Vom Leserbrief zur @Reply Wie soziale Medien Journalismus verändern
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Recherche in Echtzeit und bei Twitter, Leser-Diskussionen bei Facebook statt per Leser-Brief: Die sozialen wirbeln die Welt der klassischen Medien ganz schön durcheinander. Das ist ebenso bereichernd wie eine enorme Herausforderung. MEDIEN360G hat dazu mit dem Medientrainer Claus Hesseling sowie mit Juliane Leopold gesprochen, die die Webseite tagesschau.de verantwortet.

Ein beliebter Vergleich ist die Sache mit den Kutschen. Über Jahrhunderte hatten diejenigen, die eine solche samt Pferd ihr Eigen nannten, einen ziemlich sicheren Job. Sollte es weiter gehen, als die Füße tragen, waren es Kutscher, auf die man sich verließ.
Doch dann, BÄM!, wurde erst die Eisenbahn und dann das Auto erfunden, und plötzlich mussten die bequem gewordenen Kutscher sehen, wo sie blieben. Weiterhin ihr bewährtes Ding machen und auf die Kundschaft vertrauen, die Angst vor dem möglich gewordenen Geschwindigkeitsrausch hatten? Auf Hochzeits-Kutschen-Fahrten umschwenken? Autofahren lernen?
Klar war nur: In ihrer Branche hatte sich etwas massiv verändert, und das erforderte ihrerseits Aktivität. So ähnlich geht es den Journalisten, seitdem sich im Laufe der Nullerjahre soziale Medien in diesem immer populärer werdenden Internet ausbreiteten. Dabei ist nicht alles schlecht, was seitdem passiert, nur halt radikal anders als gewohnt.
Vom Druckschluss zur Echtzeit-Berichterstattung
Schreibmaschinen, Fax-Geräte, und eine festgelegte Uhrzeit, zu der die Nachrichtensendungen laufen oder die Zeitung jeden Abend fertig werden musste, damit sie noch gedruckt und damit pünktlich zum Frühstück am nächsten Tag an die Leser verteilt werden konnte. So gemütlich lief das im Journalismus früher. Was in der Welt geschah, gaben Korrespondenten per Telefon und Agenturen per Ticker durch - ein kleiner Automat, aus dem Nachrichten auf Papier quollen.
Heute tickern immer noch Nachrichten durch, allerdings auf allen Kanälen und permanent. Bei Twitter, Facebook und Instagram gilt es, unzählige Accounts im Blick zu behalten. Die Möglichkeit, die wichtigen Informationen darunter wiederum online und in Echtzeit weiterzuverbreiten, erhöht den Druck zudem. Tempo, Tempo, ist hier angesagt! Gleichzeitig gilt es, alle über die Netze verbreiteten Meldungen zunächst auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Wer sagt da was, und warum, und gibt es die Person, die sich da als Augenzeuge ausgibt, überhaupt?
Nie hatten Journalisten so viele Quellen zur Verfügung, ohne den Schreibtisch verlassen zu müssen. Nie wurde ihnen aber auch so genau auf die Finger geschaut - denn besagte Accounts sind allen zugänglich, auch der Leserschaft.
Zur Person Juliane Leopold
„Social Media ist für Journalisten ein wichtiges Werkzeug geworden“ so Juliane Leopold. Sie verantwortet die Webseite tagesschau.de sowie die tagesschau-App. Leopold studierte Publizistik und Kommunikationswissenschaft an der FU Berlin. Inhaltlich beschäftigte sie sich vor allem mit den Themen Technologie, Gesellschaft und Nachrichten.
Vom Leserbrief zur @Reply
Apropos Leser. Es begab sich zu einer Zeit, da war dieser ein ominöses Wesen, welches ab und an einen Leserbrief schrieb, vielleicht mal anrief und in sehr seltenen Momenten in Lokalredaktionen auch einmal in der Tür stand. Die Wut über den vermeintlich unfairen Bericht über die diesjährige Modelleisenbahnausstellung des Schützenvereins war in dieser entschleunigten Welt rasch verraucht.
Heute ist der Facebook-Kommentar und die @Reply bei Twitter schneller abgeschickt, als ein Artikel gelesen. Der Weg der Kommunikation zwischen Sender und Empfänger ist millimeterkurz. Was oft toll ist, weil unter den Lesern immer Experten sind, die noch Wissenswertes beitragen und Fehler korrigieren können. Ganze Recherchen lassen sich mit Hilfe dieses direkten Drahtes unternehmen, wie etwa die Süddeutsche Zeitung vorgemacht hat, als sie den Münchner Mietmarkt unter die Lupe nahm bzw. nehmen ließ. Alleine hätte die Redaktion so viele aktuelle Daten nie erheben können.
Andererseits macht der permanente Kanal der Rückmeldungen auch Arbeit. In den sozialen Medien sind - Tempo, Tempo! - schnelle Reaktionen gelernt und erwünscht. Mancher Troll vermag es derweil, ordentlich auf die Stimmung zu drücken. An allen Enden der Kommunikation in den Netzwerken sitzen Menschen. Doch genau des gerät manchmal in Vergessenheit.
Von der Tageszeitung zum Facebookstream
Einst kam ein Artikel ausgedruckt als Teil einer Zeitung auf den bereits angesprochenen Frühstückstisch. Wer Nachrichten konsumieren wollte, schaltete zur vollen Stunde das Radio oder um 20 Uhr die „Tagesschau“ ein. Heute tummeln sich journalistische Inhalte neben Katzenbildern und Kochrezepten in einer persönlich zusammengestellten Timeline. Das ist toll, weil ein Text oder Video nun gleich nach der Veröffentlichung Leser und Zuschauer auf der ganzen Welt erreichen kann. Kein Abo, kein Zeitungsbote und keine UKW-Frequenz sind dafür nötig.
Andererseits ist Facebook für Viele zur Hauptnachrichtenquelle geworden. Warum sollte man die Startseiten von zehn unterschiedlichen Medien ansteuern, wenn man sich auch gebündelt in einer App aus unterschiedlichsten Quellen informieren kann? Blöd nur, dass sich dort in der Vielfalt vorwiegend Themen behaupten, die knallen und zum Liken und Weiterverbreiten einladen. Zu den zentralen Aufgaben des Journalismus in einer Demokratie zählt, die Gesellschaft fundiert zu informieren. Dass im Stream oft nur die angezeigten Überschriften gelesen werden, statt zu klicken und den kompletten Artikel zu lesen, hilft da nicht.
Hinzu kommt eine große Abhängigkeit, die Medien an die Netzwerke bindet: Verbreiten diese nicht ihre Inhalten, brechen die Nutzerzahlen ein. In Deutschland haben viele Medien das im vergangenen Jahr schmerzlich erfahren, nachdem Facebook seinen Algorithmus änderte. Seitdem dieser Nachrichten von Freunden denen anderer Anbieter vorzieht, klagen alle über Aufmerksamkeits-Verlust.
Zur Person Claus Hesseling
„Digitalen Journalismus kann man lernen“, sagt der Journalist, Autor, Dozent und Medientrainer Claus Hesseling. In Hamburg studierte er Politikwissenschaft und seit 2004 entwickelte er Seminare für Journalisten mit dem Schwerpunkt Recherche, Datenjournalismus, Onlinejournalismus und Crossmediale Produktion.
Vom Sendezentrum zum Smartphone-Besitz
Noch etwas haben die Journalisten verloren: das Monopol, Nachrichten zu verbreiten. Einst musste man Kameras, Antennen und Übertragungswagen bzw. Papier, Druckerei und Boten bezahlen können, um Informationen in die Welt zu tragen. „Gatekeeper“, also Torwächter, nannten sich die Redakteure, denn nur was sie verbreitet wissen wollten, drang auch in die Welt hinaus.
Heute reicht für den gleichen Effekt ein internetfähiges Telefon samt sozial-medialem Account völlig aus. Davon profitieren auch Journalisten, wenn sie per Facebook-Live-Video spontan und direkt von der Demo berichten können. Doch wer ist überhaupt Journalist, in einer Umgebung, in der alle permanent senden? In Deutschland darf sich jeder als solcher bezeichnen, auch wenn er sich nicht an journalistische Grundregeln wie das Beschreiben wahrhaftiger Prozesse hält.
Die sozialen Medien haben die Möglichkeit, viele Menschen zu erreichen, demokratisiert. Wesentlich unübersichtlicher geworden ist die Kommunikation damit aber auch.
Von der Pressekonferenz zum eigenen Medium
Wer wird der nächste Außenminister der USA? Wechselt Mesut Özil den Verein? Und wann erscheint das neue Album von Taylor Swift? Politiker und Prominente müssen längst keine Pressekonferenz mehr einberufen oder Stellungnahmen verschicken, wenn sie eine Botschaft unters Volk gebracht wissen wollen. Donald Trump regiert via Twitter, und auch der FC Bayern München kommuniziert über die sozialen Netze ohne Umweg über die Sport Bild mit seinen Fans. Die freuen sich über den direkten Draht. Doch unbequeme Fragen müssen Trump & Co. auf diesem Kommunikationsweg nicht fürchten.
Genau das ist aber die Aufgabe von Journalisten: Nachhaken, in Frage stellen, recherchieren. Wenn sie als Vermittler übergangen werden, ist das für die Demokratie ein Problem.
Von der Visitenkarte zur Twitter-Bio
Wie war das: Es ist nicht alles schlecht? Ganz genau, denn Journalisten profitieren natürlich von all den oben genannten Entwicklungen. Mehr Quellen, direkter Draht zum Leser, schnellere Informiertheit - die Vorteile sind unendlich. Nicht zuletzt gehört auch dazu, dass sie ganz persönlich in den sozialen Medien die Möglichkeit haben, sich als Autoren und Auskenner zu profilieren. Ein gut gepflegter Twitter-Account ist für viele Journalisten die beste Visitenkarte. Mit Informanten in Kontakt treten und neue Auftraggeber anfixen können sie dort zudem.
Vom Text zum Fazit: Ciao Kutsche!
Trauert irgend jemand den Kutschen hinterher, die einen in ewig langen Tagesreisen durch die Lande schuckelten? Sicher nicht. Dafür ist Zugfahren im Vergleich viel zu schnell und unglaublich bequem (ja, sogar mit der Deutschen Bahn). Kutscher wie Reisende mussten sich nur erst umstellen und an die neue Situation gewöhnen. In der Welt der sozialen und etablierten Medien passiert genau das gerade noch.