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Corona-PandemieWenn aus Meinungen Fakten werden

05. Dezember 2023, 16:15 Uhr

"Jeder hat das Recht auf eine eigene Meinung, aber nicht auf eigene Fakten", lautet ein gern zitierter Satz in der Corona-Pandemie. Das hört sich einfach an, ist in der Realität aber deutlich komplizierter. Denn wer entscheidet darüber, was gesicherte Fakten sind - und was nicht?

von Steffen Grimberg

Gesagt hat den Satz zum Beispiel der Arzt und TV-Gesundheitsberater Eckart von Hirschhausen ("Quiz des Menschen", "Hirschhausens Check-Up"). Er äußerte den Satz in einem Interview Anfang 2021 über Corona und das Impfen. Darin kritisierte er "undifferenzierte Impfgegner", die nach seiner Meinung in den Medien zu viel Aufmerksamkeit bekämen.

Mitverantwortung der Medien

Auch das Institute for Strategic Dialogue (ISD), ein unabhängiger internationaler Think-Tank, verweist in seiner Studie "Überdosis Desinformation: Die Vertrauenskrise" über Impfskepsis und Impfgegnerschaft in der Covid-19-Pandemie auf die Verantwortung der Medien. Die Autoren kritisieren, dass zu oft eine "Einordnung von Informationen zur Covid-19-Impfung seitens der Medien" fehle, sodass es zu "False Balance" in der Berichterstattung komme. "Medien tragen Mitverantwortung für die Verbreitung von Fehlinformationen durch sensationalistische Clickbait-Artikel und verstärktes Aufgreifen und Mainstreaming von problematischen Narrativen, sowie eine unzureichende Einordnung von Informationen", so die 2021 erschienene Studie.

Viele Menschen, die heute den Fakten in den Medien nicht mehr trauen, begründen dies mit einer zu starken Orientierung der Berichterstattung an den offiziellen Maßnahmen der Politik. Auch taz-Chefredakteurin Barbara Junge sieht hier Defizite in der Berichterstattung vor allem zu Beginn der Pandemie, warnt aber vor voreiligen Schlüssen. "Ich denke nicht, dass die Medien der Politik hörig waren. Wir waren alle in einer Situation, in der wir nicht wussten: Was ist falsch? Und was ist richtig? Was ist oben und was es unten? Logischerweise haben sich Politik und Medien hier an den Expertinnen und Experten orientiert, was ich für ganz normal halte", so Junge im Gespräch mit MDR MEDIEN360G: "Ich sage nicht, dass es in jedem Fall richtig war. Natürlich haben wir Fehler gemacht." Dabei müsse aber unterschieden werden, ob diese Fehler aus Unkenntnis entstanden sind, oder bewusst Fehler in Kauf genommen wurden. "Wir haben bewusst einfach nur der Bundesregierung zugehört. Wir haben zu lange gebraucht, um uns selbst zu ermächtigen, um selbst recherchieren zu können, um selbst einordnen zu können."

Verzerrte Debatte

Dass ein Teil der öffentlichen Debatte von Anfang an verzerrt lief, bringt ein Teilnehmer der Befragung von MDRfragt, wie sich die Nutzerinnen und Nutzer über die Pandemie informieren und wie sie die mediale Berichterstattung bewerten, auf den Punkt:

Es gibt diejenigen, die sich Informationen und Fakten verschaffen, um sich eine Meinung zu bilden, und diejenigen, die sich immer mehr passende ‚Fakten‘ zu ihrer Meinung suchen - und finden.

Jens K., 49 Jahre, aus Leipzig

Dreh- und Angelpunkt dabei sind die Social-Media-Kanäle, die es den Menschen leicht machen, ihre "Fakten" zu ihrer Meinung zu suchen. "Es ist auf jeden Fall so, dass sich immer mehr Leute Fakten suchen, die zu ihrer Meinung passen", sagt auch taz-Chefin Barbara Junge. In der Social-Media-Welt finde man die entsprechenden Fakten "und bewegt sich auch nicht mehr raus, gleicht das nicht mehr ab." Krisenzeiten sorgten hier noch für eine Verschärfung des Problems, so Junge - was aktuell auch beim Krieg in der Ukraine zu beobachten sei.

Solch selektive Wahrnehmung führt regelmäßig in eine Sackgasse, weil hier die vorgefasste Meinung einer sachlichen und vorurteilsfreien Bewertung im Wege steht. Doch auch Nutzerinnen und Nutzer, die unvoreingenommen an das Thema herangehen, gaben bei der MDRfragt-Befragung ihre Skepsis und Unsicherheiten zu Protokoll. So erscheint einigen die Berichterstattung in Deutschland als zu provinziell und in Teilen zu amtlich-offiziös.  

Ich switche mehr auf internationale Quellen. Im TV sind das CNN, BBC,. Bei den Printmedien Washington Post, Le Monde, Financial Times. Deutsche Medien insgesamt vermitteln den Eindruck der provinziellen Gleichschaltung, obwohl es vereinzelt löbliche Ausnahmen gibt.

Heinz P., 67 Jahre, aus Mittelsachsen

Internationale Medien im Aufwind

Natürlich beziehen sich deutsche Sender und Zeitungen eher auf deutsche Themen und damit auf den "Nahbereich" ihrer Nutzerinnen und Nutzer. Dennoch hat sich in der Pandemie gezeigt, dass es ein Bedürfnis nach weitergehender Information und Analyse aus anderen (Medien-)Quellen gibt. Daher werden internationale Nachrichtensender wie der britische Nachrichtenkanal BBC-World oder CNN und andere ausländische Medienangebote stärker genutzt.

Meine Mediennutzung hat sich in der Pandemie sehr stark verändert. (…) Deshalb greife ich verstärkt auf Zeitungen, die außerhalb der Europäischen Union verlegt werden zurück.

Ulrich Z., 66 Jahre, aus Meißen

Noch wichtiger als diese Ausweitung des medialen Blicks ist dabei die Selbst-Informationsbeschaffung. Viele Befragte haben seit der Pandemie begonnen, selbst zu recherchieren. Das fängt bei amtlichen Quellen wie den Statistiken des Robert-Koch-Instituts (RKI) oder den Corona-Seiten der jeweiligen Landesregierungen im Internet an, geht aber weit darüber hinaus.

"Auf die Berichterstattung im Internet verzichte ich fast vollständig, da diese von Halbwissen und Fehlinformationen extrem durchsetzt sind. Wenn überhaupt schaue ich auf den Seiten des Landkreises zu tagesaktuellen Regelungen. In den anderen Medien, wie Radio oder Fernsehen hat sich die Berichterstattung etwas gebessert, was die Gründe für eine Impfung angeht. Leider wird noch zu häufig, auch aus der politischen Ecke, suggeriert, man könne sich mit einer Impfung gegen Corona schützen. Das stimmt nicht, einzig kann man die Auswirkungen von Corona, lindern, wie bei jeder Grippeschutzimpfung auch!"
- Yvonne B., 57 Jahre, aus Sonneberg

Nutzende fühlen sich überfordert

Dabei gibt es aber Kritik an vorschnell verkündeten neuen Erkenntnissen und Wahrheiten, die eher für mehr Verwirrung denn Klarheit sorgen. Dies gilt auch für das Verhalten von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern.

"Ich nutze das Internet dazu mehr als früher, auch um mich z.B. über die Corona-Lage in bestimmten Landkreisen und Orten, in denen die Familie und Freunde wohnen, zu informieren. Die Vielfalt an Sichtweisen und die verschiedenen Kommentierungen finde ich allerdings eher verwirrend für die durchschnittliche Bevölkerung, die diese meist nicht richtig einordnen kann. Das ist auch eine Kritik an den Wissenschaftlern (.…) Jeder Virologe oder Virologin und sonstige Wissenschaftler, die mit der Pandemie irgendwie zu tun haben, ‚posaunen‘ ihre Sichtweise und Meinung zur pandemischen Lage und den erforderlichen Maßnahmen ins Internet und in andere Medien."
- Evelyn G., 64 Jahre, aus Dessau-Roßlau

Hier liegt dann aber auch die Krux. Denn viele fühlen sich angesichts der Fülle zumeist nicht weiter aufbereiteter Informationen im Netz auch überfordert.

"Dem Normalbürger ist es nicht mehr möglich, die Vielzahl der Informationen zu werten und zu gewichten. Einerseits sieht er sich dem Mainstream des weit verbreiteten linken und regierungstreu etablierten Journalismus ausgesetzt, andererseits den eher regierungskritischen bis hin zu manchmal irrwitzigem Inhalten in den unabhängigen Medien (Internet). Wer das jeden Tag zu verfolgen sucht, wird irre. Ich habe mich dazu entschlossen, zu beobachten, was sich in meinem eigenen Umfeld abspielt und mit gesundem Menschenverstand zu bewerten."
- Thomas B., 69 Jahre, aus dem Erzgebirgskreis

Die "redaktionelle Gesellschaft"

Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen hatte das schon vor der Pandemie auf die Formel gebracht, alle Nutzerinnen und Nutzer von Medien müssten "medienmündig" werden und dafür selbst die Grundzüge kennen, wie Journalistinnen und Journalisten arbeiten. "Wir müssen medienmündig werden und von der digitalen Gesellschaft, in der wir heute leben, zu einer redaktionellen Gesellschaft der Zukunft werden", so Pörksen schon 2019 im Interview mit MDR MEDIEN360G. Also wie auch Barbara Junge von taz fordert, Fakten und Positionen abzugleichen und zu bewerten. "Die traditionellen Medien haben dabei weiter eine wichtige Funktion", so Junge: "Man sollte ihnen daher auch wieder ein bisschen Glaubwürdigkeit zusprechen und vielleicht auch von Seiten der Nutzerinnen und Nutzer offener auf die Medien zugehen."

Denn ohne eine solche "Medienmündigkeit" drohen Fehleinschätzungen bis hin zu fatalen Verwechslungen, bei denen aus Meinungen plötzlich Fakten werden.