MEDIEN360G Podiumsdiskussion

11. Dezember 2019, 14:40 Uhr

Machen Computerspiele süchtig? Sind Videospiele das neue Leitmedium oder die Droge des digitalen Zeitalters? Auf Grundlage des neuen ARD-Films "Play" diskutierte MEDIEN360G diese Fragen mit Experten im MDR Landesfunkhaus Thüringen.

Teaserbild zur Podiumsdiskussion zu "PLAY" - Video 77 min
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Machen Computerspiele süchtig? Sind Videospiele das neue Leitmedium oder die Droge des digitalen Zeitalters? Auf Grundlage des neuen ARD-Films "Play" diskutierte MEDIEN360G diese Fragen mit Experten.

Mi 04.09.2019 13:45Uhr 77:05 min

https://www.mdr.de/medien360g/medienkultur/gaming-play-podiumsdiskussion-100.html

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Mit Virtual Reality Games ist in den letzten Jahren eine gänzlich neue Medienform entstanden, die von den Nutzenden nicht mehr nur konsumiert, sondern vor allem erlebt wird. Spielende werden in neue Welten gezogen und können ihrem Alltag so jederzeit entfliehen.

Hinweis: Text und Podiumsdiskussion beziehen sich stellenweise auf die ARD-Produktion "PLAY" und könnten bestimmte Geschehnisse des Films vorwegnehmen.

Die Diskussion

Nach einer exklusiven Preview des Films "PLAY" (der ganze Film ist hier abrufbar), eine Woche vor TV-Ausstrahlung, wurde im MDR Landesfunkhaus Thüringen kräftig diskutiert - über den Film und seine Rezeption, über Spielsucht und ihre Ursachen, über Videospiele und deren Wirkung.

Die Diskutanten auf dem Podium v.l.n.r.: Hamid Baroua (Drehbuchautor "PLAY"), Dr. Astrid Carolus (Medienpsychologin), Steffen Grimberg (MEDIEN360G), Elisabeth Secker (USK), Christian Groß (Suchttherapeut)
Die Diskutanten auf dem Podium v.l.n.r.: Hamid Baroua (Drehbuchautor "PLAY"), Dr. Astrid Carolus (Medienpsychologin), Steffen Grimberg (MEDIEN360G), Elisabeth Secker (USK), Christian Groß (Suchttherapeut) Bildrechte: MEDIEN360G

Auf dem Podium traf der Drehbuchautor und Co-Produzent von "PLAY", Hamid Baroua, auf Elisabeth Secker, Geschäftsführerin der USK, Christian Groß, Suchttherapeut und 2. Vorsitzender des Fachverbands für Medienabhängigkeit und die Medienpsychologin Dr. Astrid Carolus. Moderiert wurde die Runde von MEDIEN360G-Redakteur Steffen Grimberg.

"PLAY" - Zukunftsszenario oder realitätsferne Fiktion?

Alles in allem wird der Film von den Experten positiv aufgenommen. Er sei mitreißend und habe es trotzdem geschafft, einen differenzierten Blick auf die Thematik zu werfen.

Zum Spielfilm "PLAY"

Der Spielfilm „PLAY zeigt, wie diese Alltagsflucht zur Spielesucht wird. In der Auftragsproduktion von Bayerischem Rundfunk und ARD Degeto geht es um die einsame, 17-jährige Jennifer, die ihre Freizeit in dem Virtual Reality Spiel „Avalonia“ verbringt. Nur dort scheint sie glücklich zu sein. Dabei gerät ihr Leben zwischen realer und virtueller Welt vollkommen aus der Balance.

Elisabeth Secker lobt, dass deutlich geworden sei, wie viel Selbsthass und Unsicherheit bei der Protagonistin auch schon vor dem Kontakt mit dem Spiel eine Rolle gespielt habe - das Spiel also eher als Katalysator fungiert habe denn als Ursache für die Spielsucht. Die Suchtsymptome seien den Großteil des Films über realistisch dargestellt und orientierten sich an realen Berichten aus der Suchttherapie, so die Meinung der Runde.

Ich erlebe es ganz häufig, dass viele meiner Patienten irgendwann eine stärkere Liebe für ihre Spielfigur als für sich selbst und das wurde ganz toll umgesetzt.

Christian Groß Suchttherapeut

Gleichzeitig kritisieren die Experten die doch auch sehr drastische Darstellung gen Ende des Films. "Nicht jeder Spieler ersticht am Ende aus Versehen seinen Vater" merkt Astrid Carolus an und betont damit, dass mit der Produktion wider Willen auch das Klischee bedient werde, Videospiele seien grundsätzlich gefährlich und könnten Psychosen auslösen. Diesen Eindruck bestätigt auch die Spieledesignerin Jana Reinhardt, die im Publikum sitzt und mit solchen Vorurteilen häufiger konfrontiert ist:

"Wir sind noch sehr in der Rechtfertigung. Viele machen nicht den Unterschied, was gibt's für Genres, für wen sind diese Spiele gemacht. Es besteht ein Graben zwischen denen, die spielen und denen, die nicht spielen. Ich hätte Angst, dass wenn meine Eltern den Film sehen, am Ende nur hängen bleibt: Spiele machen süchtig."

Bildergalerie Eindrücke von der Preview-Veranstaltung zu "PLAY"

Podiumsteilnehmer und Veranstalter bei Absprachen vor der Podiumsdiskussion
Podiumsteilnehmer und Veranstalter bei Absprachen vor der Podiumsdiskussion Bildrechte: MEDIEN360G
Podiumsteilnehmer und Veranstalter bei Absprachen vor der Podiumsdiskussion
Podiumsteilnehmer und Veranstalter bei Absprachen vor der Podiumsdiskussion Bildrechte: MEDIEN360G
Landesfunkhauschef Boris Lochthofen begrüßt das Publikum zur Podiumsdiskussion "Videospiele - neues Leitmedium oder Droge des digitalen Zeitalters?"
Landesfunkhauschef Boris Lochthofen begrüßt das Publikum zur Podiumsdiskussion "Videospiele - neues Leitmedium oder Droge des digitalen Zeitalters?" Bildrechte: MEDIEN360G
Das Publikum folgt aufmerksam der Diskussion auf dem Podium.
Das Publikum folgt aufmerksam der Diskussion auf dem Podium. Bildrechte: MEDIEN360G
Co-Moderator Daniel Kehr im Gespräch mit Spieledesignerin Jana Reinhardt
Co-Moderator Daniel Kehr im Gespräch mit Spieledesignerin Jana Reinhardt Bildrechte: MEDIEN360G
Moderator Steffen Grimberg (MEDIEN360G) im Gespräch mit Elisabeth Secker (USK) und Christian Groß (Suchttherapeut)
Moderator Steffen Grimberg (MEDIEN360G) im Gespräch mit Elisabeth Secker (USK) und Christian Groß (Suchttherapeut) Bildrechte: MEDIEN360G
Drehbuchautor Hamid Baroua und Medienpsychologin Dr. Astrid Carolus im Gespräch mit Moderator Steffen Grimbert (MEDIEN360G)
Drehbuchautor Hamid Baroua und Medienpsychologin Dr. Astrid Carolus im Gespräch mit Moderator Steffen Grimbert (MEDIEN360G) Bildrechte: MEDIEN360G
Der 18-jährige Gamer Luca Forrester spricht über seine Erfahrungen mit Videospielen
Der 18-jährige Gamer Luca Forrester spricht über seine Erfahrungen mit Videospielen Bildrechte: MEDIEN360G
Medienpädagoge Gerrit Neundorf meldet sich aus dem Publikum zu Wort
Medienpädagoge Gerrit Neundorf meldet sich aus dem Publikum zu Wort Bildrechte: MEDIEN360G
Die Diskutanten auf dem Podium v.l.n.r.: Hamid Baroua (Drehbuchautor "PLAY"), Dr. Astrid Carolus (Medienpsychologin), Steffen Grimberg (MEDIEN360G), Elisabeth Secker (USK), Christian Groß (Suchttherapeut)
Die Diskutanten auf dem Podium v.l.n.r.: Hamid Baroua (Drehbuchautor "PLAY"), Dr. Astrid Carolus (Medienpsychologin), Steffen Grimberg (MEDIEN360G), Elisabeth Secker (USK), Christian Groß (Suchttherapeut) Bildrechte: MEDIEN360G
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Das Publikum folgt aufmerksam der Diskussion auf dem Podium.
Das Publikum folgt aufmerksam der Diskussion auf dem Podium. Bildrechte: MEDIEN360G

Videospielsucht - Schuld der Spieler oder der Spiele?

Das Thema Sucht prägt die weitere Debatte. Seit 2019 erkennt die Weltgesundheitsorganisation WHO Videospielsucht als Krankheit an - die Reaktionen dazu fallen unterschiedlich aus. Der Spieleverband game, der "aus terminlichen Gründen" selbst keinen Vertreter zur Diskussion entsenden konnte, wird in Form eines Videoeinspielers seines Geschäftsführers Felix Falk vertreten, welcher seine Skepsis gegenüber der WHO-Anerkennung deutlich macht. Videospielsucht sei wie "Internet- und Smartphonesucht" noch nicht eindeutig zu definieren. Eine solche Einschätzung käme daher zu früh. Das Podium stimmt ihm insofern zu, als dass sich die Wissenschaft noch nicht einig sei, wie die Diagnostik genau aussieht. Das solle aber nicht davon ablenken, dass Videospielsucht eine potentielle Gefahr darstelle.

Die Computerspielindustrie ist möglicherweise mit so einem Herangehen (der Annerkennung von Videospielsucht als Krankheit, Anm.d.Red.) gar nicht so einverstanden, was verständlich ist, das hat wirtschaftliche Gründe, aber es reicht nicht, schlicht zu sagen, dass es das so nicht gibt.

Dr. Astrid Carolus Medienpsychologin

Christian Groß erlebt dieses Problem in seiner täglichen Arbeit als Suchttherapeut. Als Hauptursache für die Entwicklung einer Spielsucht sieht er, dass die Betroffenen häufig fehlende Bindung und Anerkennung im "realen Leben" erleben. Ein Grundbedürfnis, das viele Spieleentwickler inzwischen sehr gut zu erfüllen wissen. Daneben beobachtet er, dass manche Entwickler - nicht alle! - das Spielerlebnis bewusst so gestalten, dass Suchtmechanismen verstärkt werden könnten. Er meint damit neben Endlosspielsystemen insbesondere soziale Kontextaufgaben, also Aufgaben, die nur im Team zu erledigen sind. Das baue einen enormen Druck auf. "Ich muss dann online sein, der andere ist es ja auch." Nicht zu unterschätzen seien auch Zeit (und mitunter Geld), das die Gamer zu einem gewissen Zeitpunkt in ihr Spiel investiert hätten, ergänzt Astrid Carolus. "Spielen dauert. Wir müssen üben, trainieren, besser werden, das kostet Zeit!" Je mehr Lebenszeit Spielende bereits in den Avatar oder die Entwicklung des Spielverlaufs gesteckt hätten, desto schwerer würde es vielen fallen, sich davon wieder zu lösen. Gleichzeitig fände eine zunehmende Identifizierung mit den Spielfiguren statt. Etwas, das sie auch in anderen Medien, beispielsweise beim sogenannten "Bingewatching" auf Streamingplattformen beobachte.

Der 18-jährige Gamer Luca Forrester spricht über seine Erfahrungen mit Videospielen
Der 18-jährige Gamer Luca Forrester spricht über seine Erfahrungen mit Videospielen Bildrechte: MEDIEN360G

Als ebenfalls möglicherweise suchtgefährdend nennt der Moderator sogenannte Lootboxen, also im Spiel eingebaute Glücksspielelemente, die sich nicht beeinflussen lassen - beispielsweise Schatztruhen, die die Chance auf den Gewinn bestimmter Items versprechen, welche im Spiel von Vorteil sein können - und die Geld kosten.

Der 18-jährige Luca Forrester, der von Co-Moderator Daniel Kehr (MEDIEN360G) im Publikum befragt wird, ist selbst leidenschaftlicher Gamer. Auch in den Spielen, die er spielt, tauchen seit einiger Zeit vermehrt solche Lootboxen auf. Er fände das nicht in Ordnung.

In Kanada zum Beispiel ist vorgegeben, dass die Chancen für jedes Item angegeben sein müssen. Das heißt, die Spieler dort wissen: Okay, ich habe nur eine Chance von 0,04%, dass ich das Item bekomme, das ich haben möchte - geb ich mein Geld halt nicht aus. Das ist hier und in Amerika nicht so, deswegen wird da im Schnitt mehr Geld ausgegeben.

Luca Forrester Gamer

Es sei auch ein Unterschied, ob der mögliche Gewinn nur "kosmetische Items" enthalte, zum Beispiel Kleidungsstücke für den Spiel-Avatar oder aber beispielsweise Waffen, die einen unfairen Vorteil gegenüber anderen Spielern bringen. Auch wenn Luca generell nichts von Lootboxen hält, muss er zugeben, dass auch er nicht immer ganz frei davon ist, sich von solchen Belohnungen beeinflussen und locken zu lassen.

Wie damit umgehen?

Während Elisabeth Secker betont, dass sowohl gesetzlicher als auch präventiver Jugendschutz wichtig sei und Christian Groß seinen Wunsch nach "Medienkompetenz als Schulfach" äußert, weist Astrid Carolus darauf hin, dass "nur weil ein Spiel nicht für einen 14jährigen erlaubt ist, heißt das nicht, dass er es nicht spielt". Wir müssten vor allem als Gesellschaft medienkompetent sein und das nicht nur von Kindern erwarten, sondern vor allem auch von Eltern und Lehrern, bei denen es noch viel Nachholbedarf gebe.

Ich sehe Eltern beim Elternabend, die diskutieren über ein Spiel wie Fortnite, ohne jemals selbst drin gewesen zu sein.

Hamid Baroua Drehbuchautor von "PLAY"

Es fehle an tatsächlichem Interesse und inhaltlicher Auseinandersetzung vieler Erwachsener mit den Spielen, die ihre Kinder spielen. Und nicht nur an den Spielen - denn, ergänzt Medienpädagoge Gerrit Neundorf schließlich aus dem Publikum, dass sich tatsächlich eine Computerspielabhängigkeit entwickelt, läge fast immer in Ursachen außerhalb des Spiels begründet. Man müsse viel mehr hinschauen, warum Kinder bestimmte Spiele zu brauchen scheinen, was sie damit zu erfüllen versuchen, was ihnen in der "echten Welt" fehlt. Weniger als die Spiele und ihre potentiellen Trigger sollten die Menschen und ihre Probleme im Fokus stehen.

"Und wenn das Spiel ein Symptom sein sollte, dann bin ich sehr froh darüber, wenn Eltern dann endlich erkennen, bei meinem Kind ist vielleicht nicht alles da, psychisch, wie es sein sollte, damit es voll in dieser Gesellschaft integriert sein kann."