Eine Zeichnung der Operation Libelle der Bundeswehr in Albanien im Jahr 1997.
Der Bundswehr-Einsatz war aufgrund der wirtschaftlichen und politischen Krise nötig, die Anfang 1997 Albanien erschütterte. Es gab bürgerkriegsähnliche Zustände. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Operation "Libelle" Wie die Bundeswehr erstmals Deutsche im Ausland evakuierte

06. Mai 2023, 05:00 Uhr

Vor 26 Jahren bestanden Bundeswehr-Soldaten eine heikle Evakuierungsoperation in Albanien. Wie dramatisch die Situation war, zeigen bislang unter Verschluss gehaltene Akten des Auswärtigen Amtes, die MDR Investigativ erstmals einsehen konnte. Die beteiligten Soldaten haben bis heute damit zu kämpfen, dass ihr Einsatz kaum anerkannt wurde.

Wir haben verstanden und machen es diesmal richtig. So könnte die Botschaft lauten, die die Bundesregierung an diesem Tag hier auf dem Fliegerhorst Wunstorf bei Hannover an die Bundeswehr senden will. Verteidigungsminister Boris Pistorius ist da und die Außenministerin Annalena Baerbock, mehrere Abgeordnete des Bundestages und die halbe Bundeswehr-Führung. Sie blicken auf das Rollfeld vor ihnen, wo gerade fünf A400M-Transportflugzeuge der Luftwaffe gelandet sind. An Bord rund 400 Soldaten und Soldatinnen der Division Schnelle Kräfte, Feldjäger und weiterer Einheiten sowie einige Bundespolizisten. Sie haben in den letzten April-Tagen mehr als 700 Zivilisten - Deutsche und Bürger anderer Nationen - aus dem Sudan ausgebrochen, wo Bürgerkrieg herrscht.

Boris Pistorius (SPD), Verteidigungsminister und Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen), Außenministerin, sprechen auf dem Fliegerhorst mit Journalisten.
Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) und Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) empfangen die Bundeswehr-Soldaten aus dem Sudan auf dem Luftwaffenstützpunkt Wunstorf. Bildrechte: picture alliance/dpa

Lob und Ehre für erfolgreiche Sudan-Operation

Die Soldaten der Evakuierungsoperation bei ihrer Rückkehr nach Deutschland zu empfangen und sich persönlich bei ihnen zu bedanken, sei "das Mindeste", was man tun könne, sagt Verteidigungsminister Boris Pistorius im Gespräch mit MDR Investigativ. Später beim Appell wird er von einer "in jeder Hinsicht erfolgreichen Operation" sprechen und ankündigen, dass alle rund 1.000 Bundeswehr-Soldaten, die an der Sudan-Operation beteiligt waren, mit einer besonderen Einsatzmedaille ausgezeichnet werden sollen.

Auch wenn Pistorius auf MDR-Nachfrage nicht von "Lehren" sprechen will, welche Bundeswehr und Politik aus dem für die damalige Bundesregierung peinlichen Empfang der letzten Bundeswehr-Soldaten des Afghanistan-Einsatzes vor zwei Jahren gezogen haben: Hier in Wunstorf bemüht man sich sichtlich, es diesmal besser zu machen bei der Würdigung von Leistungen deutscher Soldaten bei Auslandseinsätzen.

"Libelle": Erste Evakuierungsoperation der Bundeswehr

Das war nicht immer so. Vor allem bei Einsätzen, die länger zurückliegen, tut sich die Bundeswehr schwer mit der Wertschätzung ihrer Einsatzveteranen. Das trifft auch auf die Bundeswehr-Soldaten zu, die vor 26 Jahren in Albanien die erste militärische Evakuierungsmission der Bundesrepublik ausführten. MDR Investigativ hat Beteiligte und Augenzeugen interviewt, geheime Dokumente und bislang unveröffentlichte Fotos von der Operation gesichtet. Sie zeigen: Vieles damals war improvisiert, die Truppe kaum auf eine solche Mission vorbereitet. Und trotzdem: Auch dieser Einsatz, bekannt als Operation "Libelle", war in jeder Hinsicht erfolgreich. Die Bundeswehr-Soldaten brachten 102 Deutsche und Bürger anderer Länder mit Hubschraubern in Sicherheit. Und sie wehrten einen bewaffneten Angriff in Albanien ohne eigene Verluste ab. Auf Anerkennung ihrer Leistung mussten die Soldaten - anders als ihre Kameraden heute - jedoch Jahrzehnte warten.

Wir wurden bei der Rückkehr mit einer Dose warmem Bier abgespeist.

Michael Misch Soldat bei der Operation "Libelle"

Michael Misch, der als Teil der Führungsgruppe an der Operation "Libelle" beteiligt war, ist bis heute wütend über den Umgang der Bundeswehr mit den Soldaten: "Wir haben den ersten Einsatz der Bundeswehr im Gefecht seit dem Zweiten Weltkrieg gut gemeistert. Und wurden bei der Rückkehr mit einer Dose warmem Bier abgespeist", sagt Misch im Gespräch mit MDR Investigativ.

Dramatische Lage Anfang 1997 in Albanien

Nötig geworden war der Einsatz aufgrund der wirtschaftlichen und politischen Krise, die Anfang 1997 Albanien erschütterte. Durch den Zusammenbruch betrügerischer Anlagegesellschaften hatten viele Albaner ihr Vermögen verloren. Die Wut der Bevölkerung auf die Regierung unter dem damaligen Präsident Sali Berisha entlud sich in einem Aufstand, der zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen im Land führte.

Wie dramatisch die Situation war, zeigen bislang unter Verschluss gehaltene Akten des Auswärtigen Amtes, die MDR Investigativ erstmals einsehen konnte. Ab Februar 1997 berichtete die deutsche Botschaft in Tirana nach Berlin, wie sich die Lage immer mehr zuspitzte. In einem Schreiben heißt es etwa: "Unkontrollierte Gruppen bemächtigen sich der Waffenlager. Die Ordnungskräfte treten nicht in Erscheinung." Dokumentiert ist auch ein Bittgesuch von Präsident Barisha an den Westen, seiner Regierung militärisch beizustehen. Berlin sah dafür jedoch keine Grundlage. Nachdem sich die Unruhen auf die Hauptstadt Tirana ausgeweitet hatten, beschloss die Bundesregierung am 13. März 1997, die im Land verbliebenen Deutschen zu evakuieren. 

"Wer dienstfrei ist und nicht besoffen, geht in den Einsatz"

Noch am selben Abend laufen im deutschen Feldlager Rajlovac bei Sarajevo die Vorbereitungen für die Operation an. Anders als heute kommen dabei keine auf Evakuierungen spezialisierte Einheiten zum Einsatz. Das Kommando Spezialkräfte (KSK), das für solche Aufgaben vorgesehen ist, befindet sich noch in Aufbau. Mit der Rettungsmission beauftragt wird stattdessen das Bundeswehrkontingent der UN-Stabilisierungsmission SFOR in Bosnien, dem auch Michael Misch angehört: "Nachts um halb zwei hat mich ein Oberstleutnant geweckt. Er hat gesagt: 'Geh durch den Compound. Guck, wer nicht besoffen ist und dienstfrei hat. Sammle ein, was du kriegen kannst'", erzählt Misch.   

Ausstellungsstück zur Operation "Libelle" im Militärhistorischen Museum in Dresden
Taktische Skizze von der Operation "Libelle" - gezeichnet auf einem Stück Karton, heute zu sehen im Militärhistorischen Museum in Dresden Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Die knapp 90 ausgewählten Bundeswehrsoldaten - darunter Heeresflieger, Panzergrenadiere und Sanitätssoldaten - werden am nächsten Morgen im Schnelldurchgang auf den Einsatz vorbereitet; unter anderem an Waffen wie der Panzerfaust 3, die damals noch nicht zum Arsenal der Einheiten gehörten. Eine Einweisung an neuen Satellitentelefonen erfolgt in letzter Minute bei der Zwischenlandung im kroatischen Dubrovnik. Dort stößt auch der aus Deutschland eingeflogene Militärattaché für Albanien dazu, der als einziger eine einfache Stadtkarte von Tirana im Gepäck hat. 

"Eigentlich hätte alles schiefgehen müssen"

Eine zusammengewürfelte Einheit, ungewohnte Ausrüstung, kaum Kartenmaterial: Michael Misch hält es für großes Glück, dass der Einsatz nicht in einem kompletten Desaster endete: "Eigentlich hätte alles schiefgehen müssen", sagt er.  

Gefährlich wird es schon beim Anflug der sechs CH-53-Transporthubschrauber auf Tirana. US-amerikanische Einheiten, die zeitgleich einen Evakuierungsflug durchführen, melden Raketenbeschuss und brechen ihre Mission ab. Auch der Hubschrauber, in dem Misch sitzt, wird von einem Geschoss getroffen, kann aber sicher in Tirana landen.

Wir haben einfach den Kopf runtergedrückt und gehofft, dass es uns nicht trifft. Du bist hilflos in dem Moment.

Markus Kröpfl Panzergrenadier

Kurz nachdem der zweite Hubschrauber auf dem Flugfeld aufsetzt, kommt es dort zu einem Schusswechsel. Mittendrin: Obergefreiter Markus Kröpfl, Panzergrenadier, 23 Jahre alt. Er soll mit seinen Kameraden das Gelände absichern, als plötzlich zwei gepanzerte Fahrzeuge heranfahren und das Feuer eröffnen. "Wir haben einfach den Kopf runtergedrückt und gehofft, dass es uns nicht trifft. Du bist hilflos in dem Moment", erinnert sich Kröpfl im Gespräch mit MDR Investigativ. Die Angreifer in den Fahrzeugen schießen aus Luken, deren Winkel offenbar dafür sorgt, dass die Kugeln hinter den Bundeswehrsoldaten einschlagen. "Wenn dann der Feuerbefehl kommt, läuft im Kopf ein anderes Programm. Du entsicherst, du visierst, du schießt, schaust, dass keiner im Schussbereich ist, du machst dein Ding. Das ist heftig", sagt Kröpfl. 

"Libelle"-Teilnehmer Michael Misch und Markus Kröpfl
Waren bei "Libelle" dabei: Ex-Bundeswehr-Soldaten Michael Misch (links) und Markus Kröpfl. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Geheimdienst wollte offenbar Verwirrung stiften

Nach kurzem Beschuss drehen die Fahrzeuge ab. Insgesamt 188 Patronen aus Maschinengewehr, G3-Sturmgewehr und Pistole werden in diesen Minuten von sieben Bundeswehr-Soldaten verschossen, wie die Bundeswehr penibel in ihren Akten festhält. Dort ist auch nachzulesen, dass die Angreifer dem albanischen Geheimdienst angehörten und vermutlich den Auftrag hatten, auf dem Flugfeld wartende Albaner auseinanderzutreiben.

Manuela Margjini kann sich gut an diese dramatischen Szenen erinnern. Im März 1997 besucht sie gemeinsam mit ihrem albanischen Ehemann Verwandte in Albanien. Sie erlebt, wie die Lage in Tirana mit Plünderungen und Schießereien eskaliert und kann sich mit ihrem Mann in die deutsche Botschaft retten. Auf dem Flugfeld geht dann alles ganz schnell: "Wie aus dem Nichts kamen Hubschrauber angeflogen. Sie landeten, die Klappe ging auf und alle sind wie auf der Flucht in diesen Hubschrauber rein", erzählt Margjini. "Als der Hubschrauber abhob, ging die Schießerei los. Ich habe noch genau das Bild vor Augen, wie der Soldat am Fenster zurückschoss."

Manuela Margijni
Wurde damals von der Bundeswehr aus Tirana herausgeholt: Manuela Margijini. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Die Bundeswehr-Hubschrauber fliegen zunächst nach Podgorica in Montenegro. Eine Gruppe von Albanern, die sich gemeinsam mit Margjini und dem deutschen Botschafter in den ersten Hubschrauber gedrängt hat, schicken die Behörden zurück nach Albanien. Die übrigen Zivilisten werden nach Rajlovac und von dort weiter nach Deutschland gebracht.

Danach war ich froh, dass wir die Bundeswehr haben. Die Soldaten haben für mich ihr Leben riskiert. Dafür bin ich dankbar.

Manuela Margjini wurde aus Albanien gerettet

Ihre Einstellung zur Bundeswehr habe sich durch den Einsatz verändert, sagt Margjini. Davor habe sie sich gefragt, wozu es das Militär noch brauche. "Danach war ich froh, dass wir die Bundeswehr haben. Die Soldaten haben für mich ihr Leben riskiert. Dafür bin ich dankbar."

Einsatzmedaille erst 25 Jahre später - per Post

Auf ein offizielles "Danke" mussten die beteiligten Soldaten 25 Jahre warten. Erst im Sommer 2022 entschied sich die Bundeswehr, eine sogenannte Einsatzmedaillen für lange zurückliegende Evakuierungsoperationen der Bundeswehr zu stiften: die Operation "Libelle" und die Operation "Pegasus" 2011 in Libyen. Zuvor gab es solche Medaillen nur für Soldaten, die mindestens 30 Tage im Auslandseinsatz waren. Evakuierungen dauern in der Regel jedoch nur wenige Tage. Laut Bundeswehr wurden bislang 29 Medaillen für an der Operation "Libelle" beteiligte Soldaten vergeben.

Die Soldaten müssen die Einsatzmedaillen selbst beantragen und beweisen, dass sie an der Operation beteiligt waren. Die Bundeswehr verschickt die Medaillen dann per Post. Für die Einsatzveteranen Misch und Kröpfl hat eine Auszeichnung, um die man sich selbst bemühen müsse, keinen Wert. "Es geht ums Prinzip. Das muss von der Bundeswehr selbst kommen", sagt Kröpfl.

Verband kritisiert "unwürdiges Verfahren"

Bernhard Drescher vom Bund Deutscher EinsatzVeteranen e.V. spricht gegenüber MDR Investigativ von einem unwürdigen Verfahren. Es gebe überall in Deutschland Standorte mit wöchentlichem Antreten, bei denen es ein Leichtes wäre, die Medaille in anständiger Form an die Empfänger zu überreichen. Auch die Last für Soldaten, ihre Beteiligung an Auslandseinsätzen zu beweisen, sieht Drescher kritisch: "Unserer Meinung nach ist es Aufgabe des Dienstherrn, entsprechende Daten zu besorgen."

Bernhard Drescher vom Bund Deutscher Einsatzveteranen
Vorsitzender des Bundes Deutscher Einsatzveteranen: Bernhard Drescher. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Eine Recherche im Militärarchiv in Freiburg zeigt, dass dies auch bei älteren Einsätzen möglich ist. In Akten des Verteidigungsministeriums zur Operation "Libelle" findet MDR Investigativ eine Liste mit Teilnehmern: darunter Markus Kröpfl und Michael Misch. Auch der Name Lars B. steht darauf. Der ehemalige Panzergrenadier aus Regen war als Scharfschütze an der Operation beteiligt - und seine Kameraden von damals versuchen seit Jahren, Kontakt mit ihm aufzunehmen.

Tragisches Schicksal eines "Libelle"-Veteranen

Jobst Viehweger, ebenfalls vom Bund Deutscher EinsatzVeteranen, macht MDR Investigativ auf das Schicksal von Lars B. aufmerksam. Lars B. habe den Verband 2019 um Hilfe gebeten, berichtet Viehweger: "Er hat in Berlin auf der Straße gelebt. Und er hat gesagt, dass er die Bilder dieses Einsatzes noch immer im Kopf hat und unter Flashbacks leidet." Lars B. sei möglicherweise an einer Posttraumatischen Belastungsstörung erkrankt, vermutete Viehweger. Um seine Erkrankung zu diagnostizieren und zu behandeln, organisieren die Veteranen gemeinsam mit der Berliner Stattmission eine Aufnahme im Bundeswehrkrankenhaus in Berlin. Es sei Lars B. jedoch nicht möglich gewesen, seinen Hund mitzunehmen, sagt Viehweger: "Er ist dann wieder abgetaucht und wir konnten ihn nicht mehr finden."

Jobst Viehweger vom Bund Deutscher Einsatzveteranen
Jobst Viehweger vom Bund Deutscher Einsatzveteranen Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

MDR Investigativ erkundigt sich bei der Berliner Stadtmission nach Lars B. Ein Mann, der ebenfalls obdachlos ist, will bei der Suche helfen. Dann kommt aus Veteranenkreisen die Nachricht, Lars B. sei im Sommer 2020 leblos am Alexanderplatz in Berlin aufgefunden worden. Die Berliner Staatsanwaltschaft, die seinerzeit ein Todesermittlungsverfahren geführt hat, bestätigt das.

Auch Michael Misch hat sich an der Suche nach Lars B. beteiligt und Aufrufe in den Sozialen Medien geteilt. Er habe angeboten, Lars B. und seinen Hund bei sich aufzunehmen, sagt Misch. "Aber es war da schon zu spät." Nun hat Misch gemeinsam mit anderen Veteranen eine Gedenkmünze prägen lassen, um an die Operation "Libelle" zu erinnern - und an jene, die es nicht geschafft haben.

Dieses Thema im Programm: Das Erste | FAKT | 02. Mai 2023 | 21:45 Uhr

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