Can Dündar im Interview "Lebenslang für die Wahrheit"
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"Lebenslang für die Wahrheit" und "Verräter" heißen die beiden Bücher des türkischen Journalisten und Autors Can Dündar, über die die Medienjournalistin Vera Linß für MEDIEN360G mit ihm sprach. Anlässlich seines Deutschlandbesuches forderte der türkische Staatspräsident Erdogan die Auslieferung Dündars und weiterer 68 Männer und Frauen.
Vera Linß: Können Sie sich bitte vorstellen? Womit sind Sie jetzt beschäftigt? Welche Position nehmen Sie ein?
Can Dündar: Ich bin ein türkischer Journalist. Ich war Chefredakteur der türkischen Tageszeitung "Cumhuriyet”. Ich arbeite seit 39 Jahren als Journalist. Im Moment lebe ich in Berlin: Ich bin in der Türkei verurteilt worden zu fünf Jahren und zehn Monaten Gefängnis. Wir haben Berufung eingelegt beim Obersten Gerichtshof, und ich warte auf eine Entscheidung.
In Ihrem Buch vergleichen Sie Ihr Leben mit einer Achterbahnfahrt. Manchmal ist man ganz oben, manchmal ganz unten. Sie erleben beide Seiten. Sie haben viel Aufmerksamkeit erhalten, viel Zuspruch und Preise. Und Sie mussten ins Gefängnis. Wo befinden Sie sich jetzt, wenn wir im Bild der Achterbahn bleiben?
Der schlimmste Teil war natürlich das Gefängnis. Ich war allein im Gefängnis. Sie hatten mich in Einzelhaft gesteckt. Und wenn man ganz allein ist, wenn man wegen seiner Texte ins Gefängnis gesteckt worden bist, dann ist man normalerweise enttäuscht und pessimistisch. Aber ich hatte diese Gefühle nicht. Dank der Bücher und Schriften, die ich bei mir hatte, fühlte ich mich wie zu Hause. Und auf gewisse Weise habe ich mir das Leben gerettet, indem ich geschrieben und gelesen habe. Und jetzt bin ich in Deutschland, und das ist viel besser, als im Gefängnis zu sein. Die Achterbahn fährt immer noch. Im Moment geht es wieder nach oben.
Sie haben Ihr Buch im Gefängnis geschrieben. Wann war der Moment, an dem Sie entschieden haben, dass Sie dieses Buch schreiben müssen? Zuerst wollten Sie ja ein anderes Buch schreiben und dann haben Sie dieses Buch geschrieben. Wie kam es dazu?
Mein Traum ist, ein Buch zu schreiben. Seit Jahren versuche ich das. Ich habe dazu viel recherchiert. Und bevor ich ins Gefängnis ging, habe ich meine Frau gebeten, die Bücher ins Gefängnis zu schicken. Ich hatte die Bücher schon in eine Kiste gepackt. Nachdem ich inhaftiert worden war, schickte sie mir die Bücher. Und ich begann, sie noch einmal zu lesen.
Um welches Thema ging es?
Es ging um Cervantes. Ich habe eine bestimmte Zeit in seinem Leben untersucht. Sein Leben im Gefängnis. Das war ein Zufall. Ich wusste nicht, dass ich im Gefängnis sein würde, wenn ich beginnen würde, das Buch zu schreiben. Das war ein netter Zufall, dass ich über seine Zeit im Gefängnis gearbeitet habe, während ich selbst im Gefängnis saß. Aber nach einer Weile wurde mir bewusst, dass ich über mich im Gefängnis schreiben sollte, anstatt über Cervantes. Denn als Journalist beobachtet man viele Dinge im Gefängnis. Das schien mir eine gute Idee, darüber zu schreiben. Und ich entschied mich, das Thema zu ändern. Ich klappte die Bücher über Cervantes wieder zu und packte sie wieder in die Kiste zurück und schrieb mein Buch, anstatt das andere.
In Ihrem Buch beschreiben Sie, was von dem Moment an passierte, als Sie entscheiden mussten, wie Sie mit dem Video umgehen – das ganz offensichtlich bewies, dass die türkische Regierung Waffen nach Syrien geliefert hat –, bis zu Ihrer Freilassung aus dem Gefängnis im Februar dieses Jahres. Was wollen Sie mit Ihrem Buch zeigen? Ist es eine Chronologie davon, was passiert ist in dieser Zeit? Oder wollten Sie die Umstände Ihrer Haft aufzeigen? Welches ist der wichtigste Aspekt, den Sie zeigen wollten?
Das Klima in der Türkei. Die Umstände, unter denen wir arbeiten. Die Welt sollte verstehen, in welchem Zustand sich die Türkei im Moment befindet. Als Journalist, als Zeitung, versuchen wir alles, um den Menschen zu ihrem Recht zu verhelfen, zu wissen, was passiert, und die Pressefreiheit zu verteidigen. Wir befinden uns im Kampf gegen Unterdrückung und Zensur. Es ist nur eine kleine Geschichte in dem großen Kampf. Es geht um eine Geschichte, um eine Schlagzeile. Die Geschichte entsprach der Wahrheit, und ich wollte einfach, dass die Menschen sie lesen können. Ein Journalist kann ins Gefängnis gesteckt werden, weil er eine wahre Geschichte geschrieben hat. Und anschließend muss er sich entscheiden zwischen Gefängnis oder der Möglichkeit, das Land zu verlassen. Und das ist die beste Art und Weise, um das Land und die Situation der Pressefreiheit in diesem Land zu verstehen.
Sie kritisieren die Zustände in der Türkei. Aber was auch sichtbar ist: Sie lieben Ihr Land sehr.
Ja natürlich. Sie müssen unterscheiden zwischen dem Land und den Machthabern. Das sind zwei verschiedene Dinge. Sie können gegen die Regierung kämpfen und gleichzeitig Ihr Land lieben. Tatsächlich müssen Sie gegen die Unterdrücker kämpfen, um Ihr Land zu retten. Alles was wir versuchen ist, unser Land vor der Unterdrückung zu retten, und wir verteidigen nicht nur einen Beruf, sondern gleichzeitig das Land.
Wie haben Sie die Zeit im Gefängnis erlebt?
Ich hatte nette Begegnungen mit mir selbst. Jeder sollte das mal ausprobieren, denn das ist eine wichtige Erfahrung. Wenn man ganz allein im Gefängnis ist, ohne jede Information, auf einer Art digitalem Entzug, keine Telefongespräche, kein Klopfen an der Tür. Das ist ein bisschen wie die Welt im 15. Jahrhundert. Plötzlich findest du dich allein wieder. Und du musst damit zurechtkommen. Das war eine nette Erfahrung. Ironischerweise wollen sie dich zum Schweigen bringen, indem sie dich in eine Einzelzelle werfen. Aber gleichzeitig schaffen sie dir ein Podium, auf dem dich die ganze Welt hört. Es war leichter für mich, mich vom Gefängnis aus an die Welt zu wenden, weil ich plötzlich ins Zentrum der Aufmerksamkeit der gesamten Medienwelt geraten war. Ich habe die Gelegenheit genutzt, um mich selbst auszudrücken und über die Bedingungen zu berichten. Und es hat funktioniert.
Sie beschreiben den ersten Tag im Gefängnis, wo auch Kollegen aus einer anderen Zeitung inhaftiert waren. Diese wussten, dass Sie im Gefängnis angekommen waren und schickten Ihnen Geschenke. Sie solidarisierten sich mit Ihnen. Gab es viele dieser Momente im Gefängnis?
Natürlich. Es ist nicht leicht, die Kommunikation zwischen Menschen zu unterbinden. Man findet immer einen Weg, miteinander zu kommunizieren. Wir waren alle allein in unseren Zellen, aber wir haben Wege gefunden, miteinander zu kommunizieren. Der eine hat einige Zeitungen geschickt, wir haben die Zeitungen zusammengerollt und versucht, sie über die Mauer zu werfen von einer Zelle zur anderen, und die Mauer war zehn Meter hoch. Es war nicht so einfach, aber immer einen Versuch wert. Es gab viele Wege, über die wir miteinander kommunizieren konnten. Tatsächlich wurde das Buch heimlich aus dem Gefängnis gebracht, denn es war uns nicht erlaubt, Außenstehenden etwas aus dem Gefängnis mitzugeben. Darum war das alles nicht einfach, aber der Verstand ist ständig in Bewegung im Gefängnis und fand einen Weg, die Welt zu erreichen.
Sie haben sich mit fiktionalen Figuren verglichen, mit einer Figur aus dem "Prozess" von Franz Kafka und später mit der "Schachnovelle" von Stefan Zweig. Können Sie das ein bisschen erklären?
Natürlich war es befremdlich. Plötzlich fand ich mich in einer Zelle wieder. Ein Tag zuvor hatte ich Hochzeitstag und davon geträumt, mit meiner Frau zu Abend zu essen. Statt mit ihr zu essen, fand ich mich in einer Zelle wieder. Plötzlich, am Morgen, wachte ich auf. Ich hatte nichts falsch gemacht, außer meine Pflicht erfüllt zu haben, die Information weiterzugeben. Darum war mir die Situation vertraut. Um das Gefühl der Einsamkeit zu überwinden, musst du etwas tun. Und Bücher sind unsere besten Freunde. Darum beschloss ich, mich an sie zu wenden. Im Gefängnis gab es eine Bibliothek und ich fragte nach der Liste und checkte sie. Überraschenderweise gab es einige meiner Bücher in der Gefängnisbibliothek. Ich entschied mich für die "Schachnovelle", weil ich sie kannte. Es schien mir eine gute Idee zu sein, sie noch einmal unter diesen Umständen zu lesen. Und es passt. Im Buch geht es um einen Gefangenen unter der Nazibesatzung und wie ein Buch sein Leben verändert hat. Das Buch veränderte das Leben eines anderen Gefangenen in unserem Jahrhundert. Da gibt es Vergleiche. Es ist ein kraftvolles Buch und ein kraftvoller Schriftsteller.
Wie wichtig war es für Sie, Ihr Buch zu schreiben? War es eine Möglichkeit, mit der Monotonie im Gefängnis fertig zu werden?
Ja, ich habe mir gesagt, ich danke Gott, dass ich nicht Arzt geworden bin oder Ingenieur oder Zahnarzt, denn man muss einfach was zu tun haben, seine Arbeit machen können. Als Schriftsteller braucht man nur Stift und Papier. Beides rettet dir das Leben. Du kannst eine Welt schaffen im Gefängnis, indem du schreibst. Ich nutzte diese Gelegenheit, um mir eine Welt zu erschaffen. Die Routine kann damit unterbrochen werden. Zum Beispiel zwingen sie dich, um neun Uhr schlafen zu gehen, ich aber habe um neun angefangen zu schreiben. Du kannst die Routine komplett zu deinen Bedingungen verändern. Das war schön. Und gleichzeitig habe ich das Schweigen in meiner Zelle gebrochen und konnte die Welt und jetzt auch Sie erreichen.
Sie haben das Buch handschriftlich verfasst. Das ist ungewöhnlich heutzutage. Sie hatten keinen Computer, sie hatten keine Schreibmaschine. Hat das Ihr Buch beeinflusst?
Ich muss sagen, ja. Wir sind so an Computer gewöhnt, dass es für mich ein bisschen schwierig war, wieder mit der Hand zu schreiben. Zuallererst ist es ermüdend. Nach zwei Stunden wurde es schwer für mich, mit der Hand weiter zu schreiben. Ich habe meine linke Hand geschult zu schreiben. Das war nicht so einfach. Und gleichzeitig, dass man nicht löschen kann, was man geschrieben hat, nichts umstellen, nichts kopieren und einfügen kann. Der Computer hat uns eine andere Art und Weise zu schreiben ermöglicht. Ohne Computer muss man sich genau überlegen, was man schreibt. Weil man es nicht so einfach verändern kann. Man ist genauer und direkter, als bei Büchern, die man auf dem Computer schreibt.
Wie haben Sie die Außenwelt im Gefängnis erlebt?
Wir hatten viele Besucher, Rechtsanwälte und einige Abgeordnete. Es gab nur zwei Gruppen von Menschen, denen es erlaubt war, uns zu besuchen. Und sie kamen wirklich regelmäßig. Dank ihnen waren wir nicht allein. Gleichzeitig gab es jeden Tag Proteste außerhalb des Gefängnisses. Unsere Kollegen hatten das gestartet. Sie saßen einfach auf einem Stuhl, um gegen unsere Inhaftierung zu protestieren. Und als ein Zeichen der Solidarität uns gegenüber. Wir haben uns nie einsam gefühlt in der Zelle. Sie haben uns Briefe geschickt und über die Rechtsanwälte an uns gegeben. Es war eine Art Brieffreundschaft mit der Außenwelt, die uns erwärmt und lebendig gehalten hat im Gefängnis.
Am Ende Ihres Buches danken Sie Erdogan dafür, dass Sie im Gefängnis saßen. Das klingt in meinen Ohren etwas befremdlich. Und Sie haben einen offenen Brief an ihn geschrieben. Wie wichtig war die Gefängniszeit für Sie? Warum danken Sie Erdogan?
Ich habe Ihnen gesagt, dass die Monate im Gefängnis mein Leben verändert haben. Sie gaben mir die Möglichkeit, mir selbst zu begegnen. Ich habe viele Freunde gewonnen, ein Buch geschrieben, verschiedene Menschen getroffen. Und ich konnte sehen was passieren würde, wenn ich plötzlich verschwinde. Es entstand eine neue Dimension in der Beziehung zu meiner Familie, zu meiner Frau, meiner Mutter, meiner Zeitung und so weiter. Und mit einem Mal erhielt ich viele Angebote von Medien aus aller Welt; fing an, für sie zu schreiben – was einmal ein Traum von mir gewesen war. Es gibt viele Gründe, ihm zu danken. Weil er mich unterdrückt hat, hat die ganze Welt versucht, mich zu erreichen und versucht, meine Ideen kennen zu lernen. Und natürlich gehen wir jetzt zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, denn unsere Inhaftierung war rechtswidrig. Ich gehe davon aus, dass die türkische Regierung deshalb eine Strafe zahlen muss.
Insgesamt haben Sie einen optimistischen Blick auf die Dinge.
Ja. Er möchte, dass wir pessimistisch sind. Aber wir tun ihm den Gefallen nicht. Das ist ein Kampf, und wir sind vorbereitet auf solche Attacken, Inhaftierungen, Beleidigungen und so weiter.
Wie steht es um die Pressefreiheit in der Türkei? Wegen des Putsches im Juli sind viele Journalisten ins Gefängnis gekommen und Publikationen wurden eingestellt. Ich würde sagen, die Situation ist schwierig. Was meinen Sie?
Schon zuvor waren die Bedingungen furchtbar. Schon vorher waren wir im Gefängnis. Viele Journalisten waren im Gefängnis. Zensur war Alltag, und die Bedingungen waren nicht besser. Aber nach dem Putschversuch hat es sich verdoppelt und verdreifacht. Es ist fast unmöglich, irgendetwas gegen die Regierung zu sagen, kritisch zu sein. Es ist so gefährlich und riskant für die Journalisten. Nur noch drei Zeitungen, darunter unsere, und ein Fernsehkanal sind noch kritisch. Und ich fürchte, ihnen steht bevor, dass sie geschlossen werden. Die Unterdrückung war so groß, dass hunderte von Medienunternehmen geschlossen wurden. 139 Journalisten, glaube ich, sind im Gefängnis. Zirka 2000 sind arbeitslos. Wir sind am Ende der Pressefreiheit in der Türkei.
Wo wird das hinführen?
Darum sind wir hier und versuchen, etwas zu unternehmen. Wie ich Ihnen sagte: Man hört im Gefängnis nicht auf, ein Mensch zu sein und miteinander zu kommunizieren. Das ist unmöglich. Wir versuchen erneut, gehört zu werden. So, wie wir es im Gefängnis getan haben, so machen wir es jetzt von hier aus. Wenn du die Wahrheit weißt, kannst du sie nicht verbergen.
Sie starten ein neues Projekt von Berlin aus. Können Sie etwas von diesem Projekt erzählen?
Als ich hierher kam, wusste ich nicht, dass ich hier bleiben muss. Es war eigentlich ein touristischer Besuch. Ich kam mit meiner Kiste voll Büchern hierher, um das Buch zu schreiben. Jetzt bin ich erneut unterbrochen worden. Und noch einmal schließe ich die Bücherkiste. Jetzt versuche ich, ein neues Medienunternehmen von hier aus zu starten. Nicht nur von hier, sondern zusammen mit meinen Freunden in der Türkei. Da gibt es viele couragierte und viele erfolgreiche Journalisten, die jetzt ohne Arbeit sind, einfach weil sie der Regierung ein Dorn im Auge sind. Zusammen mit ihnen und meinen deutschen Kollegen versuchen wir, etwas zu tun. Wenn die Regierung etwas verbergen will, ist es unsere Pflicht und Verantwortung, das offen zu legen. Wir werden von hier aus weiter kämpfen.
Viel Erfolg und vielen Dank.
Ich danke Ihnen.