Neun-Euro-Ticket mit Bahn- und Busmodell
Das 9-Euro-Ticket reicht auch nach Ansicht des Interessenverbandes "Agora" noch lange nicht für eine Verkehrswende aus. Bildrechte: IMAGO / Christian Ohde

Mobilität im Wandel Der lange Ladebalken der deutschen Verkehrswende

20. Oktober 2022, 15:45 Uhr

Ein in Aussicht gestelltes 49-Euro-Ticket für den öffentlichen Nahverkehr vermag nicht darüber hinwegzutäuschen, dass die deutsche Verkehrswende lahmt. Kein anderes Ressort hängt den Klimaplänen der Bundesregierung so stark hinterher wie das Bundesverkehrsministerium. Der zuständige liberale Minister Wissing will Handlungsfähigkeit demonstrieren, scheitert dabei aber immer wieder an behördlicher Bürokratie, einer krisengebeutelten Wirtschaft und der eigenen Ideologie.

Torben Lehning
Bildrechte: MDR/Tanja Schnitzler

Verkehrswenden-Beschauung am Mittwochmittag in der Bundespressekonferenz. Ein bisschen überhastet und zu spät kommt der Bundesverkehrsminister zur eigenen Vorstellung. Es gibt viel tun – haben er und die anderen Bundesminister- und Ministerinnen, doch gerade noch im Kabinett die Laufzeitverlängerung für alle drei noch betriebenen Atomkraftwerke bis Mitte April 2023 beschlossen. Wissing will es wissen. Das ist nicht der Titel einer neuen Forsch- und Bastel-Sendung im Kinderkanal, sondern vielmehr die Botschaft, die der Verkehrsminister heute aussenden will. Allen Krisen und dem Krieg zum Trotz, mit der Verkehrswende soll es nach vorne gehen.

Der Masterplan des Ministers

Und womit? Mit Elektromobilität! Die Zielvorgabe eine Millionen Elektroladesäulen bis 2030 soll nicht wackeln, sondern umgesetzt werden, sagt Wissing. Mit Hilfe eines frisch aufgesetzten "Masterplans" soll Deutschland flächendeckend mit Ladesäulen versorgt werden. Von urbanen Zentren bis zu entlegenen Regionen, vom Autobahnkreuz bis zur Landstraße.

Die Stromkosten klettern zwar immer weiter in die Höhe, "Benzin und Ölpreise aber auch", quittiert der Minister und verweist auf die Pläne der Bundesregierung, in nicht allzu ferner Zukunft bald zu hundert Prozent regenerativen Strom anbieten zu wollen.

Bei der Erstellung des Masterplans der Ladesäuleninfrastruktur habe sich sein Ministerium Zeit gelassen, so Wissing. Die sei auch nötig gewesen, um mit allen beteiligten Akteuren zu sprechen. Um die Elektromobilität in Deutschland voranzubringen, müsse das Aufladen eines E-Autos so einfach verfügbar sein wie Tanken und dürfe mit Hilfe von Schnellladesäulen auch nicht deutlich länger dauern. Im letzten Jahr habe sich die Anzahl von Ladesäulen bereits um 45 Prozent auf insgesamt 70.000 Stationen verdoppelt, so Wissing. Viel wichtiger als die schiere Anzahl sei jedoch, dass Ladesäulen nicht nur konzentriert in bestimmten Regionen zur Verfügung stünden.

Keine CO2-Einsparung seit 30 Jahren

Gut, dass es jetzt immerhin einen Plan gibt, erklärt Philipp Prein, Pressesprecher der Denkfabrik Agora Verkehrswende. Für die Organisation, die sich dafür einsetzt, die CO2-Emissionen des deutschen Verkehrssektors auf null zu reduzieren, sei der Ausbau der Ladeinfrastruktur ein wichtiger Bestandteil der Mobilitätswende, aber bei weitem nicht der Flaschenhals, für den ihn viele hielten. Um die Verkehrs- und Klimaziele der Bundesregierung umzusetzen, brauche es nicht nur mehr klimagerechte Angebote, sondern auch den Abbau von überholten Auto-Privilegien und eine neue Priorisierung innerhalb des Verkehrssektors.

Bis 2030 ist die Bundesregierung gesetzlich dazu verpflichtet, den deutschen CO2-Austoßes um 65 Prozent zu reduzieren. Auch das Verkehrsministerium muss seinen Teil dazu beitragen, ist davon aber noch meilenweit entfernt, sagt zumindest der Expertenrat für Klimafragen der Bundesregierung. Der besagte Rat hat in diesem Sommer Wissings Sofortprogramm Klimaschutz scharf kritisiert. Laut der deutschen Umwelthilfe beabsichtigt das Verkehrsministerium stand jetzt nur ein Zwanzigstel dessen einzusparen, was es eigentlich einsparen müsste. Der grüne Koalitionspartner bezeichnet die Einsparungspläne aus dem Hause Wissing als „komplett unzureichend“.

Seit 30 Jahren habe es der Verkehrssektor nicht geschafft, seinen CO2-Austoß zu reduzieren, kritisiert Prein von Agora Verkehrswende. Das läge unter anderem daran, dass die Verkehrspolitik der Bundesregierung zu stark auf Autos ausgerichtet sei. Ohne Veränderungen bei der Kfz-Steuer, eine Neuordnung von Kaufprämien, einem Pkw-Mautsystem oder der Abschaffung des Dienstwagenprivilegs, schätzt er die Chancen, die Klimaziele zu erreichen, als gering ein.

Subventionsabbau oder Förderanreize? Nicht nur eine Frage der Ideologie, sondern für Prein auch eine Frage des Erreichens der Klimaziele. Der Ladebalken der Verkehrswende buffert seiner Meinung nach bei 10–15 Prozent.

Vom Plan zur Umsetzung

Nach der Bundespressekonferenz kommt die Regierungsbefragung. Wissing stellt sich kurz nach seiner Masterplan-Pressekonferenz den Fragen der Abgeordneten des Bundestages und verweist auf die Hemmnisse, die aus Sicht der Bundesregierung einer klimagerechten Mobilitätswende im Wege stehen würden. Mit "Schema-F" sei das Vorhaben einer flächendeckenden Ladeinfrastruktur und die Verkehrswende insgesamt nicht zu schaffen.

Ohne eine Beschleunigung der Planungsverfahren sei bereits jetzt absehbar, dass die Zielmarke für das Jahr 2030 verfehlt werde, so Wissing. Ein Problem, das Wissing und die gesamte Regierungskoalition nicht nur bei Ladesäulen ereilt. Gleiches gilt für den digitalen Netzausbau, die Installation von Windkraftwerken und Solarpanelen oder neue Bahnstrecken und Wasserstraßen. Überall wo es laut Koalitionsvertrag jetzt schnell gehen soll, hinkt, lahmt und schleicht die Transformation.

Mit einer Reihe an Planungsbeschleunigungsgesetzen will die Bundesregierung dem Auflagendickicht beikommen, Behörden entlasten und vor allem bauen, bauen, bauen. So sollen noch bis Jahresende Gesetze ins Parlament eingebracht werden, die unter anderem die Dauer von Planungsverfahren beim Schienenausbau halbieren sollen, erklärt der SPD-Fraktionsvize Müller. Für ihn klettert der Ladebalken der Verkehrswende bereits über eine stolze 45-Prozent-Marke.  

Wir haben schon viel ins Rollen gebracht, gerade beim Ausbau der Schiene. Die Auswirkung dieser klimafreundlichen Verkehrspolitik werden zeitlich verzögert eintreten.

Detlef Müller I SPD, stellvertretender Fraktionsvorsitzender

Die CDU/CSU-Fraktion hält die Pläne der Regierungskoalitionen für Augenwischerei und verweist darauf, dass die Ampel die Staatsausgaben für den Schienenausbau im Jahr 2023 um knapp 627 Millionen Euro kürzen will. 

Der Krieg und die Krisen

Klar ist auch: Gerade beim Schienenausbau oder auch der Ertüchtigung des Straßennetzes fehlt es der Industrie aktuell an Bauressourcen und Arbeitskräften. Weiter fordert der russische Angriffskrieg auf die Ukraine der hiesigen Wirtschaft viel ab, erklärt Müller.

Der Staatshaushalt wird gerade immer weiter aufgebläht, um Krisenherde zu löschen. Somit bleibt weniger für die Regierungsprojekte der Ampel übrig. Die beschlossenen Strom- und Gaspreisbremsen seien auch für die Verkehrswende unverzichtbar, erklärt Müller. Die ersten Güterzüge würden bereits wieder mit Diesel anstatt mit Strom fahren, weil letzter so teuer geworden sei. Das dürfe nicht passieren.

Die Handlungsspielräume großer Transformationsprozesse bei der Verkehrspolitik, so Müller, würden kleiner. Dadurch werde die Verkehrswende aber nicht minder wichtig. Prein von Agora Energiewende ergänzt: Wenn der deutsche Verkehrssektor erst einmal CO2-neutral sei, wäre auch die deutsche Wirtschaft insgesamt viel weniger anfällig für die globalen Auswirkungen von Kriegen und Energiekrisen. 

Allein die Planungsbeschleunigung wird die Mobilitäts-Pläne der Ampel und auch die Verkehrswende nicht retten. Sie ist aber ein maßgeblicher Schritt die notwendigen Transformationsprozesse von Straßen-, Schienen- und auch dem Ladesäulenbau schneller umzusetzen, als dies jahrelang der Fall war. Das Geld, das es zum Erreichen der eigenen Klimaziele bräuchte, scheint aber aktuell niemand ausgeben zu können – oder zu wollen.

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL – Das Nachrichtenradio | 19. Oktober 2022 | 18:13 Uhr

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