Wenn Computerspielen süchtig macht Feature: Ich war der "Heiler"

20. März 2019, 13:21 Uhr

PC-Spiele machen Spaß, sie helfen beim Abschalten, liefern Zeitvertreib und Spannung. Doch die Gefahr besteht, dass aus dem Spiel eine Sucht wird. Wir haben einen Computerspielsüchtigen getroffen und nach seinem Weg aus der Sucht gefragt.

leerer Gang in einem Krankenhaus 23 min
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Wenn ein PC-Spieler in die Sucht rutscht, ist professionelle Hilfe gefragt. Wir begleiten einen Computerspielsüchtigen auf seinem Weg aus der Sucht und schauen auf den Therapiealltag im Asklepios Fachklinikum Wiesen.

MDR FERNSEHEN Mo 16.09.2019 11:07Uhr 22:41 min

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MDR-MEDIEN360G: „Ich war der „Heiler“ - der Weg aus der Computerspielsucht“ ein Feature von Dagmar Weitbrecht

Dagmar Weitbrecht:
Die Spiele heißen Fortnite, World of Warcraft oder League of Legends. Sie entführen Computerspieler in ferne Welten. Lassen sie dort zu Helden werden. Über 300 Neuerscheinungen kommen allein 2019 auf den Spielemarkt. Der Umsatz der Game-Industrie lag in Deutschland im Jahr 2018 bei 4,4 Milliarden Euro, neun Prozent mehr als 2017. Der Markt wächst weiter und auch die Zahl der Spieler . Mehr als 50 Prozent aller Erwerbstätigen in Deutschland spielen regelmäßig Computerspiele. Doch die schöne Welt der Fantasie aus Elfen, Göttern und Kriegern und den unzähligen anderen Charakteren hat auch ihre Schattenseiten. Vor mir sitzt Robert aus Sachsen, 19 Jahre alt, blond, schlank, stylischer Haarschnitt. Er ist computerspielsüchtig.

Robert: Ich hab einen Shooter gespielt, und ich hab da vorrangig die Rolle des Heilers übernommen, weil ich das Gefühl hatte, ich war wichtig und wurde akzeptiert. Ich habe mir gleich am Anfang, als ich das Spiel angefangen habe, den schwersten Heiler ausgesucht, den man spielen konnte. Ich war ziemlich gut mit dem. Das habe ich gespürt, das haben mir auch meine Mitspieler gesagt.

Dagmar Weitbrecht: Das Spiel, das Robert aus der realen Welt entführte, heißt „Overwatch“ und ist ein Mehrspieler-Ego-Shooter. Als das Spiel 2016 auf den Markt kam, nutzten es innerhalb kurzer Zeit 25 Millionen Spieler, Umsatz für das Unternehmen 270 Millionen Dollar nur eine Woche nach Veröffentlichung.

Sprecher: Overwatch ist ein teambasiertes Shooter-Spiel mit vielen mächtigen und vielfältigen Helden. Es hat Schauplätze rund um den Globus, man kämpft als Team und erobert Ziele in nervenaufreibenden Sechs-gegen-Sechs-Kämpfen. Es gibt die Rollen der Tanks, der Schadenshelden und der Heiler.

Dagmar Weitbrecht: Robert hat als Heiler etwas bekommen, was er im realen Leben nicht erhielt, Anerkennung und Lob. Wie eine Fliege im Spinnennetz klebte er in der virtuellen Welt des Spiels, bis nichts mehr ging. Seit mehreren Wochen ist Robert nun im Asklepios-Fachklinikum Wiesen, in der Nähe von Zwickau in Behandlung. Dort ist Computerspielsucht schon lange kein unbekanntes Thema mehr für Chefärztin Grit Graatz.

Dr. Grit Graatz: In Wiesen haben wir begonnen, computersüchtige Patienten zu behandeln, kurz nach der Jahrtausendwende. Wobei sich das Klientel teilweise durchaus gewandelt hat. Dass wir die Diagnose „Computerspielsucht“ in der Reha behandeln, das ist seit 2008 der Fall, mit einem eigenen Konzept, so dass wir, denke ich, auch die spezifischen Anforderungen dieser Rehabilitanten erfüllen können.

Dagmar Weitbrecht: Gaming Disorder, so der medizinische Fachbegriff. Im Mai 2019, ist diese so genannte „nicht stoffgebundene Sucht“ in den großen Katalog der Krankheiten der Weltgesundheitsorganisation aufgenommen worden. Doch was heißt pathologische also krankhafte Computerspielsucht genau?

Dr. Grit Graatz: Man hat vor Jahren den Mediengebrauch oder den pathologischen Mediengebrauch vordergründig an der Zeit fest gemacht, die derjenige vor dem Medium verbracht hat. Nun gibt es jetzt Computerarbeitsplätze. Da wäre die Zeit an sich schon überschritten. Pathologisch würde ich in dem Moment sehen, wo es Einschränkungen im Alltagsleben gibt, wo diejenigen, die alltäglichen Dinge des Lebens nicht mehr gewährleisten können, um einfach den Mediengebrauch fortzusetzen. Wenn jemand fünf Stunden am PC sitzt und die Schule versäumt, das Studium schmeißt, dann wäre das durchaus pathologisch. Also, man macht es eher fest an den Folgen, die der Mediengebrauch hat, als die Zeit, und dann ist es pathologisch, wenn die Suchtkriterien erfüllt sind.

Dagmar Weitbrecht: Diese Suchtkriterien sind durch die WHO klar definiert

Sprecher: Erstens: Beeinträchtigung der Kontrolle über Spiele, den Beginn, die Häufigkeit, die Dauer. Zweitens: zunehmende Priorität für das Spielen in einem Ausmaß, dass das Spielen Vorrang vor allen anderen Lebensinteressen und täglichen Aktivitäten hat. Drittens: Fortsetzung oder Eskalation des Spielens trotz Auftretens negativer Folgen.

Dagmar Weitbrecht: Wie aber wird man computerspielsüchtig? Die Ursachen für ein mögliches Abrutschen in die Computerspielsucht können vielfältig sein. Der Keim kann schon in der Kindheit oder der frühen Schulzeit liegen. So wie bei Robert

Robert: Es gab viele ziemlich Spitzen von Mitschülern aus irgendwelchen Gründen, weil sie halt der Meinung waren, ich passe nicht so in die Gruppe rein, und das haben die mir halt so spüren gegeben. Es war zwar nicht unbedingt Mobbing, aber fiese Kommentare tun halt auch weh auf Dauer.

Dagmar Weitbrecht: Diese Erfahrungen sind kein Einzelfall, weiß die Chefärztin.

Dr. Grit Graatz: Was wir sehr häufig an körperlichen Schäden sehen, ist entweder in der Persönlichkeitsentwicklung, dass es da einfach auch zu einem Stillstand gekommen ist. Dass das sehr selbstunsichere Menschen sind, die wenige Kontakte zur Außenwelt haben. Also auf dem psychischen Sektor (sind) die Folgeschäden Blickkontakte meidend, möglichst nicht in große Gruppen (gehen). Also auch Angststörungen können sich entwickeln, soziale Ängste. Körperliche Folgeschäden sehen wir eher in Fehlernährungen, Mangelernäherungen. Sie haben wenig vitaminreiche Kost zu sich genommen, sehr viel Fastfood. Dass übergewichtige Rehabilitanten zur Reha kommen, die dann zuckerkrankheitsgefährdet sind oder wo sie schon bereits ausgebrochen ist, die ein hohes Risiko für Herzerkrankungen haben. Wo wir dann versuchen gegenzusteuern.

Dagmar Weitbrecht: Dafür arbeitet in der Fachklinik Wiesen ein ganzes Team. Die Klinik hat einen Akut- und eine Reha-Teil. Die normale Behandlungszeit beträgt zwölf Wochen. Am Anfang steht immer eine detaillierte Diagnose, nicht nur mit den üblichen Fragebögen, die bei Suchterkrankungen angewendet werden, sondern auch durch ein intensives Gespräch mit dem Arzt. Der Weg in die Krankheit ist bei vielen Patienten ähnlich.

Dr. Grit Graatz: Früher war das so: meist wohlbehütete Kinder, in Familien geboren, die finanziell recht gut gestellt waren, wo die Eltern aber arbeitsmäßig sehr viel Stress hatten. Der Junge hat einen PC oder eine Playstation gekriegt, in sehr frühen Jahren zum Schulanfang mit Nintendo angefangen. Die Eltern hatten einfach keine Kontrolle, wie viel Zeit der Junior vor dem Medium verbringt. Sie haben sich vielleicht auch nicht so drum gekümmert, weil das ja am Anfang recht unproblematisch für die Eltern ist. Ich könnte jetzt sagen: ein Kind vorm PC, das schreit nicht und das tobt auch nicht und das ist ganz lieb. Inzwischen die Smartphone Generation - die Kinder verbringen immer mehr Zeit, jede freie Minute damit. In den Pausen kann das Handy genutzt werden. Wenn die Kinder von der Schule kommen, sind die Eltern noch auf Arbeit, die Kinder sitzen vorm PC, abends auch noch ein paar Stunden. Oftmals geht der Schulabschluss gerade noch so. Wobei es da auch Fälle gibt, wo die Schule dann nicht (mehr) funktioniert. Das ist dann der Moment, wo die Kinder auffällig werden, wo die Eltern vielleicht aufmerksam werden. Aber oftmals ist es dann schon zu spät.

Dagmar Weitbrecht: Auch bei Robert beginnt alles ganz harmlos. Er spielt erst ab und zu. Es ist Zeitvertreib, Spaß und Spannung. Doch dann wird es immer, immer mehr.

Robert: Ich bin dann ausgezogen aus dem Elternhaus in die Großstadt und habe anfangs eher weniger gespielt. Ich habe dann eher die Ausbildung priorisiert, aber dann später, wurde es auch ein bisschen stressiger. Ich hatte zwischenzeitlich eine Freundin, und es ging dann wieder auseinander. Da hab ich angefangen, mehr zu spielen. Zuerst an die sechs bis acht Stunden am Tag, mindestens. Später dann den ganzen Tag, weil ich nicht mehr in die Ausbildung gegangen bin.

Dagmar Weitbrecht: Auch wenn Robert nach außen hin versucht, gelassen zu erscheinen, spüre ich, wie ihn die Erinnerung an das Erlebte mitnimmt. Seine Eltern machen sich Sorgen, doch Robert ignoriert ihre Kontaktversuche, die abgebrochene Ausbildung, die drohende Wohnungslosigkeit. Dann kommt der Punkt, an dem sich Robert eingestehen muss, dass etwas nicht stimmt.

Robert: Es stand dann die Auflösung der Wohngemeinschaft vor der Tür bei uns. Mein Mitbewohner war auch fertig mit der Ausbildung und ist ausgezogen. Ich hatte jetzt keinen Beruf mehr. Ich hatte einen Auflösungsvertrag mit meinem Arbeitgeber ausgemacht, als ich nicht mehr hingegangen bin, weil mir das auch wenig Spaß gemacht hat. Da bin ich auf den Rat meiner Eltern und meiner Brüder hin dann zum Hausarzt gegangen. Der hat mir das hier empfohlen.

Dagmar Weitbrecht: Es folgt ein harter Schnitt für Robert. Statt Monitor, Tastatur und Maus, Strategie und Kämpfen - nun Vogelgezwitscher, Ruhe, frische Luft. In der Klinik beginnt der Tag sehr früh. Die Physiotherapeutin Kerstin Dwornik zeigt mir den Sportplatz auf dem Klinikgelände.

Kerstin Dwornik: Hier treffen wir uns morgens halb sieben zur ersten Therapiestunde, nämlich dem Frühsport und der geht 20 Minuten. Da treffen sich alle Rehabilitanten, die am Sport teilnehmen dürfen. Das ist der erste Punkt der Tagesstruktur. Das ist das, was unseren Patienten ja auch fehlt. Tagesstruktur, den Tag einteilen und früh beginnen.

Dagmar Weitbrecht: Bewegung und körperliche Aktivität sind ein ganz wichtiger Teil der Therapie, denn es gibt übergewichtige und körperlich eingeschränkte Patienten.

Kerstin Dwornik: Die erste Konditionsstunde bei mir: die Patienten gehen aufs Ergometer und stellen sich erst mal eine ganz hohe Stufe ein, ein hohes Level und merken und dann schon nach fünf Minuten, dass sie das nicht schaffen und sind erstmal deprimiert. Wir stellen gemeinsam fest, wo ist denn gerade die Leistung? Wo stehen wir, und fangen dann an, gemeinsam langsam die Leistung zu steigern im Fitnessraum. Da merken die dann am Ende: ja, mir geht es besser. Ich bin leistungsfähiger. Ich habe mehr Spaß am Sport. Die somatischen Beschwerden, durch dieses viele Sitzen am PC und die Fehlernährung, die die mitbringen - die behandeln wir ja noch somatisch. Den (Patienten) geht es dann ganzheitlich einfach besser.

Dagmar Weitbrecht: Doch bis dahin ist es ein weiter und harter Weg. Die äußeren Voraussetzungen, sich von der Sucht zu befreien, beschreibt die Physiotherapeutin als sehr gut. Das Haus liegt idyllisch am Fuß des Erzgebirges, in einem großen Park mit alten Bäumen.

Kerstin Dwornik: Ja, hier befinden wir uns in der Mehrzweck-Turnhalle, hier finden auch Therapiestunden statt. Wir bieten kurze Entspannungsmöglichkeiten an. Also bei mir ist es die konzentrative Entspannung, die die Patienten hier lernen. Das fällt denen auch am Anfang sehr schwer, schon alleine Augen zu schließen und sich auf sich zu konzentrieren und ruhig zu werden. Ja, viele sind da sehr unruhig, denen fällt es schwer, dies auszuhalten. Was wir hier aber noch anbieten, ist Rückengymnastik und Wirbelsäulengymnastik einzeln. Also gerade Rückenbeschwerden, sind ja Nummer eins auch bei unseren Rehabilitanten und die haben dann noch zusätzlich hier unter Anleitung von uns noch mal eine Therapieeinheit, mit dem Hinweis Zuhause selbständig weiter zu üben.

Dagmar Weitbrecht: Stolz zeigt Kerstin Dwornik den medizinischen Fitnessraum, das Warmwasser-Bewegungsbad zur Entspannung oder Wassergymnastik. Der Therapieplan ist vielfältig, zählt Chefärztinnen Grit Graatz auf.

Dr.Grit Graatz: Das Therapiekonzept unterscheidet sich gar nicht so wesentlich von dem Therapiekonzept für die stoffgebundenen Süchte, also für Alkoholabhängigkeit. Es umfasst neben einer Gruppentherapie, wo die Funktionalität des Suchtmittels erst mal erkannt wird, auch psycho-edukative Gruppen, um einfach ein Krankheitsverständnis hervorzurufen. Viel sportliche Betätigung. Wir bieten eine Musiktherapie an, Maltherapie, Ergotherapie. Wir haben eine Diät-Assistentin, die auch therapeutisch kocht mit den Rehabilitanten, auch im Hinblick auf häufiges Übergewicht, auf gesunde Ernährung. Die geht auch einkaufen mit den Rehabilitanten, um bestimmte Nahrungsmittel mit ihnen zu besprechen. Gerade wenn Fettstoffwechselstörungen eine Rolle spielen, so dass die Rehabilitanten auch aktiv selbst etwas für ihre Gesundheit tun können.

Dagmar Weitbrecht: Der Wochenplan für die Patienten enthält auch solche Anwendungen.

Sprecher: Kommunikative Verhaltenstherapie, Biblio-Therapie - Lesen und Diskussion von Texten mit Bezug auf die Sucht, Geldmanagement - Abrechnung und Ausgabe des Taschengeldes, Clubabend – Gesellschaftsspiele, am Wochenende selbst organisierte Gruppenaktivitäten.

Dagmar Weitbrecht: Diesen streng durchgetakteten Therapiealltag absolviert Robert inzwischen mit Selbstverständlichkeit. Sein erster Tag in Wiesen ist ihm aber immer noch gut in Erinnerung. Der Tag war…

Robert: …sehr anstrengend, zumal ich drüben in der Akut-Behandlung war. Dort ist der Tagesablauf sehr (eintönig), da ist sehr wenig los am Tag, weil es einfach nur eine Entzugsphase ist. Da gibt es wenige Therapien, und es war sehr langweilig. Man musste sehr viel Nachdenken über viele Dinge.

Dagmar Weitbrecht: Die virtuelle Welt verschlossen. Die liebgewonnene Identität weg, die Erfolgserlebnisse weg, ebenso wie die virtuellen Freunde. Ein Schock! Was nur mit der vielen Zeit tun? Solche Tage können sich endlos dehnen.

Hier kommt neben der psychologischen Betreuung und viel Sport auch die Ergotherapie ins Spiel. Seit 20 Jahren versucht Hans-Jürgen Pausch herauszufinden, wo die vernachlässigten individuellen Interessen liegen. Das ist oft nicht einfach, Patienten aus der virtuellen Welt hin zu handwerklichen oder künstlerischen Arbeiten zu führen. Doch es geht um mehr als Holzbearbeitung oder Töpfern.

Hans-Jürgen Pausch: Es sind aber auch gerade bei den Medienabhängigen solche Sachen wie überhaupt mit dem Anderen in Kontakt kommen zu wollen, bzw. auf angemessene Art und Weise in Kontakt zu kommen. Also soziale Kompetenzen, die auch von der Dauer der Abhängigkeit (beeinflusst) sind, dass man dann bestimmte Umgangsformen erst mal wieder lernen muss, dass man auf eine angemessene Art und Weise mit den Mitrehabilitanten ins Gespräch kommt, dass man Höflichkeiten zeigt beim gemeinsamen Benutzen von bestimmten Werkzeugen, beim Vorbringen von Wünschen und Anliegen. Das sind ja alles solche Sachen, die im sozialen Kontakt in der Vergangenheit bei den Medienabhängigen nicht die dominierende Rolle gespielt haben. Für den Therapeuten in der Beziehung zu den Rehabilitanten ist es dann auch wichtig, dass die Wirkung des Auftretens, reflektiert wird. Dass man also die Rückmeldung gibt, das war jetzt von dem erwarteten sozialen Verhalten in Ordnung, und bei einem anderen (Verhalten), wo man dann sagt: das wird sicherlich Probleme geben, wenn das weiterhin das Standardverhalten für den Rehabilitanten ist. Dieses Feedback geben für diese soziale Kompetenz ist, glaube ich, eine ganz wichtige Sache im Sinne von Orientierung geben für den Rehabilitanten.

Dagmar Weitbrecht: Da wird gemalt, geformt, auch mal geschwatzt und gesägt. Kleine Kunstwerke stehen in den Regalen oder hängen an der Wand. Auf manches entstandene Objekt ist Hans-Jürgen Pausch stolz.

Hans-Jürgen Pausch: Also bei bestimmten Sachen ist es das Kupferdrücken, weil dort sozusagen dieses dreidimensionale Denken und auch eine gewisse Feinmotorik notwendig ist, dass dann dieser Effekt, der dann bei dem Drücken entstehen soll, tatsächlich eine Wirkung hat, die – also kann man schon sagen – entsprechend künstlerisch zu bewerten ist. Wenn dann von den Rehabilitanten die Anerkennung kommt, dass das ganz toll geworden ist und da natürlich dann der Stolz für den Rehabilitanten wächst, ist das für ihn eine ganz, ganz wichtige Sache, dass auch diese Rückmeldung dann gekommen ist, diese Anerkennung.

Dagmar Weitbrecht: Wieder etwas machen, was zu greifen ist. Das ist eine besondere Erfahrung. Auch bei Robert zeigen sich schon erste Erfolge.

Robert: Mir geht's zurzeit super. Ich merke richtig, dass die Bewegung, die wieder reinkommt, sehr gut ist. Der Tagesablauf, die Routine, die man hier wieder neu erlernt, ich sag mal so, hilft auch sehr dabei. Und mir geht's auf jeden Fall besser, als in den letzten Monaten davor, wo ich noch sehr viel am PC saß.

Dagmar Weitbrecht: Zeit bewusst gestalten, Dinge gemeinsam machen. Das ist das Eine. Auf der anderen Seite bestimmen die Computer unser alltägliches Leben, gerade in vielen Berufen. Anders als bei stoffgebundenen Süchten, wie etwa Alkohol oder Drogen, ist eine Abstinenz für Computer- oder Mediensüchtige sehr viel schwieriger einzuhalten. Chefärztin Graatz versucht es trotzdem.

Dr. Grit Graatz: Wir versuchen durchaus, ein abstinenz-orientiertes Therapieprogramm zu fahren. Wobei sie völlig recht haben, dass ich die Leute nicht vom Arbeitsplatz weg rehabilitieren kann und es heutzutage nahezu unmöglich ist, ein Leben ohne Medien zu führen. Ich vergleiche es jetzt mal mit einem Alkoholabhängigen. Dem verbiete ich ja nicht das Trinken per se, sondern ich verbiete, dass Alkoholtrinken, sonst verdurstet er. So mache ich das bei den Medienabhängigen auch, dass ich sage: PC-Spiele verbiete ich. Also ich verbiete nicht den Computer, sondern nur das Spielen am Computer und nicht handelsübliche Software, Berufs-Software. Ich hatte noch keinen Medienabhängigen, der von Word und Excel abhängig geworden ist.

Dagmar Weitbrecht: Ampelmodell heißt das Prinzip. Grün ist alles, was mit dem Beruf zu tun hat, also ein Word-Dokument oder eine Tabellenkalkulationen. Gelb kann ein Chat sein. Rot aber in jedem Fall das Computerspiel. Das gilt lebenslang. Auch für so vermeintlich harmlose Spiele wie Solitär. Dieser Gefahr ist sich Robert bewusst.

Robert: Wenn man einmal richtig fest drinnen hängt…ein Rezept dagegen ist schwierig (zu benennen). Wir sagen immer, wir arbeiten nach einem Ampelsystem. Sobald ich mit Spielen wieder anfangen würde, glaube ich, würde ich da wieder komplett reinrutschen. Es ist schwierig sich die Medien heutzutage wegzudenken. Auf jeden Fall muss man halt versuchen, wenn man einmal schwer in der Mediensucht drin liegt, sich zu fragen: Was kann ich denn tun am Computer und wovon soll ich die Finger weglassen wegen der Rückfallgefahr.

Dagmar Weitbrecht: Noch ist die Zahl der Patienten, die akut oder in der Reha betreut werden, überschaubar. Es sind derzeit bis zu 20 Patienten pro Jahr in Wiesen. Die Dunkelziffer bei den Computerspielsüchtigen ist hoch. Experten sehen mehr als eine halbe Million vor allem junge Menschen als abhängig an. Computer, Tablets, Smartphones sind im Alltag omnipräsent. Der Griff zum Handy oder Tablet ist Routine. Oft gehen Eltern recht sorglos mit dem Thema Mediennutzung um, sagt die Ärztin. Wie könnte eine wirksame Prävention aussehen? Grit Graatz hat Ideen.

Dr. Grit Graatz: Ich glaube, dass man durchaus schon in die frühen Schuljahre reingehen könnte, um Bewusstsein zu schärfen, um präventiv tätig zu sein. Wenn ich jetzt mal an Suchtprävention in Richtung Tabak denke, dass auf den Schachteln immer steht „Achtung, Rauchen gefährdet Ihre Gesundheit“. Wenn es industriell gewollt wäre, könnte man auch nach einer halben Stunde (Computerspiel) einen Jingle einspielen. “Achtung, du bist eine halbe Stunde online“, dann überlegt man, ob das gut ist. Also das wären sicherlich Maßnahmen. Aber ich glaube, das steht in weiter Zukunft. Wir selber gehen als Klinik in die Schulen und klären auf. Wir halten auch Vorträge in Schulen, um einfach das Bewusstsein zu schärfen. Aber das sind, glaube ich, eher Einzelfälle im Moment.

Dagmar Weitbrecht: Nach mehreren Wochen endet Roberts Aufenthalt in der Klinik bald. Dann geht es zurück ins reale Leben. Er hat mit Hilfe des Therapeutenteams einen Platz zum Neuanfang gefunden.

Robert: Nun, es gibt die Möglichkeit der Adaptionsbehandlung, die man direkt im Anschluss von der Reha, wo ich gerade bin, macht. Das ist in meinem Fall in Leipzig. Dort hat man halt die Möglichkeit, Praktika zu machen, sich neu ins Berufsleben einzufinden. Man hat eine eigene kleine Wohnung, muss sich selbst versorgen und hat halt trotzdem noch psychologische Hilfe. Und das werde ich, denke ich, in Anspruch nehmen.

Dagmar Weitbrecht: Robert könnte sich vorstellen, mit Kindern zu arbeiten, vielleicht als Erzieher. Auch der Beruf des Notfallsanitäters interessiert ihn.

Vom virtuellen Heiler zum realen Helfer, vom Avatar, der von virtuellen Freunden Anerkennung bekommt, vielleicht zum Erzieher, der in dankbare Kinderaugen schaut. Robert hat einen schmerzhaften Weg hinter sich und einen Weg vor sich, der mit Versuchungen gespickt ist. Denn nur die Hälfte der Computerspielsüchtigen schafft es, die Sucht zu beherrschen.

MDR MEDIEN360G „Ich war der 'Heiler' - der Weg aus der Computerspielsucht“ - ein Feature von Dagmar Weitbrecht.

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