Hand mit angekettetem Smartphone.
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Der unendliche Scroll So manipulieren uns Apps

20. August 2020, 13:22 Uhr

Smartphones sind digitale Alleskönner und für fast 90 Prozent von uns täglicher Begleiter. Viele der Apps, die wir nutzen, sind so angelegt, dass wir möglichst viel Zeit mit ihnen verbringen wollen. Für die Industrie eine gigantische Einnahmequelle. Für uns User kann das zur Gefahr werden.

Musik hören, Selfie posten, Filme schauen. Apps machen das Smartphone zu einem Universalwerkzeug, das sogar ein Kleinkind bedienen kann. Als Resultat schenken wir dem digitalen Helfer viel Aufmerksamkeit. Laut Analyse-Plattform App Annie verbrachten Smartphone-Nutzende im vergangenen Jahr 3,7 Stunden täglich mit dem Gerät – Tendenz steigend.

Alles für die „user experience“

Vor allem die zahlreichen und nutzerfreundlichen Apps haben dem Smartphone in den letzten zehn Jahren zum Durchbruch verholfen. Damit die Bedienung der Geräte möglichst intuitiv ist, wurden Konzepte entwickelt, die die sogenannte „user experience“ verbessern soll. Denn haben wir Verbraucher ein Nutzungserlebnis, das uns gefällt, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass wir auch in Zukunft diese App verwenden werden.

Ein Beispiel für so ein angenehmes Nutzungserlebnis ohne Hindernisse ist der „Infinite Scroll“. Wir können unendlich durch Apps scrollen und erreichen nie das Ende der Seite. Ein anderes Beispiel ist das Bedienkonzept „Pull-to-Refresh“. Mit einer einfachen Wischgeste können wir den Inhalt einer App oder Website aktualisieren. Sehr beliebt sind auch Push-Benachrichtigungen, die uns animieren sollen, ein bestimmtes Programm zu öffnen.

Infinite Scroll

Funktion: Als „Infinite Scroll“ (unendlicher Bildlauf) wird eine Webdesign-Technik bezeichnet, die verhindert, dass User durch Scrollen das Ende der Website erreicht. Neue Inhalte werden kontinuierlich nachgeladen. Bei Facebook oder Instagram ist diese Technik fester Bestandteil des Bedienkonzepts.

Nebenwirkung: Es ist ähnlich wie bei einem Teller, der sich nie leert, egal wieviel davon gegessen wird. Eigentlich trägt der Effekt des leeren Tellers zum Sättigungsgefühl bei. Bleibt es aus, nehmen wir mehr Nahrung zu uns als eigentlich benötigt. Präsentiert uns eine Website oder App immer neue Informationen, konsumieren wir mehr und verbringen somit mehr Zeit in der Applikation.

Push-Benachrichtigung

Funktion: Als Push-Benachrichtigungen werden Informationsformate bezeichnet, die dem Nutzer automatisiert und ohne dessen aktives Zutun vom Smartphone zugestellt werden. Welche App solche Nachrichten verschicken darf, kann in den Einstellungen definiert werden.

Nebenwirkung: Der App-Hersteller möchte, das wir Zeit in ihr verbringen. Menschen sind neugierig und öffnen die Nachricht. Als Belohnung für unsere Reaktion erhalten wir eine neue Information. In diesem Moment produziert unser Gehirn den Neurotransmitter Dopamin und wir erleben ein kurzes Glücksgefühl. Diese Reaktion in unserem Kopf wird von Verhaltensforschern als suchtfördernd eingestuft.

Pull-to-Refresh

Funktion: Die „Pull-to-Refresh“-Funktion ist eine Touchscreen-Geste, bei der ein Finger (oder ein anderes Zeigegerät) den Bildschirm berührt und sich dabei nach unten bewegt. Als Resultat werden die Inhalte auf dem Bildschirm aktualisiert. E-Mail-Apps nutzen zum Beispiel dieses Interaktionskonzept.

Nebenwirkung: Eine kurze Geste für eine neue Information bedeutet Dopamin für unser Hirn. Bleibt die Belohnung immer mal wieder aus, verstärkt das den Effekt sogar. Ein Bedienkonzept, dass wir auch bei Geldspielautomaten in Casinos finden.

Der Haken an der Sache: Wir verbringen mehr Zeit mit unseren Apps, als wir eigentlich möchten. Diese Nebenwirkung wird von den Herstellern gern toleriert, denn nur aktive Nutzer bescheren Facebook, Google und Co. den gewünschten Umsatz. „Menschen sind ja sehr anfällig dafür, irgendwie psychologisch angeleitet zu werden“, sagt Sylvester Tremmel, Datenschutzspezialist des c't Magazins für Computertechnik. Und genau das macht sich die App-Branche schon seit Jahren zu nutze.

Das ist dann halt eine sehr unscharfe Grenze, wo es dahingeht, dass es eigentlich nur noch im Interesse des Unternehmens ist, dass Sie immer noch weiter mit diesem Produkt interagieren.

Sylvester Tremmel | c't-Redaktion

Am Haken der App-Industrie

Die Zutaten für ein erfolgreiches digitales Produkt hat der US-amerikanische Wirtschaftsingenieur und Publizist Nir Eyal untersucht. In dem 2014 veröffentlichten Buch Hooked: Wie Sie Produkte erschaffen, die süchtig machen, verrät er sein Rezept. Nach Eyals Auffassung durchlaufen User vier Schritte in Endlosschleife, damit eine App kommerziell erfolgreich wird.

Und das geht so: Zuerst muss uns die App zum Handeln auffordern. Zum Beispiel durch eine Benachrichtigung auf dem Smartphone, die uns bittet, die App zu öffnen. Eyal bezeichnet diesen Schritt als Trigger (Auslöser).

Wir User sind neugierig und wollen nichts verpassen. Dieser psychologische Effekt führt uns direkt zum zweiten Schritt: Wir öffnen die App. Im Gegenzug belohnt uns die Software mit einer neuen Information. Zum Beispiel einem Kommentar unter dem Foto, das wir gestern gepostet haben. Wichtig ist, dass diese Belohnung variiert, denn dann erzeugt unser Gehirn den Neurotransmitter Dopamin, der uns ein kurzes Glücksgefühl beschert. Eine ähnliche Wirkung auf die chemischen Abläufe in unserem Kopf haben auch „Einarmigen-Banditen“ im Spiel-Casino.

Im nächsten Schritt sind wir User wieder am Zug: Wir investieren Zeit, Geld oder persönliche Daten in die App. Denn wir sind weiter auf der Suche nach Neuigkeiten und Bestätigung.

Je häufiger wir diese Schritte durchlaufen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir uns daran gewöhnen und mehr Zeit in der App verbringen. Das kann mitunter soweit gehen, dass wir unseren App-Konsum nicht mehr kontrollieren können und eine Abhängigkeit entwickeln.

Der öffentliche Diskurs fehlt

Vom Spiel bis zum sozialen Netzwerk – eine Vielzahl moderner Apps verwenden genau diese Zutaten, denn je länger wir uns mit einer App beschäftigen, desto mehr Werbeanzeigen bekommen wir zu sehen. Daher hat die App-Industrie kaum ein Interesse daran, die Funktionsweise ihrer Produkte zu ändern. "Die Großkonzerne wissen das alle. Nutzen das alle. Mehr oder minder moralisch vertretbar. Aber die haben das eindeutig auf dem Tablett und die Nutzer halt tendenziell nicht. Und das ist natürlich immer eine ganz schlechte Position, wenn man nicht mal weiß, welchem psychologischen Effekt man ausgesetzt ist", so Tremmel.

Sylvester Tremmel ist davon überzeugt, dass diese Tatsachen mehr ins Bewusstsein der Menschen gerückt werden müssten. Das hätte zwei zentrale Vorteile: Wir könnten unseren Umgang mit den Apps besser gestalten und sogar Druck auf die Industrie ausüben, “dass man das mal irgendwie ein bisschen Nutzerschonender realisiert“, so Tremmel.

Wir haben als Gesellschaft noch nicht gelernt, wie man damit am besten umgeht.

Sylvester Tremmel | c't-Redaktion

Welche Auswirkungen diese veränderte Kommunikationskultur auf unsere Gesellschaft hat, wird noch erforscht. Daher sollten wir Nutzer mehr auf unser Verhalten im Umgang mit dem Smartphone achten, um negative Konsequenzen frühzeitig zu erkennen und zu vermeiden.

Zur Person Sylvester Tremmel

Sylvester Tremmel ist Journalist beim c't Magazin für Computertechnik. Für das Resort „Anwendungen und Internet“ beschäftigt er sich vorwiegend mit den Themen Datenschutz, App-Sicherheit und digitale Souveränität.