Informationsauftrag der Medien Parteien sind wichtiger als Themen

22. November 2019, 15:40 Uhr

Wie informieren die Fernsehsender in ihren Nachrichten? Wie gewichten sie die Themen? Kommt der Bereich Arbeit und Soziales möglicherweise zu kurz? Und wie hoch ist die Zufriedenheit der Bevölkerung mit der Berichterstattung?

Als im September eine Studie des britischen Reuters-Instituts für Journalismusforschung zur Akzeptanz des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in neun europäischen Ländern erschien, löste das bei Funktionsträgern der Sender in Deutschland teilweise Besorgnis aus. Von einem "erschreckenden Ergebnis", sprach zum Beispiel Marcus Bornheim, "ARD-Aktuell"-Chef und damit unter anderem verantwortlich für tagesschau.de. Der Grund: Die Untersuchung ergab, dass hier zu Lande von den Menschen mit niedriger Bildung nur 13 Prozent die Online-Nachrichtenangebote der Öffentlich-Rechtlichen nutzen. Bei den 18- bis 24-Jährigen ergibt sich ein nur geringfügig positiveres Bild: 19 Prozent beträgt die Reichweite der öffentlich-rechtlichen Online-Nachrichtenangebote.

Wenn man andere Details der Studie betrachtet, sieht es besser aus. Rechnet man die lineare und die Online-Nutzung zusammen, erreichen die Öffentlich-Rechtlichen in Deutschland mit ihren Nachrichtenangeboten 69 Prozent der Befragten. Bei den 18-24-Jährigen sind es insgesamt 48 Prozent. Das ist einerseits ausbaufähig, der Wert liegt aber höher als die gefühlte Wahrheit, wonach die junge Zielgruppe praktisch keine Nachrichten mehr guckt.

Hinzu kommt: Die Studie gibt keinen Aufschluss darüber, wie viele Menschen bei Facebook auf tagesschau.de und andere Nachrichtenangebote zugreifen. Kai Gniffke, Intendant der SWR und bis Anfang Oktober Chefredakteur von "ARD aktuell", betonte in dem Zusammenhang im Deutschlandfunk, die "Tagesschau" sei "im Bereich Social Media die führende Nachrichtenmarke in Deutschland". Bei Facebook hat die "Tagesschau" derzeit 1,7 Millionen Abonnenten.

Welche Themensetzung trägt letztlich zu solchen Ergebnissen bei? Das Institut für empirische Medienforschung in Köln legt im Auftrag von ARD und ZDF einmal jährlich den "Info-Monitor" vor, eine vergleichende Betrachtung der wichtigsten Nachrichtensendungen von ARD, ZDF, RTL und Sat 1. Die allgemeine Unterscheidung fällt in der diesjährigen, also das Jahr 2018 betreffenden Analyse folgendermaßen aus: "Die fünf Informationsanlässe mit stärkster Präsenz in den Hauptnachrichten von Das Erste/ZDF und geringster Präferenz bei RTL/Sat 1 waren im Jahr 2018 die Kategorien Gedenktag/Ritual/Festakt, Tod einer prominenten Person, Wahlen/Wahlkampf, Konferenz/Abkommen und Parlamentstätigkeit/Debatte. Umgekehrt waren in den Haupt- nachrichten von RTL/Sat 1 am häufigsten und bei Das Erste/ZDF am seltensten die Anlässe Seuche/ Gesundheitsgefährdung, Kriminalität/Delikt, Unfall/ Unglück, Missstand/Problem und Erfindung/Neuheit vertreten."

Die Medienforscher stellen dazu fest: "An den Informationsanlässen wird deutlich, dass Das Erste und das ZDF vorrangig politischen und institutionell bedingten Anlässen Beachtung schenken, während RTL und Sat 1 nichtpolitische Anlässe, darunter Kriminalitäts- und Schadensfälle häufiger als Das Erste und das ZDF aufgreifen."

36 Prozent "nichtpolitische" Nachrichtenthemen

Diese Unterschiede lassen sich mit weiteren Zahlen untermauern: Die 20-Uhr-Ausgabe der "Tagesschau" lieferte 2018 durchschnittlich acht Minuten Politikberichterstattung pro Ausgabe, bei den Hauptnachrichtensendungen der Privatsender - "RTL aktuell" und die "Sat 1 Nachrichten" - waren es dagegen nur fünf Minuten täglich. Bemerkenswert: "In allen Sendungen außer dem ‚heute- journal‘", so die Autoren der Studie, sei der Anteil der Politikberichterstattung im Vergleich zum Vorjahr gesunken.

Betrachtet man allein die reinen Zahlen, ist es auf den ersten Blick etwas überraschend, dass im Schnitt mehr als ein Drittel einer Nachrichtensendung gar nicht aus Politik besteht. 36 Prozent der Sendezeit entfallen nach Definition der Forscher jedenfalls auf "nichtpolitische Themenbereiche" – von ihnen zusammengefasst unter "Wissenschaft/Kultur, Unfall/Katastrophe, Kriminalität, Human Interest/Alltag/Buntes und Sport".

Auf deutsche Politikberichterstattung entfielen in den wichtigsten Nachrichtensendungen von ARD, ZDF, RTL und Sat 1 im Jahr 2018 insgesamt 21,2 Prozent des gesamten Nachrichtenumfangs. Hierbei unterscheiden die Medienforscher zwischen den Bereichen Ressortpolitik, Parteienpolitik und "sonstige Politikfelder einschließlich Zeitgeschichte". Gemäß dieser Kategorisierung, entfielen 9,4 Prozent der Gesamtsendezeit aller Nachrichten auf die sogenannte Ressortpolitik.

Wenig überraschend: "Im Themenkomplex Ressortpolitik" fand 2018 die "Ausländer- und Migrationspolitik" mit einem Anteil von 1,9 Prozent die meiste Berücksichtigung. Auf Platz zwei folgt Wirtschaft/Finanzen/Verkehr/Verbraucherschutz (1,7 Prozent). Für die Themen Arbeit und Soziales hatten die Redaktionen indes nur 0,7 Prozent ihrer Sendezeit übrig. Angesichts dessen, dass es sich hier um zwei Politikfelder handelt, die den weit überwiegenden Teil der Zuschauer direkt betreffen, ließe sich darüber diskutieren, ob der Anteil nicht zu gering ist.

Problematisch: die "Institutionenperspektive" des Journalismus

Stärker vertreten als die Ressortpolitik ist bei "Tagesschau", "Heute" und Co. die Parteienpolitik (10,6 Prozent). Zugespitzt ließe sich sagen: Den Sendern sind die Parteien wichtiger sind als Themen. Dazu passt eine  unter anderem folgende Feststellung der "Info-Monitor"-Autoren: "Zum Jahresende beherrschte der Wettbewerb um die Nachfolge von Bundeskanzlerin Angela Merkel im CDU-Parteivorsitz die Politikberichterstattung." Das wirft die Frage auf, ob das zu diesem Zeitpunkt für die Mehrheit der Zuschauer oder der potenziellen Zuschauer wirklich das wichtigste Thema war.

In eine ähnliche Richtung geht die Bemerkung der Forscher, dass 2018 zeitweilig "ein hauptsächlich unionsinterner Streit um die Asylpolitik andere sachpolitische Themen überlagert" habe. Friederike Herrmann, Professorin für Journalistik und Kommunikationswissenschaft an der Katholischen Universität Ingolstadt-Eichstätt, hat bereits 2016 darauf hingewiesen, dass in der hiesigen Berichterstattung "das Flüchtlingsthema" in einem starken Maße zu "einem deutschen Problem geworden ist. Es spielt auf der deutschen Bühne, alle wichtigen Protagonisten der Erzählung sind deutsche Politiker. Das allerdings weckt auch die Illusion, dieses Problem sei in Deutschland lösbar." Außerdem würde ein "Thema, das eigentlich komplexe weltpolitische Ausmaße" habe, auf Auseinandersetzungen zwischen Politikern "reduziert". Generell sei es problematisch, dass der Journalismus "sehr von der Institutionenperspektive geprägt" sei und "die Geschichten der Politiker" erzähle. Das führe dazu, "dass die Medien in einem solchen Diskurs vor allem reagieren und Politiker ihnen die Agenda vorgeben können."

Worin der Unterschied besteht zwischen "die Geschichten der Politiker erzählen" und einer stärker auf das eigentliche Thema ausgerichteten Berichterstattung, lässt sich aktuell anhand eines Vergleich zwischen einer "Tagesschau"- und einer "Tagesthemen"-Sendung vom 4. Oktober skizzieren. Das Aufmacherthema an diesem Tag in beiden Sendungen: die, wieder, wachsende Zahl der Flüchtlinge, die über die Türkei nach Europa gelangen wollen - und die Probleme, die das für Griechenland mit sich bringt. In der "Tagesschau" standen ein Besuch von Innenminister Horst Seehofer in Athen im Mittelpunkt - beziehungsweise seine Zusagen für "technische Hilfe" bei der "Beschleunigung von Asylverfahren" oder andere "administrative Unterstützung". Im "Tagesthemen"-Film sind Seehofer und seine Äußerungen deutlich  weiter hinten platziert. Hier wird der Situation in den Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln mehr Platz eingeräumt, auch Helfer kommen zu Wort.

Der Unterschied liegt zwar in der Natur der Sache: In der "Tagesschau" steht die eigentliche News im Fokus, in der Nachrichtenmagazinsendung "Tagesthemen" bleibt grundsätzlich mehr Zeit, Themen einzuordnen. Dennoch: Dass man es bei der 20-Uhr-"Tagesschau" an diesem Tag für die bedeutendste Nachricht des Tages hielt, dass ein deutscher Minister der Regierung eines anderen Landers "administrative" Hilfe anbietet - das wirkt unverhältnismäßig. Obwohl in diesem "Tagesschau"-Beitrag kurz Flüchtlinge zu sehen waren, trifft für ihn zu, was die Journalistik-Professorin Herrmann vor drei Jahren beschrieb: "Die Flüchtlinge haben in dieser Erzählung kein Gesicht und keine Geschichte." Und: "Andere Länder" - in diesem Fall also Griechenland - spielten "nur noch insofern eine Rolle, als sie zur Lösung des deutschen Problems beitragen oder nicht".

Lob für öffentlich-rechtliche Regionalberichterstattung

Wie nimmt die Bevölkerung die Berichterstattung der Medien wahr, wie bewerten sie ihre Leistungen? Seit 2017 gibt es die repräsentative Studie "ARD/ZDF-Massenkommunikation Trends", durchgeführt im Auftrag der Sender im Rahmen der Studienreihe "Medien und ihr Publikum". In der aktuellen Ausgabe der Studie schneiden die Öffentlich-Rechtlichen bei der den Teilnehmern der Umfrage vorgelegten Aussage "bieten Themen aus Ihrer Region" am besten ab. 74 Prozent der Befragten sind dieser Ansicht.

Zumindest teilweise interpretieren die Forscher die Ergebnisse der diesjährigen Befragung aber kritisch: "Offensichtlich fühlt sich ein Teil der Bevölkerung von den Medien des dualen Rundfunksystems nicht mehr ausreichend repräsentiert." Ein Grund für diese Einschätzung: Nur etwas mehr als die Hälfte der Befragten waren zum Beispiel der Ansicht, das Erste, das ZDF und die anderen öffentlich-rechtlichen Programme ließen "alle gesellschaftlich relevanten Gruppen zu Wort kommen".

Schwer wiegt auch, dass nur 60 Prozent der Befragten der Ansicht sind, dass die Öffentlich-Rechtlichen "die Werte unserer Gesellschaft vermitteln". Was auch immer die Kritiker genau unter "gesellschaftlich relevanten Gruppen" und gesellschaftlichen "Werten" verstehen: Es sieht so aus, als hätten ARD und ZDF in diesen Bereichen noch Optimierungsbedarf.