MEDIEN360G im Gespräch mit... Dr. Judith Kretzschmar

12. August 2019, 10:54 Uhr

Nach fast 40 Jahren staatlicher Einflussnahme wurde das DDR-Fernsehen während der Wende zur ganz wichtigen Plattform für Informations- und Meinungsbildung. Über den öffentlich-rechtlichen Auftrag wurde nie diskutiert. Dieser mediale Bruch wirkt bis heute nach.

Porträt von Dr. Judith Kretzschmar 7 min
Bildrechte: MEDIEN360G / Foto: privat
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Interview Judith Kretzschmar

MDR FERNSEHEN Mi 12.06.2019 09:53Uhr 06:30 min

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Rechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

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Sie sind bei MEDIEN360G, dem Portal des Mitteldeutschen Rundfunks für Medienthemen. Das duale Rundfunksystem in Deutschland ist ein Garant für journalistische Unabhängigkeit. Eine Einflussnahme des Staates ist nahezu ausgeschlossen. Während in Westdeutschland nach dem zweiten Weltkrieg durch die Alliierten freie Rundfunkanstalten gegründet wurden, gab es im Osten einen zentralisierten Rundfunk unter staatlicher Kontrolle. Ich spreche jetzt mit Dr. Judith Kretzschmar vom Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft an der Universität Leipzig, ich grüße Sie!

Dr. Judith Kretzschmar:
Schönen guten Tag!

MEDIEN360G: Schauen wir kurz in die Geschichte – in diesem Jahr feiern wir 30 Jahre friedliche Revolution. Nicht ganz so alt sind die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in Ostdeutschland –  wie erfolgte damals der Systemwechsel?

Dr. Judith Kretzschmar: Ja also der Systemwechsel ist eigentlich gar nicht so ein richtiger Wechsel zunächst gewesen. Also ARD und ZDF existierten ja schon in vielen Wohnstuben neben dem DDR-Fernsehen. Das heißt, die Leute haben schon bundesdeutsches Fernsehen geschaut. Aber um das ein bisschen näher zu verstehen, müsste man noch einen Schritt zurückgehen. Zunächst ist der Wegfall des DDR-Fernsehens zu betrachten. Nach fast 40 Jahren staatlicher Einflussnahme wurde das DDR-Fernsehen gerade während der politischen Wende zur ganz wichtigen Plattform für Informations- und Meinungsbildung und auch zu einem gewissermaßen Fürsprecher für große Teile der ostdeutschen Bevölkerung. Von Oktober 1989 bis zum Ende des DDR-Fernsehens Ende 1991 hat es Probleme und Notlagen im Land artikuliert und diskutiert die vorher so nie thematisiert wurden. Parallel dazu wurden auch völlig unpolitische Sendungen ausgestrahlt, die für kurze Zeit die Menschen ja die Verunsicherung der Wendezeit vergessen lassen konnten, und eine gewisse Form der Stabilität auch demonstriert haben, und das Selbstwertgefühl gestärkt haben. Also das DDR Fernsehen war im Prinzip einer Art Orientierungshilfe in einer Zeit in der die Menschen mit den Entwicklungen kaum noch Schritt halten konnten und war deshalb identitätsprägend. Dann kamen die Einstellung des Sendebetriebs und der Wegfall eines vertrauten Programms.

Das ist ein tiefer medialer Bruch, der erhebliche Auswirkungen auf die Gegenwartsgesellschaft hat, auf Demokratieverständnisse und politische Orientierungen. Denn letztendlich konnte das eigene Fernsehen diesen Transformationsprozess nicht mehr stützen und die öffentlich-rechtlichen Nachfolgesender, also vor allem MDR und ORB aber auch das Erste und das ZDF, waren letztendlich gefordert, diesen Verlust abzufedern. Ob dies gelang und inwieweit dies gelang, muss noch untersucht werden. Es wird auch gegenwärtig untersucht, dass es eigentlich vorrangig die lokalen privat-kommerziellen Fernsehanbieter waren, die diesen Transformationsprozess begleiteten und letztendlich auch regional näher an ihren Zuschauern waren.

MEDIEN360G: Auf Demonstrationen auch in Ostdeutschland war der Ruf „Lügenpresse“ zu hören. Journalisten wurden angepöbelt. Ist der öffentlich-rechtliche Rundfunk in einer Art Legitimationskrise, gerade auch hier im Osten?

Dr. Judith Kretzschmar: Es ist glaube ich das Grundproblem das, was ich versucht habe eingangs zu schildern, dass der der Übergang das Mediensystems von DDR auf Bundesrepublik ein Problem ist, was heute immer noch letztendlich ja relevant und markant ist. Es wirken Dinge nach, die 30 Jahre zurückliegen. Es ist ein Grundproblem, dass mit diesem Wechsel der Systeme nicht der öffentlich-rechtliche Auftrag diskutiert wurde. Das Rundfunk-Überleitungsgesetz kam nicht zum Tragen. Stattdessen trat der Staatsvertrag über den Rundfunk am 1. Januar 1992 in Kraft, der quasi die Grundlage für dieses einheitliche Rundfunkrecht in der Bundesrepublik Deutschland – zu dem jetzt auch die ostdeutschen Bundesländer gehörten – (bildete).

Das Problem ist, dass der Wert des öffentlich-rechtlichen Rundfunks einfach zu wenig in den gesellschaftlichen Diskussionen erstritten, erkannt und verinnerlicht wurde. Das war in der Bundesrepublik ein längerer Prozess. Im Ostteil Deutschlands gab es eigentlich kaum Diskussionen über den öffentlich-rechtlichen Auftrag, keine Debatten über die Rolle der Medien. Es wurde nicht hinterfragt, ob die übernommenen Strukturen quasi den vorhandenen gesellschaftlichen Verhältnissen in den neuen Ländern adäquat waren. Es wurde auch nicht diskutiert - anders als dies in der in den alten Bundesländern lange der Fall war - über die Frage des Zugriffs von politischen Parteien, von Regierungen auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Also diese Staatsnähe, die ja schon immer ein Problem ist, wurde überhaupt nicht ins Gespräch gebracht. Dadurch es ist so eine Abwehrhaltung auch zu begründen.  Das heißt, es ist wurde nicht erstritten, es wurde einfach von der Politik ins Leben gerufen oder wurde von der Politik letztendlich angeordnet, dass es diesen öffentlich-rechtlichen Rundfunk gibt.

Der öffentlich rechtliche Rundfunk hat auch sicherlich an einigen Stellen nicht adäquat reagiert. Also er hat sich sehr diesem Wettbewerbs- und Quotendruck unterworfen. Er hat die Verpflichtung der Meinungs- und Informationsvielfalt nicht genügend transparent gemacht. Ob dies eine Legitimationskrise ist, so stark würde ich es nicht sehen. Ich finde es eher, es ist ein Rechtfertigungsdefizit.  Es sind Fehler gemacht worden in der letzten Zeit. Dass über den Osten kaum oder hauptsächlich in Negativschlagzeilen berichtet wurde, dass Korrespondenten nicht permanent vor Ort sind, sondern immer nur zu Brennpunkten kommen: Stichwort „Chemnitz“. Oder dass eben auch häufig West-Sichtweisen von West-Korrespondenten transportiert werden.  

Es ist sicherlich Fakt, dass es eine Entfremdung von etablierten journalistischen Medien von großen Teilen der Bevölkerung gibt. Da muss man dringend ansetzen. Sie sehen sich nicht repräsentiert. Sie sehen die gesellschaftlichen Zustände in ihrem Umfeld ganz anders als sie in den Medien dargestellt werden. Sie sehen sich nicht ernst genommen von dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk, oder finden ihre Meinung nicht oder gar nicht wieder. Das heißt, es wichtig anzusetzen, nicht das Schlagwort Medienkompetenz jetzt vermehrt zu bemühen, sondern Journalismus-Kompetenz. Das heißt, die Öffentlich-Rechtlichen müssen transparent machen, wie sie arbeiten, wie sie recherchieren, unter welchem Druck sie stehen. Das einfach klar wird, wie Meldungen Nachrichten, Meinungen entstehen und transportiert werden. Ich glaube das wäre ganz wichtig.

MEDIEN360G: Das duale Rundfunksystem in Deutschland ist ein Garant für eine offene Meinungsbildung und Demokratie – das war Dr. Judith Kretzschmar für MEDIEN360G – ich danke Ihnen für das Gespräch.

Dr. Judith Kretzschmar: Ich danke Ihnen.

Am Mikrofon war Dagmar Weitbrecht für MEDIEN360G.

Zur Person Dr. Judith Kretzschmar

Dr. Judith Kretzschmar ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin mit Schwerpunkt Journalismuskompetenz und Vertrauensforschung am Zentrum Journalismus und Demokratie an der Universität Leipzig. In ihren Forschungen beschäftigt sie sich mit der programmgeschichte des DDR-Fernsehens. Sie ist eine der Projektleiterinnen der Oral-History-Fachgruppe „Zeitzeugen des Rundfunks“ im Studienkreis Rundfunk und Geschichte e. V. .