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Wie Westzeitungen in die DDR kamenAls die Zeitungen bunter wurden...

25. September 2020, 23:38 Uhr

An den Kauf der ersten Westzeitung können sich viele ehemalige DDR-Bürger erinnern. "BILD", "Bravo" oder Tageszeitungen: Alle verkauften sich wie "warme Semmeln". Westverlage verteilten Gratisexemplare. Das aggessive Marketing hat Folgen bis heute.

von Dagmar Weitbrecht

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Dagmar Weitbrecht:  Zum Jubiläum "30 Jahre Deutsche Einheit" geht MDR MEDIEN360G auf Spurensuche – wie war das 1989/90 als die Zeitungen anders wurden?

Als am 9. Oktober 1989 zehntausende Leipziger friedlich auf dem Stadtring demonstrierten, wurde das Ende der DDR eingeläutet. Insbesondere die SED-Zeitungen reagierten zunächst zögerlich auf die Veränderungen. West-Fernsehen und -Radio waren für die meisten DDR-Bürger eine wichtige Informationsquelle neben den Angeboten des DDR-Rundfunks. Ein rares Gut waren dagegen die Westzeitungen und -zeitschriften. Die Erinnerungen an die erste selbst gekaufte Westzeitung sind unterschiedlich:

Umfrage:

Die BILD.

Also wir kommen ja aus der "Freien-Presse-Region" - ich habe wirklich keine Ahnung, überhaupt nicht.

Ach irgendeine Illustrierte halt, mit Klatsch und Tratsch, was man halt vorher nicht hatte. Vorher hatten wir das Neue Deutschland gehabt und noch so ein Schabernack.

Die Welt, weil ich die schon aus den letzten Tagen der DDR auf West-Tour kennengelernt habe.

Dagmar Weitbrecht: Der Vertrieb von Zeitungen in der DDR war streng geregelt. Monopolist war der Postzeitungsvertrieb, der an eigenen Kiosken, per Abo und in ausgewählten Läden des sozialistischen Einzelhandels die insgesamt 1770 erscheinenden Zeitungs- und Zeitschriftentitel verkaufte. Viele davon waren Bückware.

Die 1888 gegründete Druckerei Hahn, zu der auch ein Ladengeschäft im Städtchen Kranichfeld bei Erfurt gehört, durfte bis 1989 keine Zeitungen verkaufen, erinnert sich der jetzige Inhaber Otto Hahn. Dann änderte sich alles schnell.

Otto Hahn: Das war dann generalstabsmäßig organisiert. Plötzlich, von einer Woche zur anderen, gab es hier also alles. Ich erinnere mich noch an Diskussionen in der Familie, die zum Teil recht heftig waren. Will man nun die BILD-Zeitung auch verkaufen? Wir Kinder waren absolut dagegen, hier die BILD-Zeitung zu verkaufen. Wir sind dem Wunsch der Kunden nachgekommen. Dann gab es auch hier die BILD-Zeitung,

Dagmar Weitbrecht: Die Kunden kauften, kauften, kauften…

Otto Hahn: Es war also ein wahnsinniger Run, vor allen Dingen auf die bunten Klatschblätter. Die Titel wechselten ja dann oft. Die BILD für die Frau und Alles Schöne für die Frau und ich weiß nicht, was alles. Dinge, die so schon also eine platte Unterhaltung bieten, die aber sehr gefragt waren.

Dagmar Weitbrecht: Den Leipziger Kabarettisten und Autor Bernd-Lutz Lange ließ die Flut der vielen bunten Blätter kalt.

Bernd-Lutz Lange: Ich hab mich eher dafür interessiert, was passiert jetzt im Osten an Veränderungen? Also es gab ja damals die DAZ, die Die Andere Zeitung. Die Möglichkeiten, die wir jetzt plötzlich hatten, dass wir publizieren konnten, was wir wollten, das war natürlich für mich interessanter, als jetzt unbedingt Spiegel, Stern oder Playboy zu kaufen.

Dagmar Weitbrecht: Lange erinnert sich an eine regelrechte Aufbruchstimmung.

Bernd-Lutz Lange: Es trat der Idealfall ein. Das ging auch eine ganze Weile, dass die geballte Kreativität der Ostjournalisten, die sich immer angleichen mussten und das mehr oder weniger gemacht haben natürlich, plötzlich freigesetzt war. Das betraf auch die Zeitung. Die Leipziger Volkszeitung war plötzlich interessant zu lesen. Es gab ein richtiges Feuilleton. Es war ja damals ein DDR-Journalist, ich glaube von der Universität kam der, der das damals geleitet hat. Da war das richtig interessant. Das wurde dann immer uninteressanter, je mehr sozusagen der Westen den Zugriff hatte.

Dagmar Weitbrecht: Doch dieser Zugriff geschah erst einige Wochen später. Kurz vor den ersten freien Wahlen 1990 wurde Leipzig für die Westverlage zum Hotspot. Dr. Judith Kretzschmar erforscht die Mediengeschichte dieser Zeit.

Judith Kretzschmar: Im März schon haben die Westmedien in dem Falle auch Zeitungen, das Gebiet der DDR geflutet und sind letztendlich mit ihren Produkten ins Land gekommen und haben die kostenlos verteilt.

Dagmar Weitbrecht: Das Leipziger Lokalfernsehen dokumentierte diese Szenen.

Judith Kretzschmar: Da sind wirklich LKW-weise Zeitungen in das Gebiet der DDR gebracht und kostenlos verteilt worden. Die Leute haben sich drauf gestürzt auf die Westmedien, an die man vorher nicht herangekommen ist. Das war Gold wert. Die sind den Leuten vom LKW aus der Hand gerissen worden. Das waren wirklich schon auch erschreckende Bilder, wie die Leute sich unkritisch, unreflektiert auf diese Zeitung gestürzt haben und letztendlich auch die totale Wahrheit darin gesehen haben, was darin berichtet wurde.

Dagmar Weitbrecht: Die Berichte der Westzeitungen in jenen Tagen spiegelten vor allem die Wahlkampfauftritte von prominenten Politikern wie Brandt, Kohl, Genscher. Die Lebenswirklichkeit in der DDR spielte kaum eine Rolle. Schleichend hingegen veränderte sich die Sprache.

Seit 1987 werden in der so genannten Sächsischen Längsschnittstudie im etwa jährlichen Rhythmus Probanden zu unterschiedlichen Themen befragt. Nachweisbar hier ist unter anderem die Verwendung des Begriffs "Ossi" sagt Psychologie-Professor und Studien-Leiter Henrik Berth von der TU Dresden.

Hendrik Berth: Es ist tatsächlich so, dass 1990 noch vom "Bundi" gesprochen wird und vom "Zoni", anstelle von "Ossi" und "Wessi". Ein Jahr später (kommt) es eben zu den bis heute manifesten "Ossi" und "Wessi". Was jetzt deutlich geografischer ist für mich, auch ein bisschen neutraler erscheint als eben das "Bundi" und "Zoni",

Dagmar Weitbrecht:  Die in Erfurt befragten Passanten konnten sich nicht erinnern, in welchem Zusammenhang sie das Wort "Ossi" erstmals gehört hatten. Doch obwohl es den Begriff bereits seit Mitte der 80er-Jahre in der bundesdeutschen Literatur gab, bekam er 1990 eine neue Bedeutung, sagt Judith Kretzschmar.

Judith Kretzschmar: "Ossi" war immer eigentlich negativ konnotiert. Es war abschätzig gemeint. Es war so der kleine Dumme, der erstmal irgendwie lernen musste, mit der Marktwirtschaft und dem Kapitalismus in dem System klarzukommen. Und das ist etwas, was bis heute eigentlich auch noch eine Besetzung dieses Begriffes ist, eigentlich das Negative, das Abwertende. Letztendlich ist das eine Zuschreibung, eine Stereotypisierung. Genauso wie dieser "Wessi" für westdeutsche Provinzler gemeint war, also die im alten Bundesgebiet gelebt haben, ist "Ossi" so für ostdeutsche Provinzler, und das ist so dieses negativ Konnotierte.

Dagmar Weitbrecht: Eine Stereotypisierung, die ihren Ausgang 1989/90 nahm und die teilweise bis heute anhält. Auch die aggressive Leserwerbung von 1989/90 durch die Westverlage hat Nachwirkungen bis in unsere Tage. Die großen SED-Bezirkszeitungen, mit tausenden treuen Lesern, wurden durch die Treuhand an die Verlage Springer, Burda, Bauer, Gruner & Jahr verkauft. Eine Monopolstellung wurde durch eine andere ersetzt.

Die Zeitungsneugründungen vom Herbst 1989 konnten dieser Wirtschaftsmacht nichts entgegensetzen. Die meisten gingen Pleite, nur drei blieben übrig.

* Die Interviews zum Beitrag wurden im September 2020 in Kranichfeld, Erfurt und Leipzig aufgezeichnet.

Weitere Informationen zur Autorin Dagmar Weitbrecht

Dagmar Weitbrecht, Jahrgang 1964, ist mit Leib und Seele Erfurterin. Studium der Geschichts- und Archivwissenschaften in Leipzig und Potsdam. Journalistische Arbeit begann 1990 beim Radiosender Thüringen Eins, seit 1992 in verschiedenen Redaktionen des MDR Landesfunkhauses Thüringen tätig.

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