Corona-Pandemie Post-Vac-Syndrom: Warum Betroffene von Lauterbach enttäuscht sind

30. März 2023, 05:00 Uhr

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach hat den Opfern von Corona-Impfschäden schnellere Hilfe versprochen, nachdem er die Probleme aus Sicht der Betroffenen lange ignorierte. Dennoch sind viele Kranke von den Äußerungen des Mediziners empört. Wie geht es nun also weiter?

Viele Kranke sind gerade über Karl Lauterbach empört. Mitte März vollzog der Bundesgesundheitsminister in einem ZDF-Interview eine 180-Grad-Wende. Aus Sicht der Betroffenen räumte der SPD-Politiker viel zu spät ein, dass Menschen schwere Impfschäden erleiden können – es geht um das sogenannte Post-Vac-Syndrom.

"Ich hatte Atemnot bei Belastung. Ich hatte ganz starkes Herzstechen. Ich hatte Schmerzen im ganzen Körper. Nervenschmerzen. Muskelschmerzen", beschreibt Tamara Retzlaff ihre Symptome, die typisch sind für Post-Vac. Ihre Muskelschwäche sei so weit gegangen, dass die 29-Jährige nicht mehr laufen konnte. "Ich war zeitweise bettlägerig. Ich habe Zuckungen am ganzen Körper, Taubheitsgefühle, Kribbeln, Vergesslichkeit, Konzentrationsschwäche." Sie habe über 30 Symptome. Das Krankheitsbild ähnelt dem von Long Covid mit rund 200 Symptomen.

Tamara Retzlaff erlebt gerade einen sozialen Abstieg. Arbeit verloren, das Krankengeld lief vor kurzem aus, Arbeitslosengeld hat sie beantragt. Sie weiß nicht, wie es weitergeht. "Das ist ein sozialer Totalschaden und wenn ich im Bürgergeld ende, dann ist mein ganzes Leben, das ich mir aufgebaut habe, auf einmal zersprungen", sagt die einst sportliche und lebensfrohe Frau.

Keine Anerkennung eines Impfschadens

Retzlaff hatte einen Antrag auf Anerkennung eines Impfschadens gestellt. Doch sie bekam eine Ablehnung vom Versorgungsamt. Erst drei Tage vorher hatte Karl Lauterbach Hilfe für Betroffene versprochen. Ein unglücklicher Zufall, doch für Retzlaff fühlt es sich an, wie ein Schlag ins Gesicht: "Das muss man sich mal vorstellen", empört sie sich. Im Gutachten heißt es: International gäbe es kein Signal für anhaltende Beschwerden. Das würde bedeuten, dass es Post-Vac eigentlich nicht gäbe.

Definition Post-Vac-Syndrom Der Begriff "Post-Vac-Syndrom" wird in den Medien und zunehmend von Medizinern als Sammelbegriff für länger anhaltende gesundheitliche Beeinträchtigungen nach einer Covid-19-Impfung verwendet. Es ist noch wenig erforscht. Eine spezifische medizinische Definition für das Post-Vac-Syndrom und welche definierten Symptome dieses hat, gibt es bisher noch nicht. Auch deshalb fehlen offizielle Betroffenenzahlen.

Bei Tamara Retzlaff hatte die renommierteste und in der Form einzige Post-Vac-Ambulanz Deutschlands in Marburg, wo sie seit neun Monaten behandelt wird, diagnostiziert: "Unerwünschte Nebenwirkungen bei der Anwendung von Covid-19-Impfstoffen."

Lauterbach dagegen hatte einmal in einem Tweet geschrieben, dass die Impfung "nebenwirkungsfrei" sei. Im ZDF-Interview erklärte der Minister dazu: "Naja, das war eine Übertreibung, die ich da einmal in einem übertriebenen Tweet gemacht habe." Doch der Mediziner Lauterbach hatte sich auch danach noch ähnlich geäußert.

Experte: Ein Medikament ist niemals nebenwirkungsfrei

"Man kann sich sicherlich mal in der Terminologie vergreifen. Aber ein Arzt darf niemals glauben, dass ein Medikament nebenwirkungsfrei ist", sagt Klaus Stöhr, der im Sachverständigenausschuss der Bundesregierung zur Pandemie sitzt, gegenüber MDR Investigativ. "Das lernen die Studenten im dritten Studienjahr in der Pharmazie und Pharmakologie. Da würde jeder durch die Prüfung rauschen, wenn er sagen würde, dass ein Medikament nebenwirkungsfrei ist."

Stöhr betont, wie sehr die positiven Folgen der Impfung die eher seltenen schweren Impf-Nebenwirkungen übertreffen. Die Äußerung von Lauterbach beurteilt er kritisch. Durch die Äußerungen von Lauterbach sieht er sogar noch ein größeres Problem: "Damit hat man den Impfkampagnen insgesamt keinen Gefallen getan, denn letztlich ist das Vertrauen der Bevölkerung unterminiert worden, nicht nur in die Corona-Impfung, sondern in alle Impfstoffe. Und das ist der größte Schaden, der verursacht wurde."

Definition Impfreaktionen Laut Robert Koch-Institut gehören Schmerzen an der Einstichstelle, Ermüdung, Kopfschmerzen, Muskelschmerzen, leichtes Fieber oder Schüttelfrost zu den normalen Reaktionen auf eine Impfung. Denn dem Körper werden Virusinformationen injiziert und er soll dann eine Immunabwehr aufbauen.

Definition Impfnebenwirkungen Impfnebenwirkungen oder auch Impfkomplikationen sind sehr seltene "über das übliche Maß einer Impfreaktion hinausgehende gesundheitliche Schädigungen" und der Verdacht ist meldepflichtig.

Definition Impfschaden Der Begriff ist im Infektionsschutzgesetz definiert als "gesundheitliche und wirtschaftliche Folge einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung" nach einer Impfung. Teilweise wird dabei auch von "schweren Impfnebenwirkungen" gesprochen. Diese Folge kann auf Antrag als Impfschaden anerkannt werden.

Die Wirkung des Interviews von Lauterbach bekam etwa die erkrankte Schauspielerin Felicia Binger direkt zu spüren. "Und dann noch im Bekanntenkreis sich sagen zu lassen: Das ist Schwachsinn, was du erzählst. Lauterbach hat gesagt, das ist nebenwirkungsfrei", sagt die 30-Jährige. Hinzu komme, dass es keine Aussicht auf Behandlung gebe, während der Gesundheitsminister sage, es sei nicht so schlimm wie Long Covid. "Ich kann das nicht in Worte fassen, wie wütend und enttäuscht ich von diesem Mann bin."

Ich kann das nicht in Worte fassen, wie wütend und enttäuscht ich von diesem Mann bin.

Felicia Binger Erkrankte Schauspielerin

Post-Vac-Gipfel im Bundestag

Anfang Februar rückten die Betroffenen und ihre Probleme ins politische Rampenlicht: Im Bundestag hat der erste Post Vac-Gipfel stattgefunden. Stefanie von Wietersheim war dabei. Vor ihrem gesundheitlichen Zusammenbruch hatte die Journalistin für einen Halbmarathon trainiert. "Wir hoffen, dass dieser Tag die Zeit der Diskriminierung, der Marginalisierung und auch der Traumatisierung von uns als Betroffenengruppe beendet", sagte sie auf dem Gipfel.

Der ist von der CDU organisiert worden – damit hat das Thema die politische Bühne in Berlin erreicht und der Druck auf das Bundesgesundheitsministerium steigt. "Wir haben einen sehr langen Weg noch vor uns. Und ich hoffe und ich bete, dass die Politik endlich ihre Aufgabe macht und uns hilft", so von Wietersheim. "Wir brauchen Geld für Forschung, wir brauchen Anlaufstellen, wir brauchen finanzielle Unterstützung und Anerkennung unserer Impfschäden bei den Landesversorgungsämtern. Wir kämpfen seit Monaten. Nichts passiert."

Verwirrung um Lauterbach-Zahlen

Ein weiterer Aspekt: Auch die Zahlen zu den Betroffenen, die Lauterbach nannte, irritieren. "Schwere Impfschäden sind auf der Grundlage der Daten des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI) und der europäischen Zulassungsbehörde in der Größenordnung von weniger als einer von 10.000 Impfungen", sagte er in dem Interview. "Also ist es nicht so, dass es so häufig ist."

Doch woher stammen die Zahlen, die Lauterbach nennt? Denn sie stimmen weder mit den offiziellen Angaben des Paul-Ehrlich-Instituts überein, noch mit der Zahl der bislang anerkannten Impfschäden. "Wenn er tatsächlich Impfschaden mit Impfkomplikationen verwechselt haben sollte, dann stimmen die Zahlen auch nicht", sagt Klaus Stöhr vom Sachverständigenausschuss. "Beim Paul-Ehrlich-Institut wurden 350.000 Verdachtsfälle auf Impfkomplikationen gemeldet. Das wären ungefähr drei pro 10.000, also dreimal mehr als er dort erwähnt hat, was die schweren Impfnebenwirkungen betrifft. Also das passt alles nicht zusammen, weder die Begrifflichkeit, die verwechselt wurde, noch die Zahlen ergeben hier einen Sinn."

Was an Zahlen vorhanden ist

Denn auch bei den drei von 10.000 handelt es sich lediglich um beim PEI gemeldete Verdachtsfälle von schweren Impfnebenwirkungen. Wie viele tatsächlich betroffen sind, ist bislang unklar. Bei den Landesbehörden sind laut einer Recherche der "Süddeutschen Zeitung" insgesamt 7.000 Anträge auf Anerkennung eines Impfschadens gestellt worden – vier Prozent mit positivem Bescheid. 

Es scheint so, als ob der Gesundheitsminister sich mit seiner Aussage auf eine Art der Kategorisierung bezieht. "Weniger als eins zu 10.000" ist eine Terminologie, mit der man das Risiko von Impfstoffen kategorisiert. Diese Zahl ist die niedrigst mögliche und somit kann das Risiko als sehr selten definiert werden. Wie häufig das Syndrom nach einer Impfung tatsächlich vorkommt, lässt sich aktuell noch nicht sagen.

MDR Investigativ hätte gern den Minister dazu interviewt, doch er lehnt uns gegenüber zum wiederholten Mal eine entsprechende Anfrage ab. Auch schriftlich erhalten wir keine erklärende Antwort von der Pressestelle des Ministeriums.

Post-Vac-Betroffene kämpfen weiter

Lauterbach steht für den gesundheitspolitischen Sprecher der CDU, Tino Sorge, als Gesundheitsminister in Frage. Sorge setzt sich für Post-Vac-Betroffene ein: "Es ist teilweise überhaupt nicht mehr nachvollziehbar. Wenn man sich überlegt, dass er sich in der Pandemie und auch jetzt noch als moralische Instanz inszeniert." Außerdem habe Lauterbach Wissenschaftler-Kollegen persönlich diskreditiert, die anderer Meinung waren. "Selbst als Meinungen mehrheitlich anders aufgefasst worden sind, hat er immer noch auf seiner Meinung beharrt. Wenn man das zugrunde legt, dann ist er als Minister nicht mehr tragbar."

Es bleibt offen, wie genau das Programm für Long Covid- und Post Vac-Betroffene von Lauterbach aussehen wird. Stefanie von Wietersheim versucht inzwischen, ein bis zwei Stunden am Tag zu arbeiten. Tamara Retzlaff will gegen den ablehnenden Bescheid vorgehen. Felicia Binger fordert in einer Petition vom Gesundheitsminister ein Maßnahmenpaket. Aber eigentlich wollen alle drei nur wieder gesund werden – seit Monaten. 

Dieses Thema im Programm: Das Erste | FAKT | 21. März 2023 | 21:45 Uhr

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