Bild von Zeitungen und historisches Foto eines Mannes mit Bart. Darüber stilisiert die Umrisse Westdeutschlands mit Auge, welches Richtung Ostdeutschland blickt. 11 min
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MEDIEN360G fragt 30 Jahre nach der Deutschen Einheit: Welche Rolle spielen Medien bei der Bewertung Ostdeutschlands? Und wer gibt den Ton an?

Mi 30.09.2020 10:33Uhr 10:34 min

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30 Jahre nach der Wiedervereinigung Die Medien sind längst nicht wiedervereint

01. Oktober 2020, 09:55 Uhr

In diesen Tagen feiert Deutschland 30 Jahre Wiedervereinigung. Das Jubiläum ist Anlass für die bundesdeutschen Medien, über die Entwicklungen von damals zu berichten und eine Bilanz zu ziehen. Da werden Reporter ausgesandt, Gastbeiträge eingeholt, Interviews geführt. Aber wie steht es eigentlich um die Wiedervereinigung der Medien selbst?

Marieke Reimann, bis Ende September Chefredakteurin des jungen ZEIT-ONLINE-Ablegers ze:tt, brachte es schon im August 2019 in einem YouTube-Video auf den Punkt. Damals forderte sie die Medien auf, endlich die peinliche Berichterstattung über Ostdeutschland einzustellen.

Im Interview mit MEDIEN360G bekräftigt sie ihre Kritik: „Das Wording ist in den letzten Jahren oft gewesen: eher abgehängt, eher ärmlich, eher zurückgelassen. Also ein ganz klarer Fokus darauf, dass eine Masse eindeutig negative Eigenschaften hat.“ Dabei gebe es gar nicht „den Osten“ und die dort lebende Masse. Ostdeutschland habe viele Gesichter, viele Menschen und viele Geschichten, die nicht alle über einen Kamm geschert werden dürften.

Eine originär ostdeutsche Stimme fehlt

Stilisierte Grafik: Fußballspieler macht Fallrückzieher, Zuschauer sitzt gelangweilt auf Sitzgelegenheit. 2 min
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Das Bild, welches Medien von Ostdeutschland vermitteln, widerspricht oftmals der persönlichen Wahrnehmung der Menschen, die im Osten Deutschlands leben. Warum unterscheiden sich Medienbild und Lebenswirklichkeit?

Do 01.10.2020 15:21Uhr 02:00 min

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Auch Dr. Lutz Mükke, Herausgeber des Buches Wie die Medien zur Freiheit kamen. Zum Wandel der ostdeutschen Medienlandschaft seit dem Untergang der DDR, kritisiert, dass ostdeutsche Perspektiven in der überregionalen Berichterstattung zu wenig vorkommen. Das sei auch ein strukturelles Problem: „Eine originär ostdeutsche Stimme in dem sehr wichtigen Chor der Mächtigen - Feuilleton-, Politik- und Wirtschaftsressorts - fehlt“, so Mükke im Interview mit MEDIEN360G. Mit dem "Chor der Mächtigen" meint er so bedeutende, überregionale Leitmedien wie Spiegel, FAZ, Süddeutsche Zeitung, Welt oder auch taz. Allesamt Zeitungen und Zeitschriften, die aus Westdeutschland kommen und auch schon vor der Wiedervereinigung dort erfolgreich waren.

ZEIT mit Regionalseiten

Inzwischen unterhalten diese und andere Titel Korrespondenten-Büros in ostdeutschen Großstädten. Die meisten dieser Journalistinnen und Journalisten sitzen in Sachsen, weil dies der wirtschaftlich stärkste Standort ist. Von dort aus versorgen die Journalisten dann häufig gleich mal die Nachbarbundesländer Sachsen-Anhalt und Thüringen mit. Immerhin: Inzwischen haben viele dieser Journalistinnen und Journalisten eine ostdeutsche Biographie.

Einen Sonderweg hat die Wochenzeitung ZEIT gewählt. Schon 2010 entschied sich die Zeitung, wöchentlich drei Seiten aus der Region zu bringen – ähnlich wie sie es in der Schweiz oder Österreich macht. Aus der ZEIT in Sachsen ist inzwischen ZEIT im Osten geworden. Die vierköpfige Redaktion aus Leipzig bringt außerdem regelmäßig Themen ins Hauptblatt ein. „Wir wollen so ein Versäumnis ausgleichen“, sagt Redaktionsleiter Martin Machowecz im MEDIEN360G-Interview.

Die Berichterstattung über Russland trennt

Aber was sind diese besonderen Ost-Perspektiven? Da gibt es unterschiedliche Ebenen: In der Geschichtswissenschaft spricht man von „Familienwissen“, das von Generation zu Generation weitergegeben wird. Außerdem gibt es das „implizite Gedächtnis“, das Erinnerungen, Gerüchte und Erfahrungen speichert. Und das wirkt wiederum auf die Menschen und wie sie ihre Umwelt wahrnehmen.

Porträt Marieke Reimann 11 min
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Für ze:tt-Chefredakteurin Marieke Reimann kommt Ostdeutschland in den überregionalen Medien deutlich zu schlecht weg. Sie fordert, die Region stärker in den Medien stattfinden zu lassen.

Do 24.09.2020 15:03Uhr 11:17 min

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Wenn sich dieses Wissen und diese Erfahrungen und die Berichterstattung der Medien widersprechen, führt das zu Problemen. Viele Menschen in Ostdeutschland finden sich und ihren Alltag in der Berichterstattung nicht wieder. Als Folge distanzieren sich viele und kritisieren die „Mainstream-Medien“. Marieke Reimann: „Also wenn du als ostdeutsch sozialisierter Mensch durch Deutschland läufst und einfach merkst, dass deine Lebenswirklichkeit, die Werte und Traditionen, mit denen du aufgewachsen bist, nicht stattfinden um dich herum, fehlt dir so ein bisschen diese Spiegelung, dass du auch ein Stück weit normal bist und dir diese Normalität auch zugestanden wird.“

Diese andere, ostdeutsche Perspektive lässt sich auch an ganz konkreten Inhalten festmachen. Lutz Mükke: „Themenbereiche, die in Ostdeutschland mit hoher Sicherheit ganz anders gesehen werden als in Westdeutschland, sind zum Beispiel das Thema Russland, das transatlantische Verhältnis, die Hergänge um die Wiedervereinigung und die Deindustrialisierung im Osten sowie das Verhältnis von Ost- zu Westdeutschland insgesamt.“

Transformationsleistung als neues Klischee?  

Die freie Journalistin Antonie Rietzschel lebte fast fünf Jahre nach ihrem Studium in München, wo sie als Online-Reporterin für die Süddeutsche Zeitung arbeitete und oft in die neuen Bundesländer geschickt wurde. Schon die Bezeichnung „Osten“ stört sie: „Ich habe ein bisschen ein Problem, das unter diesem Label Osten laufen zu lassen, weil das eben genau das repetiert, was mir aufgedrückt wurde“, erzählt sie im Gespräch mit MEDIEN360G. „Ich wurde zur Ostdeutschen, als ich in Bremen studiert habe. Ich wurde zur Ostdeutschen, als ich München gearbeitet habe – ständig wurde meine Herkunft thematisiert.“ 

Heute arbeitet sie im Büro der Süddeutschen Zeitung in Leipzig und plädiert für mehr Berichterstattung aus der Region. Denn nur wer vor Ort lebe und Kontakte pflege, könne die unterschiedlichen Regionen und Landschaften richtig einschätzen.

Gleichzeitig warnt Rietzschel davor, dass das Pendel der Berichterstattung nun nicht von den negativen Klischees über Ostdeutschland in die andere Richtung ausschlagen dürfe. Wenn jetzt die Erzählung von der „wahnsinnigen Transformationsleistung“ als alleiniges Interpretationsmuster die Überhand gewinnen würde, sei das genau so falsch: „Ich finde, das ist ein Narrativ, das sehr, sehr stark geworden ist als Gegenreaktion auf diese bisherige einseitige Perspektive. Und das ist für mich wiederum eine neue Schieflage.“

Weitere Infos zum Autoren Peter Stawowy

Peter Stawowy, Jahrgang 1971, kam 2003 nach Dresden. Der gebürtige Rheinländer lernte früh, dass man als Wessi im Osten sehr vorsichtig sein muss, wenn es darum geht, den Osten zu erklären. Nach verschiedenen Stationen, u.a. einer Ausbildung zum Medienjournalisten und als Chefredakteur einer großen Jugendzeitschrift, arbeitet er seit Januar 2020 für MDR MEDIEN360G.