Stilisierter Rucksack mit Schulutensilien und einer Pistole. Daneben ein stilisiertes Reportermikrofon.
Bildrechte: MDR MEDIEN360G

Amokläufe in der medialen Rezeption Erfurt, Winnenden, München, Berlin

26. April 2022, 07:49 Uhr

Vor 20 Jahren starben in Erfurt 17 Menschen, 16 waren Opfer, einer Täter. Zwei Dekaden hatte man also Zeit, zu verarbeiten (das reicht nicht), zu verdrängen (das nützt nichts), und zu beobachten (das hilft im Zweifelsfall wenig). Doch es ist möglich, etwas aus der Darstellung des Amoklaufs zu lernen. Denn dass etwas, und was passiert war, wurde, wie damals Usus, durch die klassischen Medien gemeldet.

Die Medien übernahmen auch die weitere Beobachtung, die Beschreibung der Folgen, und die Einschätzung von Tat und Motiven. Sie hatten damit – neben Initiativen, Gedenkfeiern und den Menschen selbst – einen großen Anteil daran, wie die Tat des 19-jährigen ehemaligen Schülers in den nächsten 20 Jahren rezipiert wurde.

Die Aufarbeitung und Suche nach den Gründen begann im Jahr 2002 prompt. Einen Tag nach der Tat schrieb die Thüringische Landeszeitung unter der Überschrift "Erfurt unter Schock – Dieser Tag hat Thüringen verändert" von einer "für Deutschland beispiellosen Gewalttat", bei der 17 (es waren de facto 16) "Mitmenschen in den Tod" gerissen wurden. Im Ressort "Politik" berichtete die Zeitung von einer Schweigeminute und Reaktionen von Politikerinnen und Politikern sowie dem damaligen Präsidenten des Deutschen Lehrerverbands Josef Kraus. Angesichts der großen Anzahl von Lehrenden unter den Opfern war für Kraus die Motivlage eindeutig: "Kraus forderte, der Lehrerberuf müsse in Deutschland wieder mehr gesellschaftliches Ansehen erhalten", berichtete die TLZ. "Wenn jeder öffentlich die Pädagogen diskreditiere, müsse man sich nicht wundern, wenn Amokläufer dächten, sie könnten auch draufhauen", zitierte die Zeitung die Vorstellung des Ex-Lehrervorsitzenden, eine Gruppe bereits irgendwo wartender Amokläufer suchte sich ihre Opfer danach aus, wer in der Öffentlichkeit am meisten beleidigt würde.

Genaue Beschreibungen des Tathergangs inklusive des Anblicks der Leichname folgten, aber keine Bilder davon, sowie ein Interview mit einem Entwicklungspsychologen, der dringende psychologische Hilfe für die Überlebenden und Hinterbliebenen anmahnte. In einem Leitartikel schrieb Hans Hoffmeister vom Zwiespalt der Berichterstattenden, die einerseits ihrer Pflicht nachkommen müssen, aber andererseits verständlicherweise überfordert sind: "Wir sehen die Bilder, wie sich Menschen stumm in den Arm nehmen. Es zerreißt uns das Herz. (…) Dennoch: Wir drucken."

Motiv: Exzessiver Medienkonsum?

Nach den Nachrichten in Tageszeitungen und Fernsehsendern schrieb die Autorin Susanne Gaschke in der Zeit (produktionsbedingt mit mehr als einer Woche Abstand) über seelische Verwahrlosung und macht in ihrem Essay exzessivem Medienkonsum als Mitgrund aus. Nach ihrer Ansicht "muss es eher verwundern, dass derartiges Unheil nicht häufiger geschieht. Die Familien zerfallen – manche sichtbar, manche nur innerlich. Erwachsene haben immer weniger Zeit für Kinder. Deren Mediennutzung nimmt, mit elterlicher Duldung, gefährliche Formen an; dazu dröhnt die Konsummaschine mit ihrer lauten Dauerbotschaft, dass nur der etwas ist, der etwas hat. Die Brutalisierung der Alltagskultur schreitet voran." Somit brachte sie die Tat des Ex-Schülers mit mangelnder Kommunikation innerhalb einer Familie in Verbindung und legte – als eines von vielen Kriterien – in alter Tradition Computerspiele als Brandbeschleuniger nahe: "Allzu häufig findet in den Familien, nicht nur in den unterprivilegierten, auch dann keine Kommunikation statt, wenn alle zu Hause sind. Die Bereitschaft zum Sicheinlassen, zum Miteinander schrumpft; man ist doch froh, wenn die Kinder in ihrem Zimmer verschwinden, zum Fernsehen oder zum Spielen am Computer. Nette Computerspiele, in denen ein besonders schöner Zoo entsteht – und weniger nette wie Resident Evil oder Counterstrike, deren Ziel es ist, möglichst viele Menschen blutig niederzumetzeln."

Ihr Appell richtete sich an die Eltern, die ihre Kinder nicht aus übertriebener Angst vor Einmischung "in Ruhe" lassen sollten: "Das Schweigen zwischen Eltern und Nachwuchs muss aufhören. (…) Von jedem muss der Mut gefordert werden, an die Kinderzimmertür zu klopfen und mit seinem Kind zu reden. Ihm in die Augen zu sehen und auf den Bildschirm. Rechtzeitig."

Ob indes neben der Motivanalyse tatsächlich Aufklärung erfolgte, blieb umstritten. In einem 2005 veröffentlichten Interview mit dem Medienmagazin tvDiskurs konstatierte Ines Geipel, deren viel kritisiertes, 2004 erschienenes "literarisches Sachbuch" "Für heute reicht's" eine Aussage des Erfurt-Täters als Titel trägt: "Die Bürger dieser Stadt sind nicht wirklich zur Ruhe gekommen. Aber wie auch: Schließlich ist die Tat nicht aufgeklärt, sind Verantwortlichkeiten nicht bestimmt. So lange das nicht geschehen ist, wird es Schweigen und Ängste geben, aber keine Normalität." Zehn Jahre nach dem Amoklauf beschrieb die gebürtige Dresdnerin im Tagesspiegel eine Gruppe von anscheinend noch immer schwer traumatisierten Hinterbliebenen sowie Zeuginnen und Zeugen der Tat. Sie zitierte eine aus Weimar stammende Frau, die den Erfurter Amoklauf zwar nicht miterlebt hat, aber Jahre später einen Anschlag in Palästina überlebte, und das Thema "Amok" als Merkmal einer gesamten Generation identifizierte: "Heute denke ich: Robert Steinhäuser hat mit voller Wucht in den waidwunden Osten nach 1989 geschossen. In eine Gesellschaft, die nach vorn hin sanierte und sanierte und doch ohne Boden blieb. Niemand fühlte sich zuständig. Die Politik versank im Sumpf. Mafia, Korruption, Ost-West-Deals. Nichts galt. Keiner, dem man geglaubt hätte. Irgendwann schwieg jeder von etwas anderem. Wir Jungen haben da alle unseren Schlag wegbekommen."

Amok und Terror in Deutschland nach 2002

Sieben Jahre nach Erfurt gab es einen Amoklauf an einer Realschule in Winnenden, bei dem 15 Menschen und der Täter den Tod fanden. In der Rückschau auf diese Tat schrieb der Spiegel 2019 von einer daraus entstandenen Elterninitiative: "Viele Eltern, die ihre Kinder verloren hatten, schlossen sich in einem Aktionsbündnis zusammen. Sie kämpften unter anderem für eine Verschärfung des Waffenrechts und konnten dabei erste Teilerfolge erzielen. So wurde die Altersgrenze für das Schießen mit großkalibrigen Sportwaffen auf 18 Jahre erhöht."

Was natürlich nicht bedeutete, dass nicht weiterhin Männer Schusswaffen benutzten, und Medien darüber berichteten. Der rechtsradikal motivierte Anschlag in einem Einkaufszentrum in München 2016, bei dem neun Opfer und der Täter starben, wurde aufgrund anderer Techniken und allgegenwärtiger Smartphones fast live übertragen, und die Bild-Zeitung sowie die Bild am Sonntag veröffentlichte damals Bilder der Opfer, ohne deren Angehörige um Einwilligung gebeten zu haben, in der Folge verteilte der Presserat öffentliche Rügen an den Springer-Verlag.

Vom Anschlag am Berliner Breitscheidplatz im Dezember 2016 mit insgesamt 13 Toten tauchten Jahre später immer noch neue Bilder und Bewegtmaterial auf. Die Berichterstattung rief mehrere Beschwerden beim Presserat auf den Plan, unter anderem wurde kritisiert, dass ein Journalist der Berliner Morgenpost kurz nach der Tat ein Live-Video vom Tatort gestreamt hatte, auf dem man auch Verletzte erkannte.

Die digitalen und schneller einsetzbaren Möglichkeiten, Geschehnisse in authentischen Bildern zu dokumentieren, führten also nicht nur zu einer direkteren Berichterstattung, sondern zu einer respektloseren. Ob die Bilderflut in der Rückschau sogar (re-)traumatisierte, wird sich erst in Zukunft zeigen. Darüber hinaus evozierten die Taten vor allem der nicht-deutschen Täter Aussagen wie die Stefan Austs in der Welt genau ein Jahr nach dem Massaker am Breitscheidplatz, der in seinem Text der Idee einer Gesellschaft, in der Geflüchtete selbstverständlich willkommen sind, eine Absage erteilte: "Das Kanzlerinnenwort 'Wir schaffen das!' (ist) am 19. Dezember 2016 auf dem Breitscheidplatz unter die Räder eines Sattelschleppers gekommen". Weiter geht es mit einem Abgesang auf die deutsche Flüchtlingspolitik, denn die Tat zeige laut Aust, "dass sich islamistische Terroristen wie 'Fische im Wasser' bewegen konnten und bewegen können, in der Reisewelle vor allem junge Männer ohne Personalpapiere aus dem nahöstlichen und nordafrikanischen Raum, die als 'Flüchtlinge' unter dem humanitären Regenbogen 'Refugees Welcome' ins Land strömten und weiter strömen."

So wurden Taten wie der Amoklauf in Erfurt in der retrospektiven Berichterstattung teilweise institutionalisiert, etwa um nie valide nachgewiesene Theorien zum Computerspiel als Gewalttrigger zu stärken, Generationen in Ansätzen zu pauschalisieren, oder eine gesamtgemeinschaftliche Idee aufgrund der Tat eines Einzelnen zu denunzieren. Dass die Täter vor allem psychisch schwerkrank waren (bei monströsen Taten wie diesen muss man davon ausgehen), und damit keinesfalls symptomatisch für eine Generation, einen kulturellen Hintergrund oder gefährliche Mediennutzung, wird medial selten diskutiert – vielleicht, weil es eine komplexe und sensible Angelegenheit ist, diesem Thema nachzugehen, ohne wieder psychische Krankheiten zu diskreditieren und psychisch kranke Menschen zu pauschalisieren.

Apropos unzulässige Pauschalisierung – eine Gemeinsamkeit liegt auf der Hand. Weder Aust, noch die Bild-Zeitung, noch Geipel, Gaschke oder andere Autorinnen und Autoren differenzieren genauer, was sämtliche Täter der Amokläufe und Anschläge eint, obwohl sie aus unterschiedlichen sozialen, kulturellen und sicher auch psychologischen Hintergründen stammen: ihr Geschlecht.