
Auch "Offliner " haben Rechte
Die Lösung kann aus seiner Sicht aber eben nicht sein, zuerst eine noch bessere Website zu bauen, sondern vorher müsste der Tarifdschungel abgeholzt werden. Und dann kann es sein, dass die digitale Lösung sogar ganz ohne Buchungswebsite auskommt, weil das Handy merkt, wo man ein und aussteigt und automatisch das günstigste Ticket bucht.
Wer das nicht nutzen möchte oder kann, der muss auch weiterhin ein Ticket am Automaten ziehen können oder es beim Schaffner oder am Schalter erwerben. Und genau das ist der Punkt: Die digitalen Anwendungen dürfen nicht das einzige Angebot sein. Das gilt auch für Behördengänge, Anträge usw.
Barrierefrei schließt auch Menschen ein, denen die Stufe ins Internet zu hoch ist. Wenn die Digitalisierung wirklich zu mehr Effizienz in den Behörden führt, dann sind schließlich auch Mitarbeiter frei, die sich um die "Offliner" kümmern können. Und zwar indem sie die Formulare ausfüllen helfen, entgegennehmen und bearbeiten.
Was ist denn eigentlich das Online-Zugangsgesetz?
Bis Ende 2022 sollen 575 öffentliche Leistungen digitalisiert werden. In der Praxis heißt das: Wir können viele Formulare digital ausfüllen, haben also online Zugang zu Behörden. Doch in vielen Amtsstuben steht ein Drucker und dazu noch jemand, der den Antrag abheftet.
Prof. Nestler hätte deshalb ein Verwaltungsdigitalisierungsgesetz besser gefunden, damit auch die internen Behördenwege digital sind. Und statt der 575 Leistungen hätten man vielleicht mit einer Handvoll angefangen und dann geschaut, wie das angenommen wird. Und zwar bei einer Zielgruppe, die digitalaffin ist und deren typischen Anträgen.
Und die Erfahrungen hätte man dann etwa bei der Nutzerfreundlichkeit einfließen lassen können. Diese steht leider beim Entwerfen und Programmieren nicht immer an erster Stelle. Die Leute, die mit einem Programm arbeiten müssen, auch in den Ämtern, aber auch draußen an den Notebooks, würden im Vorfeld selten gefragt, so Nestler. Es entstehen dann Apps, mit denen der Enkel die Oma nicht wirklich von der digitalen Welt überzeugen kann.
Wo bekomme ich sofort Hilfe?
Dass überhaupt Hilfe nötig ist, zeigt eigentlich schon das Dilemma, in dem viele vor allem ältere Menschen stecken. Wer nervt schon gern Familie und Freunde ständig mit banalen Antragsformularen. Wer alleine ist, hat es noch schwerer. Immerhin tut sich hier gerade einiges in Thüringen.
Das Agathe-Projekt zielt auf die älter werdende Gesellschaft, geht gegen das Alleinsein an und liefert Anlaufstellen auch für den Fall, dass ein Impftermin gebucht oder ein Formular ausgefüllt werden muss. Hier gibt es weitere Informationen.
Es wird beim Agathe-Projekt auch über Ortsteilbürgermeister, Kindergärten oder Schulen geworben.
Die Hilfsstellen sind zum Beispiel an Seniorenclubs gebunden oder andere wohnortnahe Sozialeinrichtungen und sind auch telefonisch erreichbar, was im ländlichen Raum wichtig sein dürfte. Rund die Hälfte der Thüringer Landkreise bzw. kreisfreien Städte sind bei Agathe schon dabei und die Bewerbung der Angebote ist zum, Glück auch nicht nur digital im Netz zu finden. Man setzt auf "analoge Netzwerke'" und auch darauf, dass sich die Angebote herumsprechen.
MDR (ifl)
Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN - Das Radio | Ramm am Nachmittag | 27. September 2022 | 15:10 Uhr