Autobiografie In Maßen selbstkritisch – Angela Merkels Erinnerungen
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26. November 2024, 04:00 Uhr
"Freiheit" steht auf dem Einband von Angela Merkels Autobiografie. Als das wichtigste Buch des Jahres hatte der Verlag ihre "Erinnerungen 1954-2021" angekündigt. Darunter ging es nicht. Entsprechend streng waren die Geheimhaltungs-Pflichten für die wenigen, die es vorab lesen durften. Da dürfte es kaum auffallen, dass zeitgleich auch Klaus-Rüdiger Mais kritisches Buch "Angela Merkel. Zwischen Legende und Wirklichkeit" erscheint. Nach mehreren Bücher über sie will sich Angela Merkel offenbar ihre Deutungshoheit sichern.
- In ihrer lang erwarteten Autobiografie "Freiheit" erklärt und reflektiert Merkel ihre Politik mit einem Hauch von Selbstkritik.
- Dabei betont sie ihre ostdeutsche Identität stärker als während ihrer Karriere – als sie sich gegen viele Westdeutsche (insbesondere Männer) durchsetzen musste.
- Neue Einblicke liefert das Buch auch in die Rolle von Beate Baumann, Merkels ehemaliger Büroleiterin und Ko-Autorin der Autobiografie.
Die Welt erschüttern, so viel vorab, wird das 736 Seiten starke Werk, das die Bundeskanzlerin a.D. gemeinsam mit ihrer ehemaligen Büroleiterin Beate Baumann verfasst hat, nicht. Spektakulär Neues ist kaum zu erfahren, dennoch runden viele persönliche Details das Bild von der Politikerin ab, die gerne von sich sagte: "Sie kennen mich" – und damit letztlich gut verschleierte, dass man genau das eben eigentlich nicht tat.
Merkel steht in Memoiren zu ihrer Politik
Es ist ein Buch ganz im Stile der Kanzlerin Merkel, ein Buch, in dem sie ihre Politik erklärt, mit dem sie ihre Haltung zu den großen Themen ihrer 16-jährigen Kanzlerschaft verteidigt und in ihre Biografie einbettet. "Ich wollte die weitere Schilderung und Interpretation nicht allein anderen überlassen", schreibt sie im Vorwort.
Dabei ist Merkel – in Maßen – selbstkritisch. Man spürt förmlich, wie sie in manchen Fragen, zum Beispiel der viel kritisierten Entscheidung aus dem Jahr 2015, die Grenzen für Flüchtlinge nicht zu schließen, immer aufs Neue nachdenkt, was ihre Optionen waren und ob ihre Entscheidungen richtig waren. Meistens kommt sie zu dem Schluss, dass sie es waren. Und dennoch, vielleicht ja auch gerade deshalb, wirkt ihr Buch so ehrlich. Merkel-Sätze wie "So denke ich" wirken – auch angesichts relativ schnell wechselnder Haltungen bei manchen ihrer Politiker-Kollegen – absolut glaubhaft.
Ich wollte die weitere Schilderung und Interpretation nicht allein anderen überlassen.
Angela Merkel trotzt Putin und Trump
Eine Qualität des Buches ist es auch, dass Merkel immer diplomatisch bleibt. Bei den Erinnerungen an weltpolitische Krisen ebenso wie in "Kleinigkeiten", zum Beispiel den Begegnungen mit Wladimir Putin. Der sie – wissend, dass sie Angst vor Hunden hat – mit seinem schwarzen Labrador Koni provozierte. Oder an die legendäre Szene, in der Donald Trump ihr vor der Weltöffentlichkeit den Handschlag verweigerte. Trotz dieser Macht-Spielchen der Männer tritt Merkel nicht nach. Dezent und höflich lässt sie spüren, was sie davon hält. Sie hält sich, schreibt sie, "wie oft in meinem Leben an die englische Adelsregel 'never explain, never complain': niemals erklären, niemals klagen."
So hat sie die so genannte Elefantenrunde ertragen, in der Gerhard Schröder 2005 die Contenance verlor. So hat sie die im Hintergrund gegen sie intrigierenden Männer des CDU-"Andenpaktes" aus ihrem politischen Weg "geräumt". So hat sie die vielen skeptischen Abgeordneten des Karlsruher CDU-Parteitages 2015 dazu gebracht, mit nahezu 100 Prozent für ihre Flüchtlingspolitik zu stimmen. Ohne Kraftmeiereien, wie sie bei den Herren in der Politik gang und gäbe sind, sondern geduldig argumentierend und geschickt Strippen ziehend.
Aus ihrer Feder zu lesen, wie sie beim "Frühstück von Wolfratshausen" im Jahr 2002 Edmund Stoiber die Kanzlerkandidatur überließ und gleichzeitig Friedrich Merz vom Fraktionsvorsitz im Bundestag verdrängte (was ihr später den Weg zur Kanzlerschaft freimachte), ist – auch wenn man es bereits wusste – eine bereichernde Lektüre. Ebenso ruhig wie deutlich steht sie zu ihren Entscheidungen in der Russland- und Ukraine-Politik und widerspricht vehement denen, die sagen, sie habe damit den heutigen Krieg zumindest nicht verhindert und vielleicht sogar befördert. Besonnenheit, die gut tut, angesichts der gegenwärtigen Krisen und mancher politischer Reaktionen darauf.
Die Lektüre des Buches ist spannend, vielleicht ja auch, weil Merkel und ihre Ko-Autorin Beate Baumann einen einfachen, klaren Stil pflegen. Sie schlagen keine Metaphern-Purzelbäume, ihre Pointen und Wertungen sind dezent und stecken oft zwischen den Zeilen. Zum Beispiel, wenn Merkel schreibt, wie groß die Herausforderung an das Stabsmusikkorps der Bundeswehr war, als sie sich zum Großen Zapfenstreich anlässlich Ihres Abschieds Nina Hagens "Du hast den Farbfilm vergessen" wünschte. Man kann zumindest erahnen, was Insider wissen: Diese Frau kann verschmitzt und humorvoll und schlagfertig sein, all das, was sie sich im Amt weitgehend verboten hat.
Neu: Merkel macht ihre ostdeutsche Identität stark
Dass Merkel ihre Ost-Identität in den Vordergrund stellt – die ersten 35 Jahre ihres Lebens, wie sie schreibt – ist eine relativ neue Facette ihrer Selbstdarstellung. Als Kanzlerin war sie nicht dafür bekannt, diese Herkunft zu betonen. Lieber setzte sie beispielsweise auf die "Frauen-Karte", vernetzte sich mit den einflussreichen Frauen im Westen, Liz Mohn von der Bertelsmann-Stiftung zum Beispiel, oder Verlegerin Friede Springer. Merkel wusste, dass sie den Westen erobern musste, und dass sie gegen die "Hausmacht" der großen CDU-Verbände von NRW oder Hessen – Männer, die sich selbst als Kohls Erben verstanden, wie Roland Koch oder Christian Wulff – nicht mit ihrer ostdeutschen Herkunft ankommen würde.
Ihr Blick auf die ersten 35 Jahre ihres Lebens, dem Leben vor der 1990 errungenen "Freiheit", ist ein Blick ohne Wut, wohl aber einer mit deutlichen Urteilen über die DDR. Merkel erzählt ein paar Anekdoten, die sich als zumindest kleine Aufmüpfigkeiten deuten ließen, den Rauswurf aus einer "Marxismus-Leninismus"-Vorlesung etwa (der ihr zugleich bis heute peinlich ist). Sie verschweigt aber auch nicht ihre FDJ-Arbeit.
Merkel bleibt unprätentiös, Aufschneiden ist ihr fremd, ihr Understatement angenehm und raffiniert zugleich. Etwa wenn sie beschreibt, was ihr am 10. November 1989, dem Tag nach der Maueröffnung, durch den Kopf ging, als sie früh um 6:30 Uhr das Haus verließ, um wie immer mit der S-Bahn zur Arbeit nach Adlershof zu fahren: dass sie abends zwar kurz in Westberlin war, aber – weit entfernt von Euphorie – früh nach Hause zurückkehrte, weil sie früh aufstehen und an einem Vortrag arbeiten musste. Wenn die Freiheit auf Pflichtbewusstsein trifft …
Letztlich sind auch die Kapitel über Herkunft und DDR ein gut ausbalancierter Einblick in Prägungen, die im Westen Deutschlands – mehr noch aber sicher in den USA, wo das Buch zeitgleich erscheint – immer noch mit Halbwissen und klischeebeladen betrachtet und in ihrer Wirkung unterschätzt werden.
Ein Buch auch über Büroleiterin Beate Baumann
Etwas ist dann aber doch ganz neu an diesem Buch: die Rolle von Beate Baumann, der Frau, die seit 1992 an Merkels Seite arbeitet, erst in Bonn, später im Kanzleramt, heute als Ko-Autorin. Obwohl man schon lange wusste, dass beispielsweise ein persönlicher Zugang zur Kanzlerin im Grunde fast nur über Beate Baumann möglich war, präzisiert das Buch Baumanns Rolle. Die neun Jahre jüngere Frau aus dem Osnabrücker Land ist Merkels Eckermann und wirkt manchmal sogar ein bisschen wie eine "Schatten-Kanzlerin".
Beate Baumann hörte mir aufmerksam zu. Dann sagte sie: genau das können Sie doch so, wie Sie es mir jetzt gesagt haben, auch in der Pressekonferenz sagen.
Das ist eine der Nachrichten des Buches, dass viele Entscheidungen von Beate Baumann, einer öffentlich nicht in Erscheinung tretenden Frau, die direkt nach dem Abschluss ihres Lehrerstudiums mehr als 30 Jahre ihres Lebens Angela Merkel untergeordnet hat, zumindest beeinflusst wurden. Zum Beispiel das berühmte "Wir schaffen das" aus der Sommerpressekonferenz 2015, über dessen Entstehung es im Buch heißt: "Beate Baumann hörte mir aufmerksam zu. Dann sagte sie: genau das können Sie doch genau so, wie Sie es mir jetzt gesagt haben, auch in der Pressekonferenz sagen." Was prompt geschah und Geschichte schrieb.
Mit "Freiheit" liegt nach der geradezu vorbildhaft objektiven, gründlichen Biographie von Ralph Bollmann, "Angela Merkel. Die Kanzlerin und ihre Zeit", ein weiteres Buch vor, das als Grundlage für die Betrachtung der Ära Merkel dienen kann. Man wird es genießen oder sich darüber empören können. Polemik wird nicht ausbleiben, berechtigte ebenso wie über das Ziel hinausschießende. Die Deutungshoheit über die Kanzlerin Merkel und die nach ihr benannte Ära werden – mittelfristig – Historiker übernehmen. Was "Freiheit" alle Male ist: ein wichtiges, ein gut lesbares und – ja – ein sympathisches Buch.
Mehr Informationen zum Buch
Angela Merkel: "Freiheit"
Kiepenheuer & Witsch
736 Seiten für 42 Euro
Gebundene Ausgabe
ISBN: 978-3-462-00513-4
Außerdem erschienen:
Klaus-Rüdiger Mai: "Angela Merkel. Zwischen Legende und Wirklichkeit. Eine kritische Biografie"
Europa Verlag
414 Seiten für 26 Euro
Gebundene Ausgabe
ISBN: 978-3-95890-637-2
Redaktionelle Bearbeitung: lm, tmk
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 26. November 2024 | 08:10 Uhr