MEDIEN360G im Gespräch mit... Claudius Boy

02. September 2019, 22:09 Uhr

Claudius Boy ist Sozialarbeiter bei "Lost in Space", einer Beratungsstelle der Caritas für Computer- und Internetsüchtige in Berlin. Unter anderem gibt es hier Hilfe für Computer- und Videospielsüchtige.

Daniel Kehr: Herr Boy, Sie arbeiten bei der Caritas-Beratungsstelle „Lost in Space“ für Computerspiele- und Internetsüchtige. Wer kommt denn zu Ihnen?

Claudius Boy 8 min
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Claudius Boy ist Sozialarbeiter bei "Lost in Space", einer Beratungsstelle der Caritas für Computer- und Internetsüchtige in Berlin. Unter anderem gibt es hier Hilfe für Computer- und Videospielsüchtige.

Mo 02.09.2019 17:27Uhr 07:31 min

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Claudius Boy: Die Gruppe von Leuten, die zu uns kommen teilt sich ein in Angehörige und selbst Betroffene. Die Angehörigen sind statistisch im letzten Jahr in der Überzahl. Das ist neu für uns. Das heißt, dass Eltern zu uns kommen, die um Kinder und Jugendliche besorgt sind, weil die stundenlang vor dem Rechner sitzen und es da viele Probleme gibt. Der andere Teil, der zu uns kommt, sind die Betroffenen selbst. Das Durchschnittsalter ist da etwa 25 Jahre aufwärts und die sagen selbst, sie haben ein Problem mit dem Computerkonsum. Nicht nur Spielekonsum, generell Computerkonsum. Es gibt dann ein Erstgespräch. Da versuchen wir abzuklären, wie stark die Problematik ist und was die Erwartungshaltung der Leute ist, die zu uns kommen. Dann haben wir bei uns Gruppen, die wir anbieten: zuerst gibt es eine Motivationsgruppe, wo herausgefunden werden soll: Bin ich eigentlich abgängig oder nicht? So kann man das auch in Vergleich setzen zu den anderen Leuten.

Daniel Kehr: Die WHO hat Computer- und Videospielsucht als offizielle Krankheit anerkannt. Wie beeinflusst das Ihre Arbeit?

Claudius Boy: Nicht in erster Linie, da wir hier keine Therapie machen, sondern Beratung und das ist ein therapeutisches Manual. Aber wir denken, dass durch die gesellschaftliche Anerkennung natürlich Leute zu uns in die Beratung finden, weil sie merken: Da ist ein Problem, das gibt es sogar als Krankheit. Und vielleicht ist das dann sogar der Grund, zu einer Beratungsstelle zu gehen.

Daniel Kehr: Haben Sie das Gefühl, dass Computer- und Videospielsucht mittlerweile ernster genommen wird?

Claudius Boy: Durch die Anerkennung auf jeden Fall. Wir erleben hier viele Angehörige, Eltern, die besorgt um ihre Kinder sind, die das ernst nehmen, weil sie merken, dass sie Regeln den Kindern gegenüber nicht mehr durchsetzen können. Und auch betroffene Personen selbst, die merken: Ich bin da jetzt seit zehn Jahren dabei und spiele über zehn Stunden am Tag ein bestimmtes Computerspiel – da ist auf jeden Fall eine gewisse Ernsthaftigkeit. Natürlich schaue ich da geschärft darauf, weil ich den ganzen Tag damit zu tun habe. Hier kommen eher Leute hin, die damit ein Problem haben, als Leute, die sagen: Ich spiele zwar viel, kriege aber alles geregelt. Ich kriege also sehr einseitig eher Leute mit, die da ein Problem haben. Von daher ist mein Blick da etwas einseitig, aber aus meiner Perspektive sehe ich eine Ernsthaftigkeit und auch, dass es ein größeres Problembewusstsein dafür gibt.

Daniel Kehr: Bemerken Sie einen Anstieg an Suchtfällen?

Claudius Boy: Ja, unsere Zahlen sind steigend. Wenn ich ein bisschen nach links und rechts in andere Beratungsstellen gucke, die stoffgebundene Süchte haben, dann höre ich da schon manchmal von den Kollegen, dass es weniger Leute werden, die zu ihnen kommen – ich kann das hier nicht bestätigen, wir haben auf jeden Fall steigende Zahlen. In den letzten 12 Jahren, in denen es die Einrichtung hier gibt, steigen die Zahlen jedes Jahr an.

Daniel Kehr: Wie kann man Spieler besser schützen?

Claudius Boy: In erster Linie dadurch, dass es überhaupt eine Anerkennung als Sucht gibt. Das, was jetzt gerade passiert. Es gibt die Möglichkeit einer Diagnose. Ich glaube, das ist der Anfang, dass man erstmal unterscheiden kann: Ist das ein süchtiges Verhalten oder ist es ein missbräuchliches Verhalten? Und dann natürlich mit viel Aufklärung. Das ist auch eine Arbeit, die wir hier machen. Neben der Beratung von Betroffenen und Angehörigen gehen wir auch an Schulen mit Kollegen und mittlerweile auch an Kindergärten, um da auch mit allen Leuten frühzeitig ins Gespräch zu kommen und für mehr Prävention zu sorgen, um eine offene Gesprächskultur über solche Faktoren zu etablieren. So, dass es auch möglich ist, dass ein Spieler sagen kann: Ich habe das Gefühl, vielleicht spiele ich zu viel. Ich muss mal herausfinden: Tue ich das eigentlich oder ist es noch im Rahmen? Und so kommen auch Leute zu uns.

Daniel Kehr: Brauchen wir mehr Regulierung?

Claudius Boy: In gewisser Hinsicht gibt es da natürlich auch eine Verantwortung von Seiten der Politik, einzugreifen. Ich weiß nicht, ob man es nicht vielleicht genauer mit Alkopops vergleichen kann. Es geht nicht da nicht darum, qualitativ hochwertige Alkoholika zu produzieren. Ein gutes Spiel zu produzieren ist generell ja erst mal eine gute Idee. Ich glaube, wenn es dann darum geht, dass Spielehersteller herausbekommen, dass sie damit viel Geld machen können, dann würde ich sagen: Okay, da ist der Staat auch in der Verantwortung, das aufzudecken und zumindest davor zu warnen. Das ist ja bei Tabak und Alkohol und anderen stoffgebundenen Süchten auch nicht anders. Ich finde, da ist es auch wichtig, zumindest darauf aufmerksam zu machen und es zu regulieren.

Daniel Kehr: Welche Spiele sind denn besonders suchtgefährdend?

Claudius Boy: Da fallen mir die Klassiker ein: Das fängt natürlich mit World of Warcraft an, League of Legends ist ein großer Titel und mittlerweile Fortnite natürlich. Wir erleben da aber auch Unterschiede: Die Leute, die selbst betroffen sind vom Spielen und sagen: Ich brauche jetzt Hilfe, die Altersklasse 25 aufwärts – da ist es so, dass es eher Spieletitel sind, die eine gewisse Zeit brauchen, damit der einzelne Spieler merkt: Ich bin davon abhängig. Diejenigen, die selbst betroffen sind, haben von meinem Gefühl her eher ältere Spieletitel im Gepäck und die Eltern, die zu uns kommen, kommen aufgrund der aktuellen Spieletitel, die auch populär sind und da ist halt Fortnite momentan zu nennen.

Daniel Kehr: Welche Rolle spielt sozialer Druck gerade bei Kindern?

Claudius Boy: Das, was ich oft von Eltern höre – auch gerade aktuell wieder – , ist, dass Eltern uns berichten: Ich will im Prinzip nicht der Buhmann sein und meinem Kind das verbieten, weil der in der Klasse das ja auch spielt. Und dann würde eine Ausgrenzung stattfinden. Das kann ich natürlich auch nachvollziehen, dass da ein sozialer Druck einfach stattfindet, der natürlich dazu führt, dass auch junge Leute sagen: Ich muss das halt auch mitspielen, um im Klassenverband Anerkennung zu bekommen. Unsere Antwort darauf ist, dass es natürlich Kinder und Jugendliche auch gerne nutzen als Druckmittel den Eltern gegenüber und dass der beste Weg wahrscheinlich der zum Lehrer ist und das bei einem Elternsprechtag beispielsweise mal zum Thema zu machen. Die Eltern sind da, denke ich, in der Verantwortung, in den Austausch zu gehen.