Giftmüll Erbe der Chemie-Industrie: Wenn eine Pfütze lebensbedrohlich ist
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Manchmal steigen giftige Gase aus dem Boden. Menschen baden in saurem Wasser. Seen und Böden sind vergiftet. Verseucht durch Millionen Tonnen Giftmüll aus der Chemie-Industrie – aus über 100 Jahren. Diese werden die Umwelt in vielen Regionen Deutschlands noch für Jahrhunderte gefährden.

Unter dem Boden von Bitterfeld liegen bis in 60 Metern Tiefe die hochgiftigen Hinterlassenschaften der Chemie-Industrie der DDR. Es lagern Fässer mit Teer, Farben, Phosphor- oder Chlorabfälle ohne Abdichtung in der Erde – bedeckt von Rasen. Auf der Deponie "Freiheit 3" wächst auf knapp 100 Hektar Gras über sechs Millionen Tonnen Chemieabfall. Genauso wie bei den anderen Tagebau-Restlöchern spült das Grundwasser seit Jahrzehnten die Chemieabfälle in Richtung der Mulde, die dann in die Elbe fließt.
"Das sind keine politischen Altlasten hier. Sondern es sind industrielle Altlasten aus 140 Jahren Industriegeschichte", sagt Holger Weiß. Er forschte als Altlasten-Experte sein halbes Berufsleben in Bitterfeld und sieht die Altlasten dort nicht als Erbe sozialistischer Misswirtschaft. "Das auf den Sozialismus einzudampfen, wird der Sache nicht gerecht." Als gebürtiger Westfale kennt Holger Weiß auch die Lage in den alten Bundesländern gut. Es gäbe an allen großen Chemie-Standorten in Deutschland und Europa ähnliche Probleme wie in Bitterfeld.
Rheinland: Der mit Quecksilber belastete Rekord-Wels
Im Rheinland steht ein ganz ähnliches Werk wie in Bitterfeld. In Knapsack – südlich von Köln – steht heute ein Chemiepark. Früher waren es die Farbwerke Hoechst, und die sind ebenso wie die Werke in Bitterfeld zur Kaiserzeit entstanden, haben ähnliche Produkte und stehen ebenfalls nah an einem Kohlerevier.
Nah am Werk bei Köln gibt es die Ville-Seen. Früher wurde dort gern geangelt. "Der war besonders groß: 2,20 Meter und 190 Pfund", berichtet Manfred Kranz über einen gefangenen Wels aus dem See, den sein Vater gepachtet hatte. Nur wenige Tage nach dem Fang des damals deutschen Rekordes geschah ein Unfall.
Am 7. Mai 2008 brach in einer nicht weit entfernten Verbrennungsanlage ein Feuer aus. "Die Feuerwehr musste natürlich löschen. Und einen Tag später sind riesige Mengen Löschwasser durch den Zulauf vom Knapsacker See in den Röddersee geflossen", berichtet Kranz.
Bei späteren Wasserproben wurde entdeckt: Der See war verseucht mit Chemie. Aber nicht nur vom Löschwasser, wie man zunächst dachte. Aus Mülldeponien am Ufer sickerten offenbar seit langem Quecksilber und PFT ein. Quecksilber wirkt als Nervengift. PFT – Perfluorierte Tenside – sind in der Natur nicht abbaubar, dadurch extrem langlebig und reichern sich im Gewebe an. Sie sind giftig für Mensch und Tier.
Seitdem darf man in dem See nicht mehr Angeln. Der Wels hatte offenbar Jahre in dem verseuchten Wasser gelebt. "Es hat damals geheißen, dass die Angler, die den gefangen haben, viel von dem Fisch verzehrt haben und das scheint ihnen wohl nicht gut bekommen zu sein", sagt Kranz. In den Fischen und im Blut der Angler wurde PFT entdeckt, teils hoch konzentriert.
Giftstoffe: Hochwasser als große Gefahr
Eine andere Katastrophe kam im Juli 2021mit der Flut ins Ahrtal. Damals lief ein Klärwerk des Chemieparks über – in dem landen ganz legal hochbelastete Abwässer. Beim Hochwasser lief das Klärwerk über und das Abwasser mit Cyanid, Nickel, Phosphor und Fluorid strömte durch Alt-Hürth und Hermülheim. Der Katastrophenschutz warnte vor dem Kontakt und vor Hautreizungen durch Schadstoffe. Der Chemiepark schweigt über die möglicherweise freigesetzten Stoffe und lehnt jede Kooperation mit dem ARD-Magazin "FAKT" ab.
Mit Hochwasser hat auch Bitterfeld Erfahrung. Die Mulde-Flut 2002 änderte alles. Die Pegel um den Chemiepark stiegen kräftig und dauerhaft. Das gestiegene Grundwasser spülte damals noch mehr Schadstoffe aus dem Boden. Ein Problem, das bis heute besteht: An den Abfallgruben nimmt das Wasser die Giftstoffe auf und würde sie ohne Schutzmaßnahmen verteilen und so Wohngebiete sowie Flussauen vergiften. Dies sollen Pumpen – aufgereiht als Kette – verhindern.
Durch den sogenannten Abstromriegel wird das belastete Wasser nach oben zum Reinigen gepumpt. Dann geht es erst zum Vorreinigen in ein Spezialklärwerk, anschließend ins Klärwerk des Chemieparks. Es sind jährlich 2,5 Millionen Kubikmeter. Es kostet jährlich zehn Millionen Euro. Das bezahlen Bund und Land, erfährt "FAKT".
Giftmüll wurde auch im Rheinland wild verkippt
Gibt es auch verseuchtes Grundwasser in Hürth? In der Großgemeinde des Rhein-Erft-Kreises leben Zehntausende Menschen. Im Großtagebau neben dem Chemiepark – in der Sonderabfalldeponie Knapsack – lagern schon aus den sechziger Jahren rund 20 Millionen Tonnen Chemiemüll. Es ist die alte Werkskippe der Farbwerke Hoechst. Der neue Giftmüll kommt obendrauf. Dafür hat eine Firma den Standort für viel Geld mit einer Art Dichtwand rundherum sichern lassen. Es sei wie ein guter Topf aus Ton. "Weil eben dieser Ton eine große Mächtigkeit hat und dicht ist gegen mögliche Schadstoffe", sagt der Chef der Firma Ralf Grau.
Brunnen ziehen rund um die Uhr das belastete Sickerwasser nach unten ab und leiten es zum Reinigen ins Klärwerk des Chemieparks. In die Sonderabfall-Deponie bringen LKW das Giftigste vom Gftigen: Arsen, Asbest, Schwermetalle.
Doch lagern dort wirklich alle Giftabfälle aus 115 Jahren Chemie? "FAKT" fragt den zuständigen Landkreis, der ein Register über diese sogenannten Altlasten führt. Dieser warnt: Diese Auskunft koste bis zu 500 Euro und dauere acht Wochen. Wir lassen uns nicht abschrecken und fordern sie trotzdem an. Was dann kommt, ist brisant. Auf dem Chemiepark-Gelände und ringsherum wurden auf rund 560 Hektar Industrieabfälle wild verkippt – ohne Dokumentation, fast alle in ungesicherten Gruben. Wie gefährlich die sind, will die Behörde nicht sagen. Diese Gutachten seien urheberrechtlich geschützt.
Das ARD-Magazin fordert vom Landkreis die zurückgehaltenen Gutachten zu den Altlasten ein und bereitet mit einem Anwalt die Klage auf Herausgabe vor. Plötzlich geht es, wir bekommen die brisanten Unterlagen. Diese protokollieren die Gefahr: Im Untergrund eines Sportplatzes stinkende Klumpen Kohlenwasserstoffe, bis 45.000 Milligramm je Kilo. Das ist hundertfach über dem Grenzwert. Manche Böden dünsten Phosphorwasserstoff aus, das giftige Gas kann in Gebäude eindringen. Aus rostigen Fässern könne Salzsäure entweichen und Säurenebel bilden mit starker Belästigung der Umgebung. An anderen Stellen mussten Bohrtrupps bei der Probenahme Vollschutz anlegen wegen gefährlicher Cyanidbelastung.
Gutachten: Pfützen sind lebensdrohlich
Dort ebenfalls dokumentiert: Auf einem früheren RWE-Gelände hat eine unbekannte Firma sechs Millionen Tonnen Giftabfall verkippt. Der liegt einen Meter unter einem Acker – hochbelastet mit Cyanid. "Cyanid ist wirklich ein hochtoxischer Stoff, das kennt man aus der Gewässerkunde", sagt Jutta Schnütgen-Weber. Die Biologin engagiert sich in der Gegend für die Umwelt.
Cyanide sind Salze der Blausäure, dazu zählt auch Zyankali. Schon winzige Mengen verursachen irreversible Nervenschäden, Atemlähmung und Tod. Das Cyanid sickerte von hier in Grundwasser und Bäche – pro Jahr 1.195 Kilogramm. Kleingewässer wie Pfützen seien lebensbedrohlich, schrieben die Gutachter im Jahr 2005. Selbst in den Zuckerrüben vom Feld fand man Cyanid.
Der Landkreis habe anschließend das belastete Oberflächen-Wasser gesammelt und beseitigt, erklärt der zuständige Umweltdezernent Uwe Zaar. Zudem sei ein Gräben- und Drainage-System angelegt worden, der das abfließende Wasser reinigt. Diese Prozesse würden durch RWE gemonitored. Die aktuellen Daten erhält "FAKT" nach Abfrage vom Bergbauunternehmen nicht. "Die Geheimniskrämerei hat hier System", sagt Aktivistin Jutta Schnütgen-Weber.
Also eigentlich müsste es hier auf den Flächen kontinuierlich jedes Jahr Proben geben, in denen man untersucht, ob es für die Bevölkerung unbedenklich ist. Ansonsten müsste man die Nutzung aufgeben.
Und in Bitterfeld – warum wurden dort inzwischen die Giftstoffe nicht längst ausgegraben? "Ich müsste ja hier mindestens einen Quadratkilometer wegbaggern – bis in 60 Meter Tiefe", sagt Fred Walkow, der nach der Wende Umweltdezernent im Landkreis Bitterfeld war. Zudem sei die Frage, wohin dann das Material gebracht werden könne.
So könnte mit dem Gras auch das Vergessen wachsen: Doch in den vergangenen Jahrzehnten habe man in West- und Ostdeutschland viel über den Umgang mit solchen Altlasten gelernt, sagt der Altlasten-Experte Holger Weiß. "Wir haben auch gelernt, das ist ein sehr langfristiges Problem, welches uns noch Jahrhunderte beschäftigen wird." Erst dann habe man wohl die Grundwasser-Verunreinigung so im Griff, dass man nicht mehr eingreifen müsse.
Quelle: MDR Investigativ/ mpö
Dieses Thema im Programm: MDR+ | FAKT | 22. März 2022 | 21:45 Uhr