MEDIEN360G im Gespräch mit... Prof. Dr. Stephan Russ-Mohl

16. Mai 2019, 10:58 Uhr

Die Reihen der Korrespondenten in Brüssel haben sich gelichtet. Nun arbeiten viele freie Journalisten unter hohem Zeitdruck, um über die Europäische Union und ihre Gremien zu berichten. Dazu kommt ein Trend zur „Johnsonifizierung“ in der Berichterstattung.

Porträt von Prof. Dr. Stephan Russ-Mohl 9 min
Bildrechte: MEDIEN360G / Foto: Carl Russ-Mohl
9 min

"Das Korrespondenten-Corps ist in den letzten vier Jahren um ungefähr 20 Prozent geschrumpft", sagt Stephan Russ-Mohl. Viele freie Journalisten arbeiten unter Zeitdruck, um über die EU und ihre Gremien zu berichten.

MDR FERNSEHEN Fr 10.05.2019 14:00Uhr 09:20 min

https://www.mdr.de/medien360g/medienpolitik/interview-stephan-russ-mohl-102.html

Rechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Audio

MEDIEN360G: Wir sind bei MEDIEN360G, dem Portal für Medienthemen des Mitteldeutschen Rundfunks. Nur noch wenige Tage, dann stimmen rund 400 Millionen Wahlberechtigte bei der Europawahl 2019 ab. Doch das Image der Europäischen Union ist angekratzt. Liegt es an der Europapolitik an sich oder an der Berichterstattung darüber? Dazu bin ich jetzt im Gespräch mit dem Gründer des European Journalism Observatory und Journalistik-Professor an der Universität Lugano Stephan Russ-Mohl. Ich grüße Sie!

Stephan Russ-Mohl: Hallo, einen guten Tag!

MEDIEN360G: In weiten Teilen der Bevölkerung ist ein nicht so positives Bild der EU und ihrer Institutionen verbreitet. Stichworte sind Bürokratie, Lobbyismus und Überregulierung. Liegt das möglicherweise an dem Bild, das die Medien zeichnen?

Stephan Russ-Mohl: Also die Stichworte, die Sie gegeben haben, sind jetzt nicht von den Medien erfunden. Insofern liegt es sicherlich auch und möglicherweise auch zuvörderst an der EU, an den Lobbyisten, die sich dort in Brüssel tummeln. Das ist die eine Seite. Die andere Seite ist aber natürlich, dass die Medien gar nicht anders können, als sehr selektiv über das berichten, was tatsächlich in Brüssel und im europäischen Raum passiert. Da würde ich jetzt zumindestens stark vermuten, dass sich die Berichterstattung selbst auch in den letzten Jahren dramatisch verändert hat, und wahrscheinlich nicht unbedingt zugunsten einer positiven Wahrnehmung der Europäischen Union.

MEDIEN360G: Oft sind Entscheidungen ja sehr kompliziert, und ein Aufsager in den Hauptnachrichten ist selten länger als eine Minute. Kann das eine Ursache dafür sein, dass die EU bei den Bürgern oft nicht so gut wegkommt?

Stephan Russ-Mohl: Sicherlich auch, aber das kratzt mir jetzt ein bisschen zu sehr noch an der Oberfläche. Ich glaube, wir müssen auch angucken, was vor Ort in Brüssel passiert. Das Korrespondenten-Corps ist dort geschrumpft, in den letzten vier Jahren um ungefähr 20 Prozent. Die Zahl der freien Mitarbeiter von Medienunternehmen hat sich dagegen dramatisch erhöht. Nur muss man wissen, dass diese freien Mitarbeiter alle miserabel bezahlt werden, von daher keine Zeit haben, zu recherchieren und unter Arbeitsbedingungen journalistisch tätig sind, die einfach sehr oft, sehr schwierig sind. Solche Dinge tragen auch mit dazu bei, dass sehr stark vereinfacht aus Brüssel berichtet wird, und dass sehr oft auch natürlich diejenigen, die die Journalisten mit Pressemeldungen, mit Public Relations beliefern, das Bild bestimmen. Den Journalisten selbst vor Ort fehlt einfach oft die Zeit zur Recherche.

MEDIEN360G: Das heißt, es liegt an den Arbeitsbedingungen, die die Journalisten in Brüssel haben?

Stephan Russ-Mohl: Ja. Also sicherlich möchte ich jetzt nicht einfach pauschal in Journalistenschelte eintreten. Die Meisten, denke ich, geben sich redlich Mühe und tun, was sie tun können, unter den gegebenen Bedingungen. Trotzdem würde ich davon sprechen, dass es so etwas wie eine „Johnsonifizierung“ der Brüssel-Berichterstattung gibt. Das ist eine Anspielung auf Boris Johnson, den früheren Außenminister in Großbritannien, der in seinem Vorleben über einige Jahre hinweg Korrespondent in Brüssel war für ein britisches Boulevardblatt. Der hat damit angefangen, Geschichten drastisch zu vereinfachen. Geschichten einen Spin, einen Dreh zu geben, Geschichten auch frei zu erfinden, um damit Aufmerksamkeit zu erzielen. Das hat Nachahmereffekte gezeitigt. Ich denke, unter den heutigen Bedingungen, wo alles so viel undurchschaubarer, so viel komplexer geworden ist, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich Journalisten auf diesen Pfad begeben, einfach größer geworden, als das vor 20, 30 Jahren noch der Fall war, wo ein sehr gut ausgebildetes und letztendlich auch dem europäischen Projekt gegenüber sehr wohlgesonnenes Korrespondenten-Corps in Brüssel das Sagen hatte.

MEDIEN360G: Sie haben die Komplexität der Entscheidungen, die in Brüssel oder Straßburg getroffen werden, angesprochen. Würde es helfen, wenn die Medien es schaffen, solche Entscheidungen so runter zu brechen, dass der Einzelne, der vielleicht in der Provinz in Frankreich oder Irland lebt, sich auch angesprochen fühlt?

Stephan Russ-Mohl: Also das ist, glaube ich, auf der einen Seite ein wichtiges Rezept, um sozusagen Europa den Bürgerinnen und Bürgern näherzubringen. Auf der anderen Seite besteht darin auch eine große Gefahr. Denn das bedeutet letztendlich, dass man immer dann über Europa berichtet, wenn das den einzelnen Bürger ganz konkret irgendwo betrifft. Daraus entsteht dann so eine Grundhaltung, dass man Europa danach bewertet, welchen persönlichen Vorteil oder Nachteil man jetzt gerade aus diesem europäischen Projekt hat. Diese Grundeinstellung, denke ich, hat auch ein bisschen dazu beigetragen, dass wir das große Ziel der europäischen Integration, der europäischen Einigung, aus dem Auge verloren haben. Also ein Problem im Moment ist sicherlich, dass man stärker wieder national denkt, dass man stärker auf die eigenen Interessen bezogen denkt, und damit auch das gesamte Projekt stark gefährdet. Ich könnte mir vorstellen, dass gerade durch dieses Runterbrechen solche Tendenzen sich auch entwickeln.

MEDIEN360G: Nun hat sich Kommunikation in den letzten Jahren doch sehr verändert. Es ist nicht mehr die Zeitung oder der Fernsehsender, der konsumiert wird, sondern die sozialen Medien drängen immer mehr in diese Kommunikationswege hinein. Welche Rolle spielen die?

Stephan Russ-Mohl: Ja eine ganz große, aber eine, wo wir Wissenschaftler uns auch immer noch schwer tun, das genau einzuschätzen. Das liegt wiederum daran, dass die Betreiber dieser sozialen Medien, also Facebook und Twitter und wie sie alle heißen, wenig Einblick gewähren. Also man kommt an die Daten, die man bräuchte, um einschätzen zu können, wie stark diese sozialen Medien wen beeinflussen und wie ihre Algorithmen wirken, an diese Daten kommen die Forscher in der Regel nicht ran, und deshalb tappen wir da weitgehend im Dunkeln.

MEDIEN360G: Herr Professor, Sie lehren und arbeiten in der Schweiz, in Lugano, sozusagen mit direktem Blick nach Italien, leben auch in Deutschland und verfolgen sicher auch von Berufs wegen die Berichterstattung zu EU-Themen in anderen europäischen Ländern. Wie ist ihre Sicht darauf?

Stephan Russ-Mohl: Also das Wichtigste an der Stelle ist, glaube ich, dass man selber auch, wenn man den Standort gelegentlich wechselt, dass man dann auch selber merkt, wie sich die Perspektive einfach verändert, dadurch dass man selbst andere Medien konsumiert auch in anderen Sprachen konsumiert. Da möchte ich einfach nur darauf aufmerksam machen, wie unterschiedlich die Journalismus-Kulturen in Europa noch sind und das sie selbst zwischen Ländern wie Deutschland und der Schweiz sehr verschieden sind. Von Italien brauchen wir gar nicht reden, also da herrschen Zustände, die man sich Deutschland einfach nicht vorstellen könnte. Aber davon erfahren wir viel zu wenig, obwohl genau diese Dinge natürlich massiv beeinflussen, wie junge Italiener, wie junge Schweizer und natürlich auch ältere Italiener und Schweizer, die europäischen Realitäten wahrnehmen. Also wir müssen sehen, dass die Medien, dass der Journalismus schon immer noch wichtige Filter sind, trotz aller sozialen Medien, und dass diese Filter in den verschiedenen Sprachräumen in Europa ganz unterschiedlich funktionieren. Also es gibt Länder, wie in Polen und Ungarn, wo inzwischen der Journalismus einen ganz schweren Stand hat, der unabhängige, und fast nur noch Regierungsmedien Einfluss nehmen. Es gibt Länder wie Deutschland, wo Gott sei Dank relativ viel Pressefreiheit immer noch gewährleistet ist, und wir auch ein hohes professionelles Niveau im Journalismus haben. Dann gibt es tausenderlei verschiedene Schattierungen und die sind uns viel zu wenig bewusst.

MEDIEN360G: Nun sind es nur noch wenige Tage bis zum Wahlsonntag für uns in Deutschland. Was sagen Sie zum Thema Wahlbeteiligung?

Stephan Russ-Mohl: Ich traue mir da keine Prognose zu, hoffe aber natürlich, dass die Wahlbeteiligung hoch ist, und dass vor allem die jungen Leute zur Wahl gehen. Denn um deren Zukunft geht es letztendlich und nicht um die Zukunft von meiner Generation, derjenigen, die über 65 sind, die aber inzwischen einfach zahlenmäßig schon zur Mehrheit werden. Was ja auch für die Demokratie nicht so ganz glücklich ist, wenn sozusagen die ältere Generation ein ganz großes Übergewicht hat.

MEDIEN360G: Die Berichterstattung zur Politik der Europäischen Union und ihrer Institutionen ist nicht immer so differenziert wie nötig. Zu oft bekommen leider auch negative Schlagzeilen die Überhand. Das war Professor Stephan Russ-Mohl. Ich danke Ihnen für das Gespräch!

Stephan Russ-Mohl: Ich danke Ihnen auch, hat Spaß gemacht!

MEDIEN360G: Für MEDIEN360G war Dagmar Weitbrecht am Mikrofon.

Zur Person Prof. Dr. Stephan Russ-Mohl

Stephan Russ-Mohl ist Professor für Kommunikationswissenschaft an der Universität in Lugano. Er tritt in Kürze in den Ruhestand. Russ-Mohl ist Begründer des Europäischen Journalismus Observatoriums, das ländervergleichende Journalismusforschung betreibt. Er ist auch Autor von Fachbüchern zur Einführung in den Journalismus und zum Wissenschaftsjournalismus.