Arbeitskräftemangel Große Kündigungswelle vorausgesagt: Junge Generation sucht sich Jobs künftig aus

19. September 2022, 12:44 Uhr

Handwerk, Gastronomie, Pflege: In Deutschland fehlen immer mehr Arbeitskräfte. Fast zwei Millionen Stellen sind unbesetzt. Umso mehr rücken die verbliebenen jungen Leute in den Blick. Doch anders als frühere Generationen, lassen sie sich nicht mehr ausbeuten. Stattdessen stellen sie Bedingungen. Im Interview erklärt die Publizistin Steffi Burkhart, was sich an der Arbeitswelt ändern muss, damit sie für junge Leute attraktiv ist. Sie ist am Montag zu Gast bei "Fakt ist!" im MDR FERNSEHEN.

MDR SACHSEN: Frau Dr. Burkhart, zahlreiche Branchen, wie zum Beispiel Handwerk und Gastronomie, klagen über fehlende Arbeitskräfte. Woran liegt das? Ist die heutige Generation zu faul oder ist sie einfach klüger als frühere Generationen?

Dr. Steffi Burkhart: Wer aufmerksam durch die Fußgängerzone läuft, liest überall: Wir suchen Personal. Schon 1997 wurde der "War for Talents" (Krieg um Talente, Anm. d. Red.) vorhergesagt, den nun viele Branchen zu spüren bekommen. Die Lage spitzt sich bis 2030 dramatisch zu, denn bis dahin gehen die geburtenstarken Jahrgänge der Babyboomer-Generation in Rente. Zu wenige junge Nachwuchskräfte rücken nach. Wenn wir dieser demografischen Krise nicht entgegensteuern, nimmt der Personalengpass in allen Branchen deutlich zu.

Wir haben durch die Corona-Zeit eine Abwanderung von Fachkräften aus verschiedenen Branchen erlebt. Dazu zählt vor allem die Gastronomie, Hotellerie und der Pflegebereich. Die Fachkräfte nun nach Corona wieder in diese Bereiche zurückzuholen, setzt einen enormen Aufwand voraus. In der Corona-Pandemie war viel Zeit, um über die Sinnfrage nachzudenken: Warum arbeite ich? Welchen positiven Beitrag leiste ich mit meiner Arbeit?

Das hat bei vielen Menschen zum Umdenken geführt. Vor allem bei der jungen Generationen. In den USA erleben wir derzeit das Phänomen "The Great Resignation" (Die große Kündigungswelle, Anm. d. Red.). In den nächsten zwei bis drei Jahren gehe ich auch bei uns hier in Deutschland von einer großen Kündigungswelle aus. Junge Menschen arbeiten nicht nur für Geld, sondern stark geleitet durch die Frage nach dem Sinn der Arbeit, nach dem positiven Beitrag für die Gesellschaft und die Welt. Darauf müssen Organisationen Antworten definieren und kommunizieren.

Aus marktwirtschaftlicher Sicht wäre die Lösung ja recht einfach. In all den Branchen, wo niemand mehr arbeiten will, müssen die Arbeitsbedingungen und die Bezahlung sich solange verbessern, bis es wieder interessant wird. Ist das realistisch?

Eine Chance liegt sicherlich auch in der Digitalisierung und Technologisierung von Arbeitsprozessen. In der Pflege gibt es beispielsweise heute schon Roboter zur Pflegeunterstützung, die den sogenannten Serviceroboter-Technologien angehören. Diese bieten das Potenzial, Arbeitszeit und Arbeitsbedingungen zu verbessern. So kann über den Einsatz von intelligenter Technologie die nicht-pflegerische Routine-Arbeit reduziert werden, was dazu führt, dass Pflegekräfte wieder mehr Zeit für das Wesentliche haben, nämlich die Pflege von Menschen.

Ein Klempner oder ein Elektriker mit eigenem Betrieb hat heutzutage mitunter ein deutlich höheres Einkommen als ein Akademiker. Wie lässt sich die Wertschätzung für nicht-akademische Berufe steigern?

Eltern sollten aufhören ihren Kindern zu empfehlen: "Mach' Abitur, geh' studieren, dann hast Du den sicheren Job fürs Leben." Ein gut gemeinter, aber kein wirklich guter Ratschlag. Junge Menschen wechseln in ihrem Berufsleben mehrmals den Job und die Branche. Wir sprechen zunehmend eher vom Karriere-Gitter als von der Karriere-Leiter. Es ist ganz egal, ob ich mit einer Ausbildung starte oder mit einem Bachelor, ob ich den Meister mache oder den Master.

Erfolg kommt mit der Leidenschaft. Nicht jeder junge Mensch entwickelt eine Leidenschaft für reine Theorie. An dieser Stelle möchte ich auf die wirklich tolle neue Imagekampagne "Hier simmt was nicht!" vom Zentralverband des Deutschen Handwerks verweisen. Diese Kampagne, wenn wir sie gesamtgesellschaftlich in das Augenmerk der Menschen rücken, wird zu einem Umdenken und einer Aufwertung von Handwerks-Berufen führen.

Welche Rolle spielt bei der Veränderung der Arbeitswelt das Internet. Dort gibt es ja den einen oder anderen Fabrikarbeiter, der nun im schicken Anzug vor einem Porsche steht und als Online-Marketer anderen seine "Geheimnisse" verraten will. Wenn das ein Jugendlicher sieht, könnte er oder sie doch denken: Warum soll ich mich noch anstrengen? Das Geld liegt doch auf der Straße…

Viel spannender finde ich die Beobachtung, dass junge Menschen die Deutungshoheit über die wichtigste Massentechnologie unserer Zeit, nämlich das Internet, haben. Sie nutzen diese Deutungshoheit, um ad hoc und radikal Probleme zu lösen. Einerseits nutzen sie die digitale Konnektivität, um sogenannte Bottom-up-Bewegungen (Graswurzel-Bewegung, Veränderung von unten, Anm. d. Red.) aus dem Nichts heraus entstehen zu lassen und jahrhundertealte etablierte Institutionen aus dem Takt zu bringen. Beispiele sind "Fridays for Future" oder die AntiWork-Bewegung aus den USA, die zu massenhaften Kündigungen vor allem junger Menschen geführt hat.

Junge Menschen denken auch ökonomisch anders. Sie entwickeln digitale Geschäftsmodelle, um Branchen disruptiv zu beeinflussen. Beispiele sind Airbnb, Uber, Facebook und viele weitere. Durch solche Geschäftsmodelle werden Glaubenssätze unserer Eltern über Bord geworfen und sie beeinflussen die Art und Weise, wie wir zukünftig konsumieren, arbeiten und leben. Konzentrieren wir uns doch auf das Potenzial, das in jungen Menschen, in der Digital-Natives-Generation, steckt.

Könnte der Arbeitskräftemangel auch eine Chance sein, sich von Strukturen aus längst vergangenen Zeiten zu lösen?

Wir befinden uns derzeit in einer Transformationsphase von einem alten Jahrhundert in ein neues. Ein großer Treiber für Veränderung ist der Mangel an Fachkräften. Eine der knappsten Ressourcen der Zukunft ist Personal. Das setzt ein enormes Umdenken und neue Maßnahmen voraus. Raumkonzepte werden sich verändern, Arbeitszeit- und Arbeitsort werden flexibler wählbar sein, der Anspruch an gute Führung und neue Arbeitsmethoden verändern sich.

Für junge Menschen ist Zeit eine zentrale Ressource. Zeit für sich und eigene Interessen zu haben ist wichtiger, als Zeit in den Aufstieg der Karriereleiter zu investieren. Weshalb sich junge Mitarbeiter durchaus auch eine 4-Tage oder gar 3-Tage-Woche im Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Modell vorstellen können. Ich arbeite also drei Tage für meinen Arbeitgeber, darüber hinaus biete ich mich als Freelancer an, genieße die Zeit mit Freunden, Familie und im Fitness-Center.

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Fakt ist! | 19. September 2022 | 22:10 Uhr

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