Corona-Newsletter | Montag, 12. September 2022 Drosten: Pandemische Gefahr, dass man stirbt, für die meisten vorbei

12. September 2022, 19:23 Uhr

Drosten, Kekulé und eine neue gefährliche Variante? Was ist dran? Und was wissen wir wirklich? Die mal wieder sehr komplexe Corona-Welt.

Ein großer Mann mit Locken und Brille steht vor einer Betonwand.
Bildrechte: MDR/Viktoria Schackow

Einen schönen guten Abend!

Unsere Überschrift heute steht ein wenig im Widerspruch zu vielen Berichten, die Sie vielleicht gestern oder am Wochenende über das Interview von Christian Drosten mit der Süddeutschen Zeitung vom Sonnabend gelesen haben.

Denn darin kommt noch ein großes Aber von Christian Drosten. Das haben viele Medien aufgegriffen: Drosten warnt nämlich im gleichen Interview vor einer großen Welle "noch vor Dezember". Nur sagt er im Interview auch genau das, was in unserer Überschrift steht. Und etwas Positives sollte man auch einmal benennen, hat mein Kollege Martin Paul heute zu mir gesagt.

Denn es ist ja tatsächlich so: Die Welt ist schwarz. Und gleichzeitig weiß. Und hat ebenso gleichzeitig unendlich viele Grautöne. Zu einem "Ja" gesellt sich gern ein "Aber" dazu. Wir Medien stürzen uns gern auf das Aber.

Heute zum Beispiel habe ich auch Meldungen über eine neue Omikron-Mutation gelesen, vor der ein österreichischer Molekularbiologe bei Twitter schreibt: "Die Zahlen sind immer noch sehr niedrig, aber die neu erworbenen Mutationen sind wirklich eine böse Kombination an kritischen Stellen."

Versuchen wir ein wenig zu sortieren.

Als Journalist kann man ganz leicht schreiben, wie uneins Politiker und Wissenschaftler sind, einen Streit herbei texten oder Forscher als Lockdown-Macher verunglimpfen.

Muss man aber nicht.


Deshalb möchte ich heute versuchen, Ihnen zu schreiben, wo die drei Wissenschaftler eigentlich übereinstimmen. Und auch, ob meine drei Corona-Vorhersagen vom Freitag noch zutreffen.

Wie groß ist die Corona-Gefahr noch?

Nach meinem Eindruck sind sich viele Experten einig: Eine Corona-Erkrankung hat für den Einzelnen ihren Schrecken verloren.

Christian Drosten in der Süddeutschen Zeitung:

Die Infektionssterblichkeit, die in Deutschland mal bei 1,5 Prozent lag, ist durch Impfungen und überstandene Infektionen wahrscheinlich um den Faktor 20 bis 30 gesenkt. Aus Sicht des Individuums ist die pandemische Gefahr – also dass ich als Mensch daran sterbe – somit für die meisten vorbei.

Christian Drosten

Aber:

Der Mensch existiert nicht allein auf der Welt, er ist ein soziales und politisches Wesen. Deswegen sagt zum Beispiel Alexander Kekulé in seinem Podcast bei MDR AKTUELL:

Es gibt immer einen Unterschied zwischen der individuellen Risikoabwägung und der aus gesellschaftlicher Sicht.

Alexander Kekulé

Und das sagt auch Drosten. Er bringt den Begriff Bevölkerungsmedizin ins Spiel. Man müsse bevölkerungsmedizinisch denken. Und da sei die Pandemie erst vorbei, wenn keine neuen Wellen mehr entstehen, die gesellschaftliche Probleme bereiten.

✔️ Übereinstimmung: Drosten und Kekulé sind sich einig.


Und gesellschaftliche Probleme sieht Drosten sehr wohl. Denn wer sich infiziert, wird krank. Es sei nicht so wie mit vielen Erkältungsviren, mit denen man sich noch zur Arbeit schleppen würde. Drosten warnt deshalb nicht vor der Krankheit an sich, sondern davor, dass es viele auf einmal erwischt.

Infizierte kommen vielleicht nicht ins Krankenhaus, aber sehr viele sind eine Woche krank. Wenn es zu viele auf einmal sind, wird es zum Problem. Die Abwesenheit von der Arbeit wird zum Problem.

Christian Drosten

Sie alle haben schon vom Fachkräftemangel gehört oder erleben ihn selbst. Wenn dann noch ein Teil der Belegschaft eine Woche lang krank im Bett liegt, kann es für ein Unternehmen schwierig werden. Aber auch für uns als Gesellschaft, wenn es Polizisten, Krankenhauspersonal, Supermarkt-Beschäftigten, Lehrkräfte oder Feuerwehrleute erwischt.

Dass wir als Gesellschaft und politische Entscheidungsträger diesen Gedanken auf dem Schirm haben, ist sicher nicht verkehrt.

Podcast: Kekulés Gesundheits-Kompass

Neu ab 2024 Teaserbild Kekulés Gesundheits-Kompass
Bildrechte: MDR/Stephan Flad
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MDR AKTUELL - Das Nachrichtenradio Cannabis-Gesetz geht zu weit

Cannabis-Gesetz geht zu weit

Die bisherige Drogenpolitik sei gescheitert, sagt Gesundheitsminister Karl Lauterbach. Da stimmt ihm Prof. Alexander Kekulé zu. Das Gesetz zur Cannabis-Legalisierung hält er dennoch für falsch.

MDR AKTUELL Do 28.03.2024 08:00Uhr 60:49 min

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Was heißt das nun für den Herbst?

Christian Drosten erwartet, dass es "noch vor Dezember eine starke Inzidenzwelle geben wird". Alexander Kekulé wirkt optimistischer, legt sich aber nicht fest.

❔ Eine Übereinstimmung lässt sich nicht bewerten.

Was heißt all das für den Alltag? Masken!

In geschlossenen Räumen bei dem hohen Infektionsdruck, der im Herbst wahrscheinlich ist, sollten wir Rücksicht auf diejenigen nehmen, die ein besonderes Risiko hat. Das heißt im öffentlichen Verkehr, egal ob Nah- oder Fernverkehr oder Flugzeug, definitiv Maske auf!

Alexander Kekulé

Das hat Kekulé am Donnerstag in seinem Podcast bei MDR AKTUELL gesagt.

Und Drosten sagt im Interview mit der Süddeutschen Zeitung:

Das Maskentragen in Innenräumen wird sicherlich wieder notwendig werden. Viele Menschen ohne Masken in schlecht durchlüfteten Räumen werden Infektionen befördern. Wenn in einer Bäckerei eine ältere Dame mit Maske steht, setze ich mir sofort eine auf.

Christian Drosten


✔️ Übereinstimmung: Drosten und Kekulé sind sich einig.


Welche Übereinstimmungen es noch gibt: nach dem aktuellen (und wie immer montags eher unbefriedigenden, weil nicht vollständigen) Zahlenblock.

Auf einen Blick: die aktuellen Zahlen

Das Robert Koch-Institut meldete am Montag, den 12. September 2022, eine bundesweite 7-Tage-Inzidenz von 216,2. Die höchsten Inzidenzwerte haben demnach Mecklenburg-Vorpommern (286,8), Niedersachsen (283,9) und Bremen (281,6).

Thüringen hat laut RKI mit 198,0 die drittniedrigste 7-Tage-Inzidenz in Deutschland. In Sachsen beträgt der Wert 206,2, in Sachsen-Anhalt 206,4. 

Sachsen

  • Hospitalisierungsrate*: 2,56 (+0,17 im Vergleich zur Vorwoche)
  • COVID-19-Intensivpatienten: 49 (-3 zum vergangenen Freitag), davon 13 beatmet, 79 freie COVID-19-Intensivbetten
  • Impfquote: 64,7 Prozent (vollständig geimpft)
  • 12-17 Jahre: 44,9 Prozent
  • 18-59 Jahre: 66,6 Prozent
  • 60+ Jahre: 84,3 Prozent
  • Erste Auffrischungsimpfung: 49,9 Prozent
  • Todesfälle im Zusammenhang mit COVID-19: 15.948 (+7 zu Freitag)

Thüringen

  • Hospitalisierungsrate*: 4,29 (-0,99 im Vergleich zur Vorwoche)
  • COVID-19-Intensivpatienten: 22 (-4 zum vergangenen Freitag), davon 6 beatmet, 52 freie COVID-19-Intensivbetten
  • Impfquote: 69,8 Prozent (vollständig geimpft)
  • 12-17 Jahre: 52,7 Prozent
  • 18-59 Jahre: 71,6 Prozent
  • 60+ Jahre: 88,3 Prozent
  • Erste Auffrischungsimpfung: 53,5 Prozent
  • Todesfälle im Zusammenhang mit COVID-19: 7.587 (+1 zu Freitag)

Sachsen-Anhalt

  • Hospitalisierungsrate*: 3,85 (-0,5 im Vergleich zur Vorwoche)
  • COVID-19-Intensivpatienten: 22 (-2 zum vergangenen Freitag), davon 10 beatmet, 46 freie COVID-19-Intensivbetten
  • Impfquote: 73,6 Prozent (vollständig geimpft)
  • 12-17 Jahre: 53,9 Prozent
  • 18-59 Jahre: 76,7 Prozent
  • 60+ Jahre: 91,3 Prozent
  • Erste Auffrischungsimpfung: 57,5 Prozent
  • Todesfälle im Zusammenhang mit COVID-19: 5.681 (+4 zu Freitag)

* Die Hospitalisierungsrate beschreibt die 7-Tage-Inzidenz der hospitalisierten COVID-19-Fälle. Durch Übermittlungsverzug wird die Rate in gewissem Maß unterschätzt, schreibt das RKI. Ein deutschlandweit gültiger Grenzwert dafür, welche Maßnahmen eine bestimmte Hospitalisierungsrate nach sich ziehen, wurde nicht festgelegt. Warum die Hospitalisierungsrate in der jetzigen Form als neue Corona-Kennzahl untauglich ist, erklärt MDR-Datenjournalist Manuel Mohr in diesem Artikel.

(Quellen: Hospitalisierungsrate, aktive Fälle: RKI | Intensivpatienten: Divi | Impfquote: RKI | Todesfälle: RKI)

Alle Grafiken und weiteren Zahlen finden Sie hier in den Übersichten der Kolleginnen und Kollegen.

Und was ist mit einer "Killervariante"?

Kekulé hält sie für extrem unwahrscheinlich, sagt aber, wir müssten darauf vorbereitet sein. Er lobt ein Programm britischer Wissenschaftler, die solche Varianten frühzeitig erkennen können.

Der österreichische Molekularbiologe Ulrich Elling kommt heute mit seiner Twitter-Nachricht vom Freitag in vielen Meldungen vor: Die Omikron-Unterlinie BJ.1 breite sich in Indien, USA und Österreich aus, sei besorgniserregend.

"Die Zahlen sind immer noch sehr niedrig, aber die neu erworbenen Mutationen sind wirklich eine böse Kombination an kritischen Stellen."

Was viele Medien nicht schreiben – der Molekularbiologe aber sehr wohl – diese Unterlinie von Omikron ist bereits vor einem Monat entdeckt worden. Und Elling selbst sagte der Wiener Zeitung heute, erhalte das Risiko derzeit für gering, dass im Herbst wieder deutlich stärker Varianten auftreten.


✔️ Übereinstimmung

Insgesamt sieht der österreichische Genetiker das Risiko auf einen Herbst, der wieder deutlich stärker durch Varianten geprägt ist, die auch zu mehr schweren Verläufen in der nun schon zum allergrößten Teil durch Impfung oder Infektion auf das Virus vorbereiteten Bevölkerung führen, als derzeit gering an.

✔️✔️✔️❔

Drei grüne Haken und ein unentschiedenes Fragezeichen. Zumindest für meine Alltagsentscheidungen sehe ich da keinen grundsätzlichen Streit unter den Experten.

Der Check meiner Vorhersagen von Freitag

Eine Frau entfernt ihre Gesichtsmaske während eines Regenschauers in Sydney.
Bildrechte: IMAGO / Xinhua

Die Corona-Vorhersagen aus meiner E-Mail an Sie am Freitag waren ja:

 Wir werden auch in diesem Herbst wieder den Kopf schütteln über die Chefs und Chefinnen der deutschen Bundesländer. 

 Wir nehmen Infektionen, schwere Verläufe und auch Tote in Kauf und wollen keine drastischen Gegenmaßnahmen. 

 Auch mit den besten wissenschaftlichen Ferngläsern können wir nicht in die Zukunft blicken. Deshalb wie schon immer: Auf das Schlimmste vorbereitet sein und für das Beste arbeiten.

Die erste bezog sich auf die Corona-Regeln im Nahverkehr, die jedes Bundesland (wie andere Regeln auch) selbst festlegen und die zu einem Regel-Flickenteppich werden kann, weil jeder Landesregierung an eigenen Regeln feilt.

Die Gesundheitsminister und -ministerinnen der Länder haben aber heute bereits gesagt, dass es bei der Maskenpflicht auch im Nahverkehr bleiben wird.

Das kommt doch noch einigermaßen hin, finde ich. Oder was meinen Sie? corona-newsletter@mdr.de

Was heute außerdem los war

Die ultimative Vorhersage: Niemand kann in die Zukunft blicken

An einer Stelle im Interview der Süddeutschen Zeitung mit Christian Drosten musste ich etwas kichern. Diese hier:

"Man kann politische Entscheidungen in der Pandemie nicht auf der Basis von Evidenz herbeiführen. Man braucht eine Mischung aus Erfahrung und Extrapolation. Die Evidenz von heute, die hat man eben leider nicht, die entsteht ja gerade erst."

Was der Virologe da kompliziert sagt, ist ganz einfach: Es gibt keine Gewissheit.

Wenn wir in die Vergangenheit blicken, erscheinen uns Entwicklungen oft als unvermeidlich an. Nur: Das waren sie in der Verangenheit natürlich nicht, weil wir immer eine Wahl haben.

Die Zukunft ist offen, der Weg dorthin nicht vorgezeichnet. Für den Weg entscheiden wir uns jeden Tag aufs Neue.

Alles Gute

Marcel Roth

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 09. Mai 2022 | 11:00 Uhr

6 Kommentare

StanislavLem am 13.09.2022

Es wird Zeit, dass die Extremisten in der ganzen Debatte um Corona,
- sowohl die Panikmacher vor dem Virus,
- als auch die Panikmacher vor den Impfstoffen,
… (in der großen Hoffnung, dass keiner von beiden Recht haben möge ) …
Ihre Positionen aufgeben.

Es schadet uns als Gesellschaft und Demokratie extrem.

Denkschnecke am 13.09.2022

Vielen Dank für den klaren Artikel. Vor allem dafür, dass jetzt die Gefahr für den Einzelnen und für die Gesellschaft und ihre Infrastruktur auseinanderzuhalten ist. Was nicht geht: Über den Fachkräftemangel jammern und gleichzeitig COVID für beendet zu erklären.

Denkschnecke am 13.09.2022

Haben Sie den Artikel gelesen? Prof. Drosten macht nichts anderes als seinen Job. Das sollten andere auch mal tun,