Journalismus in der DDR Die Hand der Partei

29. Oktober 2019, 13:32 Uhr

Wie ein Arbeiterkind zum Professor für Journalistische Methodik an der Universität Leipzig wurde: Die Biografie von Karl-Heinz Röhr zeigt, wie eng Presse und Parteipolitik in der DDR verbunden waren. Eine Karriere, die 1990 abrupt endet.

Schriftzug "Hand der Partei" und eine zertrümmerte DDR-Fahne. Außerdem Bild von Karl-Heinz Röhr. 12 min
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MDR FERNSEHEN Di 24.09.2019 12:59Uhr 11:32 min

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Sprecherin: Karl-Heinz Röhr nennt sich selbst einen DDR-Musterknaben. Geboren 1935, wächst er als Halbwaise bei seiner Tante in sehr einfachen Verhältnissen auf. Als der Zweite Weltkrieg endet, ist Röhr neun. Die Schule ist zeitweise ein Lazarett, qualifizierte Lehrer gibt es kaum. Röhr auf die Oberschule zu schicken, kann sich die Familie nicht leisten. Im System der DDR kann er trotzdem Karriere mache

Karl-Heinz Röhr: Ja, das war damals die politische Entwicklung in der DDR, dass man Leute suchte, aus der Arbeiterklasse, junge Leute, die dann gefördert wurden. Ich kam aus der Braunkohlenindustrie und war dort politisch tätig in der Freien Deutschen Jugend. Habe dort geschrieben und habe da immer eine Vorliebe gehabt für das journalistische Schreiben.

Sprecherin: Das erkennt die Partei. Sie fördert Röhr. Die Freie Deutsche Jugend holt ihn für einen dreimonatigen Lehrgang für Presse-Nachwuchs in die Sächsische Schweiz. Abschlussnote sehr gut. Auf dem Zeugnis ist ein Bild von Stalin.

Sprecher: Als einer der Klassenbesten darf Röhr zur Tageszeitung Neues Deutschland, dem Zentralorgan der Einheitspartei SED. Dort macht er ein Kurzvolontariat. Röhr will studieren. An einer Arbeiter- und Bauernfakultät holt er zunächst sein Abitur nach. Die sogenannten Vorstudienanstalten bereiten junge Arbeiter und Bauern auf ein Hochschulstudium vor.

Sprecherin: Röhr geht anschließend an die Sektion Journalistik der Karl-Marx-Universität in Leipzig. Es ist die Kaderschmiede für den journalistischen Nachwuchs der DDR. Röhr passt dort perfekt ins Schema.

Karl-Heinz Röhr: Es waren Leute wie ich, also auch Leute, die aus relativ einfachen Verhältnissen kamen. Wir haben eigentlich niemand gehabt, der von besonders gut gestellten Eltern gekommen ist. Wir waren alle irgendwelche junge Arbeiter, also Leute, die einen Beruf gelernt hatten in einem Betrieb. Es waren eigentlich alles Gleichgesinnte, wenn man so will.

Sprecherin: Gleichgesinnte Arbeiterkinder, aufgewachsen im Krieg von den Idealen der DDR überzeugt und mit einem klaren Selbstverständnis.

Karl-Heinz Röhr: Ein besseres Deutschland zu schaffen, ein antifaschistisches Deutschland zu schaffen, ein Deutschland ohne Krieg. Und dem wollten wir uns als junge Journalisten widmen, dieser Aufgabe. Das hat uns zusammengebracht, und das hat uns auch geeint.

Sprecher: Geeint nicht nur durch berufliche Ziele. Viele der Studierenden wohnen zusammen in einem Internat hinter der Fakultät. Wegen der roten Klinkerfassade und den sozialistischen Verhaltensregeln taufen das die Studierenden auf den Namen Rotes Kloster. Das ist durchaus ironisch gemeint. Gelegentlich gibt es auch typisch studentische Abende. Wer sich am Roten Kloster ausbilden lässt, ist linientreu. Im Mediensystem der DDR übernehmen sie eine bedeutende Funktion.

Karl-Heinz Röhr: Ja, die Aufgabe des Journalismus in der DDR war natürlich vorbestimmt durch die herrschende Politik in der DDR. Die Journalisten waren natürlich, wenn Sie so wollen, die Hand der Partei auf dem Gebiet der politischen Propaganda und Agitation.

Sprecherin: Der Partei unterstellt ist auch das Ministerium für Staatssicherheit, die Stasi. Sie ist Geheimpolizei, Inlands- und Auslandsgeheimdienst in einem. Tausende hauptamtliche und inoffizielle Mitarbeiter, kurz IM, sollen eine flächendeckende Überwachung ermöglichen. Besonders beliebte Spitzel: Journalisten.

Karl-Heinz Röhr: Weil wir natürlich hochgebildete und politisch sozusagen einwandfreie Kader hatten. Aber die hatten sicherlich hauptsächlich eine andere Aufgabe als der normale IM, sondern die wurden also vor allen Dingen mit eingesetzt für die Auslandspropaganda oder für die, vielleicht ist das Wort ein bisschen zu hochgestochen, für die Auslandsspionage, um Kontakte zu haben mit westlichen Journalisten, mit westlichen Wissenschaftlern, bei Reisen bestimmte Kongresse mit zu nutzen, um ins Gespräch zu kommen mit bestimmten westlichen Experten.

Sprecherin: Die Arbeiten westlicher Wissenschaftler und Journalisten werden auch an der Karl-Marx-Universität in Leipzig gelesen, im so genannten Gift-Kabinett – ein kleiner Leseraum in der Bibliothek mit Fachliteratur aus dem Westen. Auch die FAZ oder die Bild-Zeitung liegen hier, allerdings meist nur alte Ausgaben. Die neuesten nimmt der Institutsdirektor mit nach Hause. Eigentlich ist das verboten.

Sprecher: Studierende haben zum Gift-Kabinett keinen Zutritt, es sei denn, sie schreiben eine Forschungsarbeit zur West-Presse. Ein beliebtes Thema, auch weil die großen DDR-Medien wie Neues Deutschland und Aktuelle Kamera als Forschungsgegenstand tabu sind. Kritik an der Informationspolitik von Politbüro und Zentralkomitee ist nämlich unerwünscht.

Sprecherin: Das Politbüro ist das Machtzentrum der SED. Hier fallen die Grundsatzentscheidungen. Umgesetzt werden die Beschlüsse vom Zentralkomitee der Partei. Dessen Abteilung für Agitation und Propaganda gibt vor, wie in den Medien berichtet werden soll. Auch an der Sektion Journalistik in Leipzig ist sie präsent.

Karl-Heinz Röhr: In diesem Sinne hat die Abteilung Agitation natürlich auch immer bestimmt, zum Beispiel wer hier Sektionsdirektor wurde. Auch die Berufungen mussten vom Zentralkomitee wahrscheinlich abgesegnet werden, wer dort Professor werden sollte. Es hat manchmal zu Schwierigkeiten geführt, weil die Sektion Journalistik eigentlich dadurch doppelt unterstellt war.

Sprecherin: Auf der einen Seite gelten die Regeln der Partei, auf der anderen Seite die Regeln der Wissenschaft. Karl-Heinz Röhr folgt beiden. In den 1960er Jahren macht er seinen Abschluss, wird dann zunächst wissenschaftlicher Assistent und nach seiner Promotion Oberassistent an der Sektion. 1978 folgt seine Habilitation, die Promotion B.

Sprecher: Wer Karriere machen will, muss sich auch in der Partei hochdienen. Am Roten Kloster sind sowohl Lehrkräfte als auch Studierende in der SED und in Parteigruppen organisiert. Die Sektion hat einen Parteisekretär. Er soll den Genossen im Kloster sagen, was laut Parteibeschlüssen zu tun ist. Ein Amt, das rotiert. Karl-Heinz Röhr übernimmt es im Jahr seiner Habilitation 1978. Er hat nichts dagegen. Schließlich will er mit seiner Karriere weiter nach oben und Professor werden.

Sprecherin: Doch das wird noch dauern. Erst mal wird Röhr Leiter des Bereichs Journalistische Methodik. Wie schreibe ich eine Nachricht? Was ist eine gute Reportage? Wie geht ein Porträt? Das kann man bei Röhr lernen. 1988 veröffentlicht er seine Übungsanleitungen. Teile seiner Kriterien haben noch heute Gültigkeit.

Sprecher: Andere nicht.

Sprecher*in: Übungsanleitungen 1, Die Nachricht

Auszug aus den Bewertungsmaßstäben.

  • Enthält der Nachrichtenbeginn das Sinnwichtigste?
  • Reizt er zum Weiterlesen?
  • Entspricht er dem Tatsachencharakter?
  • Sind Gesamtdarstellung, Wiedergabe und Benennung aller Details sachlich richtig, unmissverständlich und parteilich?

Sprecher*in: Übungsanleitungen 2, Seite 38, Das Porträt

Auszug aus den Bewertungsmaßstäben.

  • Werden wesentliche Seiten des Charakters nicht nur konstatiert, sondern auch an konkreten Beispielen und Handlungen vorgeführt?
  • Ist die Entwicklung oder Bewährung sozialistischen Denkens und Handelns unter den konkreten Bedingungen und den wesentlichen Beziehungen im Kollektiv dargestellt worden?

Sprecherin: 1986 erhält Karl-Heinz Röhr eine außerordentliche Professur. Ordentlicher Professor wird er dann ausgerechnet 1989.

O-Töne aus Archivmaterial:

Hier ist das Erste Deutsche Fernsehen mit der Tagesschau.

Guten Abend mein Damen und Herren zur Aktuellen Kamera.

„Ausreisewillige DDR-Bürger müssen nach den Worten von SED-Politbüromitglied Schabowski nicht mehr den Umweg über die Tschechoslowakei nehmen.“

„Ihm zufolge können Privatreisen nach dem Ausland ab sofort ohne besondere Anlässe beantragt werden.“

„Das war der Moment, auf den wir so lange gewartet haben. Wir Deutschen sind jetzt das glücklichste Volk auf der Welt.“

Sprecherin: Karl-Heinz Röhr fühlt dieses Glück nicht, zumindest nicht beruflich. Er verliert mit der Wende seinen frisch erworbenen Status als ordentlicher Professor. Er wird abgewickelt, wie er es nennt.

Karl-Heinz Röhr: Ich bekam zum Beispiel einen Brief, dass ich mich bei einem Herrn Professor aus Hamburg evaluieren lassen soll, so hieß das auch damals. Das sollte also überprüfen, ob ich als Hochschullehrer die richtige, demokratische und fachliche Eignung habe, Journalisten auszubilden.

Sprecher: Evaluierungen, besonders im Hochschulbereich, sind damals gang und gäbe. Die SBK, also die Struktur- und Berufungskommission, soll prüfen, wer aus den ehemaligen Kaderschmieden den Kriterien des Einigungsvertrags entspricht. Wem es also zuzutrauen ist, auch in der neuen Bundesrepublik zu unterrichten. Für sozialistisch indoktrinierte Fächer gibt es im geeinten Deutschland keinen Platz. Die SBK gibt Empfehlungen, welchen Lehrern und Professoren gekündigt werden soll. Alle anderen bekommen eine Einladung zur Evaluation.

Sprecherin: Genauso wie Karl-Heinz Röhr. Lebenslauf, Werdegang, Literaturliste, neuere Veröffentlichungen, Forschungsprojekte und Vorlesungsmaterialien – all das sollen die Professoren und Hochschullehrer zur Überprüfung vorlegen.

Sprecher: Von allen Überprüften werden letztendlich nur etwa 18 Prozent als „geeignet“ eingestuft. Sie werden für eine Übernahme oder ähnliche Stelle vorgeschlagen. Bewerben müssen sich die Professoren und Hochschullehrer aber trotzdem noch.

Sprecherin: Diesem Procedere entzieht sich Karl-Heinz Röhr. Er lehnt die Teilnahme an einer Evaluierung ab. Zu lange ist er Erzieher und Hochschullehrer gewesen. Zu groß war sein Ehrgefühl, sagt der heute 83-Jährige. Er verlässt die Hochschule. Den Großteil seines Lebens, hat er am Roten Kloster verbracht. Nach der Wende steht er vor dem Nichts. Während Kohl blühende Landschaften in den neuen Bundesländern verspricht, sieht die Realität ganz anders aus.

Sprecher: Nach Berechnungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung verlieren zwischen 1989 und 1991 mehr als zweieinhalb Millionen Menschen in den neuen Bundesländern ihre Arbeit. Nicht allein in den künstlich aufgeblähten Bereichen der DDR-Industrie, sondern überall. Mit der Wende kommt nicht nur die große Freiheit, sondern auch die große Arbeitslosigkeit, bei vielen Alkohol und Depressionen.

Sprecherin: Röhr schlägt sich als Verlagsvertreter durch, versucht selbständig Geld zu verdienen. Dann hat er Glück. Für ihn und seinen Jahrgang setzt 1992 eine Übergangsregelung ein und damit der Vorruhestand. Er fällt damals sanft, wie er sagt.

Karl-Heinz Röhr: Das war dann für mich günstig. Also weil ich dann das Problem des Geldes, der Einnahme erst mal hinter mir hatte, auch wenn es nicht üppig war. Aber der soziale Abstieg blieb natürlich und war doch für die meisten von uns und auch für mich eine bittere Pille.

Sprecher: Einmal im Jahr treffen sie sich noch, die ehemaligen Mitglieder der DDR-Kaderschmiede. Röhr lacht verschmitzt, wenn er daran denkt. Die blauen Augen hinter den eckigen Brillengläsern strahlen. Er ist der Motor hinter den Treffen. Ohne ihn gäbe es sie nicht.

Sprecherin: Viele der Ehemaligen sind mittlerweile über 80 Jahre alt. Karl-Heinz Röhr ist einer der letzten Zeitzeugen. Er war Teil der DDR, vom ersten bis zum letzten Tag.

Das war Die Hand der Partei. Erinnerungen an den DDR-Journalismus. Ein Gespräch mit Zeitzeuge Karl-Heinz Röhr. Von Paula Lochte, Max Gilbert und Vanessa Materla.