Nachrichten & Themen
Mediathek & TV
Audio & Radio
MedienwissenMedienkulturMedienpolitikSuche
Bildrechte: MDR/MEDIEN360G

Journalistische AusnahmesituationVerantwortung und Genauigkeit in der Corona-Berichterstattung

17. April 2020, 16:15 Uhr

Journalistinnen und Journalisten sind in der Corona-Krise besonders gefordert. Denn Berichterstattung ist Pflicht, auch wenn viele Meldungen Angst machen und manchmal Fragen offen bleiben. MDR MEDIEN360G wollte wissen, wie Redaktionen tagtäglich mit dieser besonderen Verantwortung umgehen und hat dazu mit Redaktionsleiterin Christin Bohmann, MDR AKTUELL Online, gesprochen.

von Steffen Grimberg

MDR MEDIEN360G: Frau Bohmann, wie gehen Sie mit den vielen Zahlen zu Corona um, die jetzt täglich bei Ihnen ankommen? Da gibt es die Zahlen der mit dem Virus Infizierten und Verstorbenen des Robert Koch Instituts, Zahlen von der Johns Hopkins Universität aus den USA, von anderen Ämtern und offiziellen Stellen…

Christin Bohmann: Wir diskutieren viel, was die Zahlen wirklich aussagen, wie man sie lesen muss. Es ist auch sehr wichtig, das synchron zu bekommen: Da gibt es die gemeldeten Infektionszahlen auf Kreis- und Landesebene, die auf unterschiedlichen Wegen und mit zeitlichem Verzug gemeldet werden. Dazu kommen die deutschland- und weltweiten Zahlen. Wir müssen immer wieder erklären: Warum gibt es diesen Zahlenwirrwar und welche Aussagekraft haben die einzelnen Angaben. Wir bieten den Nutzerinnen und Nutzern auf mdr.de die Möglichkeit, selbst zu recherchieren, wie es z.B. in ihrer Stadt, ihrem Landkreis aussieht. Das bedeutet auch, dass wir nicht alle Menschen ständig mit neuen Zahlen konfrontieren, auch wenn sie es vielleicht wollen. Wer sich aber besonders dafür interessiert, kann hier auch ganz tief einsteigen.

MDR MEDIEN360G: Was bereitet hier denn das größte Kopfzerbrechen?

Christin Bohmann: Im Moment zum Beispiel die Angaben zu den Menschen, die sich infiziert hatten aber wieder gesund sind. Da gibt es verschiedene Schätzmodelle je nach Schwere der Krankheitsverläufe. Das Robert Koch Institut und die Landesbehörden nutzen nicht zwangsläufig dieselben Methoden. Wir prüfen auch immer unser Wording mit Blick auf Todesfälle. Wir sprechen nicht von „Corona-Toten“, sondern versuchen klar zu machen, dass es um Todesfälle im Zusammenhang mit dem neuen Corona-Virus geht, dass Vorerkrankungen eine große Rolle spielen. Ganz generell müssen wir uns bei jeder Zahl immer wieder fragen: Ist das tatsächlich eine Nachricht?

MDR MEDIEN360G: Wie entscheiden Sie das?

Christin Bohmann: Die Zahlen nur um der Zahlen Willen berichten wir nicht. Sie müssen immer eine Entwicklung des Infektionsgeschehens verdeutlichen. Hier versuchen wir auch immer - natürlich auch gemeinsam mit anderen Redaktionen auf mdr.de - den Hintergrund mitzudenken.

MDR MEDIEN360G: Viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler oder auch die Politik widersprechen sich aber in ihren Einschätzungen und Prognosen.

Christin Bohmann: Hier ist es unsere Aufgabe, die Glaubwürdigkeit der Aussagen zu prüfen und dann aber auch diese Meinungsvielfalt abzubilden. Nicht über diese Widersprüche zu berichten, wäre auch ein Fehler. Es ist ja gerade die Aufgabe des Journalismus, Komplexes erklärbar zu machen. Wir müssen zum Beispiel fragen: Sind das jetzt klare Fakten und wissenschaftlich gesicherte Empfehlungen - oder geht es eher um politisches Handeln? Wenn Ministerpräsidenten Ansagen machen, bevor es ein zwischen Bund und Ländern abgestimmtes Vorgehen im Umgang mit den Corona-Beschränkungen in Deutschland gibt, können wir diese Aussagen nicht ignorieren. Aber wir müssen sie einordnen und klar machen, dass da auch noch andere Interessen und Absichten eine Rolle spielen.

MDR MEDIEN360G: Viele Nachrichten zu Corona beunruhigen die Menschen, machen ihnen Angst. Spielt das bei Ihren Überlegungen auch eine Rolle? Hat sich in der Art und Weise, was Sie berichten, im Vergleich zu den Zeiten vor Corona etwas verändert?

Christin Bohmann: Ob eine Nachricht Menschen Angst machen könnte, darf kein Kriterium sein, ein Ereignis nicht zu berichten. Es ist nicht unsere Aufgabe als Journalistinnen und Journalisten, den Menschen die Angst zu nehmen. Das sind ja auch sehr subjektive Empfindungen und es macht jedem etwas anderes Angst. Wir müssen aber darauf achten, dass wir nicht durch unseriöse oder unzulässig zugespitzte Berichterstattung zu einer Panikmache beitragen. Dazu gehört, dass wir sachlich berichten. Emotionen haben die Menschen selbst genug in diesen Zeiten.

MDR MEDIEN360G: Haben die Medien denn hier etwas falsch gemacht?

Christin Bohmann: Vielleicht am Anfang, als oft von der „mysteriösen Lungenkrankheit aus Asien“ die Rede war und viele glaubten, das würde uns hier in Europa nicht betreffen. Wir müssen unseren Nutzerinnen und Nutzern klar machen, dass es sich bei der Ausbreitung und Bekämpfung des Virus um eine Entwicklung handelt, in der wir jeden Tag Neues erfahren und dazulernen. Um diesen Verlauf zu porträtieren, dokumentieren wir die Ereignisse beispielsweise in einer Corona-Chronik.

MDR MEDIEN360G: Was sagen Sie denn zur Kritik, die Medien berichteten nur noch über Corona und alle anderen Nachrichten fielen unter den Tisch?

Christin Bohmann: Diesen pauschalen Vorwurf würde ich nicht so stehen lassen. Wir schauen schon jeden Tag, was wir noch an anderen Themen berichten und anbieten können. Aber im Moment steht ja fast alles im Zusammenhang mit Corona. Das ist selbst bei so jahreszeitlichen Themen wie dem Beginn der Spargelernte der Fall. Da geht es jetzt darum, ob die Erntehelfer aus dem Ausland trotz der wegen Corona geltenden Einreisebeschränkungen nach Deutschland kommen dürfen. Ich glaube, solange in der Gesellschaft die Ausnahmesituation herrscht, haben wir auch in den Medien diese mediale Ausnahmesituation.

MDR MEDIEN360G: Wie gehen Sie in der Redaktion selbst mit dem Thema Corona um?

Christin Bohmann: Es ist anders als sonst. Die Krise ist überall, nicht nur da draußen, wo wir dann als nicht betroffene Journalistinnen und Journalisten hingehen und darüber berichten. Corona betrifft uns alle, auch hier in der Redaktion. Jeder erlebt es. Und unsere Aufgabe und Verantwortung ist es, sachlich und transparent darüber zu berichten.

Mehr zu den Auswirkungen der Corona-Krise in den Medien

Fundstücke in Corona-"Auszeit"Webradio für Covid-19-Patienten

Zwang fördert die Kreativität - die Einschränkungen durch die Corona-Krise bringen Woche für Woche spannende Ergebnisse im Netz hervor. Wieder haben wir unterhaltsame Klick-Hinweise für Sie gesammelt.

MusikjournalismusKreative Ideen trotz Corona

Probleme hatten Musikmagazine schon vor Corona. Die Krise hat die Lage aber nochmal verschärft. Von einer „existenzgefährdenden Bedrohung“ ist die Rede. Doch es gibt auch kreative Reaktionen.

Corona-MythenWas Verschwörungsglauben attraktiv macht – und wie Journalisten ihm begegnen

In Krisen gedeihen Verschwörungsmythen. Wenn Journalisten sie widerlegen, tun sie ihren Job. Dass Medien selbst als dubiose Kräfte in den Erzählungen auftauchen, erschwert die Aufgabe – aber es ändert nichts an ihr.

Studie zur GeschlechterverteilungIn der Corona-Krise sind in den Medien kaum Frauen als Expertinnen gefragt

Die MaLisa-Stiftung hat analysiert, wie oft Frauen als Expertinnen in Sachen Corona in den Medien präsent sind. Die Ergebnisse sind ernüchternd: In den Zeitungen wie im TV kommen auf eine Frau zwei Männer.

mit Audio

Kinder und CoronaStudie: Kinder, Medien und COVID-19

Einen Studie in 42 Ländern ergibt: Kinder, die über ein Grundwissen zur Corona-Pandemie verfügen, haben weniger Angst. Erkennen sie auch Fake-News?